Alice Schwarzer schreibt

Fereshta Ludin - die Machtprobe

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Entweder ist das Verfassungsgericht naiv oder es ist befangen. Gewachsen scheint es der so brisanten Frage auf jeden Fall nicht. Zu richten ist: Soll das Kopftuch in allen staatlichen deutschen Schulen zugelassen werden? Die für Juli oder September erwartete Entscheidung in Karlsruhe wird weitreichende Folgen haben. Sie verschließt oder öffnet dem Kopftuch alle deutschen Klassenzimmer oder auch dem Tschador und der Burka, warum nicht. Schließlich lassen sich zweifellos auch so gewandete Muslimas finden, die beteuern, aus ganz persönlichen religiösen Motiven so gekleidet zu sein und weil sie sich sonst ihrer Blöße schämen. Wie Ludin.

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Für die Befangenheit des Zweiten Senats in dieser Frage spricht eine Äußerung seines Vorsitzenden, Winfried Hassemer, noch vor Beginn der Verhandlung. Er erklärte öffentlich, es ginge bei diesem Prozess auch um die Frage: Wie viel fremde Religiosität verträgt eine Gesellschaft? Damit setzt er voraus, dass 1. die auf das Recht auf Kopftuch klagende Lehrerin Fereshta Ludin wirklich religiöse Motive hat, und 2. das Kopftuch zwingender Bestandteil des Glaubens für eine Muslimin ist. Fragen, die eigentlich gerade im Laufe des Prozesses geklärt werden sollten. Einige Antworten liegen schon jetzt auf der Hand.

Denn die angeblich so naive Ludin befindet sich bei näherem Hinsehen in durchaus politischen Zusammenhängen. Und es gibt Millionen gläubiger Musliminnen ohne Kopftuch auf der Welt; zumindest in den Ländern, wo sie nicht mit Gewalt und Todesdrohung zum Verschleiern gezwungen werden. Außerdem: Auch anerkannte islamische Religiöse sind sich keineswegs einig in der Frage. Das Kopftuchgebot grassiert überhaupt erst seit 1979, seit der Gründung des ersten Gottesstaates in Iran, und der Finanzierung des weltweiten Kreuzzuges dank Saudi Arabien.

Bei ihrer Verfassungsklage argumentierte die gebürtige Afghanin Fereshta Ludin, die qua Heirat Deutsche wurde, mit dem Grundrecht der Glaubensfreiheit und dem Recht auf freie Berufswahl. Dem hält die beklagte Ministerin Anette Schavan das strikte Neutralitätsgebot des Staates sowie das demokratische Grundprinzip der Trennung von Staat und Religion entgegen. Darüber hinaus vertritt die CDU-Ministerin die Auffassung: Das Tragen des Kopftuches gehört nicht zu den religiösen Pflichten einer Muslimin. Die Mehrheit der Frauen trägt weltweit kein Kopftuch. Vielmehr wird das Kopftuch auch in der innerislamischen Diskussion als Symbol für politische Abgrenzung gewertet.

Dagegen klagte Ludin seit 1998 und verlor in drei Instanzen. Jetzt ist sie also beim höchsten deutschen Gericht. Warum? Arbeitslos ist sie nicht, sie unterrichtet zur Zeit in dem Berliner Islam Kolleg, wo die junge Mutter sich ganz emanzipiert eine Stelle mit ihrem Ehemann teilt. Bemerkenswert: Das Islam Kolleg darf laut richterlicher Entscheidung frank und frei als Tarnorganisation von Milli Görüs bezeichnet werden. Die wiederum ist die größte islamistische Organisation in Deutschland und wird seit Jahren vom Verfassungsschutz als potenziell verfassungsfeindlich beobachtet. Ludin-Ehemann Raimund Prochaska konvertierte übrigens bereits vor der Ehe zum Islam.

Nicht nur in Berlin, auch zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen hätte Lehrerin Ludin problemlos mit Kopftuch unterrichten können, denn das rotgrüne Bundesland hat schon 15 Kopftuchlehrerinnen in Lohn und Brot (übrigens oft Konvertitinnen). Aber auch das will Ludin nicht. Sie will in Baden-Württemberg unterrichten! Und dafür zieht sie seit Jahren von Gericht zu Gericht, nach Kräften unterstützt von der als links geltenden Lehrergewerkschaft (wg. Berufsverbot) sowie von Milli Görüs und dem Zentralrat der Muslime (wg. Glaubensfreiheit), die beide bis zum 11. September noch offen mit der Scharia und dem Gottesstaat sympathisiert haben.

Ist Ludins Kopftuch also Privatsache? Nein. Es geht ums Prinzip. Und zwar auf beiden Seiten.

Umso eigenartiger, dass weder in den Medien noch im Prozess nach den wahren Motiven von Ludin gefragt wird. Selbst der Vertreter der verklagten Baden-Württemberger, Ferdinand Kirchhof, ging in vorauseilender Verharmlosung so weit zu erklären: Er nähme Ludin selbstverständlich ab, dass sie nicht missionieren will und für die freiheitlich-demokratischen Werte eintritt. Ist er da so sicher?

Fereshta Ludin ist wie seit 1997 in EMMA wiederholt berichtet die Tochter einer unverschleierten Lehrerin und eines afghanischen Ex-Ministers und Botschafters. Ihre großbürgerliche Familie war überrascht, als die damals 13-jährige in Riad plötzlich mit Kopftuch aus der Schule kam. In Saudi-Arabien, ausgerechnet. Neuerdings behauptet die als 14-jährige mit ihren Eltern nach Deutschland gezogene Ludin, sie habe sich dort gar nicht wohl gefühlt, denn: Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum die Frauen dort benachteiligt werden und nicht Auto fahren dürfen.

Dieses Unbehagen ist neu. Als ich 1997 mit Fereshta Ludin telefonierte und sie nach ihrer Meinung zu dem Terror der Talibane und der Todesstrafe für unver-schleierte Frauen in ihrer Heimat fragte, da antwortete die Afghanin: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Und als ich insistierte, hatte sie nicht ein Wort des Mitgefühls für die Afghaninnen, sondern erklärte: Solche Fragen möchte ich nicht beantworten, weil ich im Beamtenverhältnis bin. Hätte Ludins Antwort ihrem Beamtenstatus widersprochen, nach dem sie auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen muss?

Beobachter der Islamisten-Szene wissen, dass in den nicht islamischen Staaten mit hohem Muslimanteil auf die soziale jetzt die juristische Offensive folgt. Hierzulande haben die sehr rührigen Islamisten schon erreicht, dass auch mitten in Deutschland Ehen nach der Scharia geschlossen und Polygamie akzeptiert wird. Sie haben erreicht, dass die Schulpflicht für islamische Mädchen nur noch eingeschränkt gilt (indem sie zum Beispiel auf Willen der Eltern nicht mehr zum Sportunterricht müssen). Sie haben versucht, kritische Bücher zu verbieten (wie Ulfkottes Krieg in unseren Städten) - und nun versuchen sie, auch noch das Recht auf Kopftuchlehrerinnen zu verankern. Wird da schleichend, die Scharia in Deutschland eingeführt, im Namen der Toleranz ?

Die Parallelwelten existieren schon. Und das nicht nur in Schwäbisch Gmünd, wo Milli Görüs besonders aktiv ist. Dort leitete Ludin in den 90ern einen Frauenkreis und machte Führungen in der als besonders konservativ geltenden Moschee am Bahnhof, wo auch schon mal Formulierungen wie westliche Dekadenz fielen. Eines Tages gab die Pädagogik-Studentin Ludin Männern nicht mehr die Hand. Und in Fortbildungsveranstaltungen für Lehrerinnen erklärte sie, deutsche Frauen seien unrein und nur muslimische rein. Eine Teilnehmerin: Ich war so empört, dass ich mitten in der Veranstaltung rausgegangen bin.

Vor diesem Hintergrund ist das vom Verfassungsgericht so bereitwillig voraus gesetzte Motiv Glauben doppelt erstaunlich. Überraschend auch, dass das Gericht es plötzlich für angebracht hielt, vier GutachterInnen hinzu zu ziehen, die wissenschaftlich darlegen sollen, wie so ein Lehrerinnen-Kopftuch denn auf die lieben Kleinen wirke. Zur Freude des Ludin-Verteidigers und zum Befremden des Schavan-Anwaltes, der längst in der Defensive zu sein scheint.

Das deutsche Verfassungsgericht ist nach dem Erschrecken über den Unrecht-staat der Nazis geschaffen worden, um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Urteilen zu prüfen und zu schützen. Es entspricht zwar einer allgemeinen fatalen Tendenz in der deutschen Rechtssprechung, sich aus der juristischen Verantwortung zu ziehen und dieselbe auf Psychologen abzuschieben (deren unvermeidlich subjektive Einschätzungen dann oft wie ein Gottesurteil genommen werden). Dass nun aber sogar das höchste Gericht eine so brisante politische Frage auf diese Art und Weise psychologisiert, ist alarmierend.

Warum wird stattdessen in Karlsruhe nicht auf die zahlreichen deutschen und internationalen Fakten und Erfahrungen zurückgegriffen? Warum fragt niemand die Betreuerinnen der geflüchteten, zwangsverschleierten jungen Musliminnen in Kreuzberg oder Köln? Warum fordert niemand einen Bericht bei Irene Khan, der Generalsekretärin von amnesty international an, die Muslimin ist und unverschleiert? Warum fragt niemand nach Studien bei Wassila Tamzali, der jahrelangen Unesco-Vorsitzenden für Frauen, Muslimin - und unverschleiert? Warum hört niemand bei der algerischen Ministerin Khalida Messaoudi-Toumi nach, die selbst jahrelang von einer Fatwa bedroht war und heute in dem bürgerkriegsgeschüttelten Land an der Front gegen die islamistischen Zwangsverschleierer steht?

Die Amnesty-Chefin warnt vor jeglicher Art von Unterdrückung der Frauen im Namen einer anderen Kultur. Die Unesco-Anwältin appelliert öffentlich an die französische Justiz und Politik: Haben Sie den Mut, Nein zu sagen! (Nein zum Schleier an der Schule, für Lehrerinnen wie Schülerinnen). Für die Menschenrechtlerin Messaoudi-Toumi ist die Akzeptanz eines Andersseins von Frauen im Namen des Respektes vor anderen Kulturen eine regelrechte Kulturfalle. Sie fordert: Die Universalität der Menschenrechte, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Religion!

Die besonders in Deutschland tonangebende falsch verstandene Toleranz setzt die Ideologie einer islamistischen Minderheit gleich mit dem gesamten Islam und liefert so die Mehrheit der MuslimInnen der Minderheit der Kreuzzügler aus. In Frankreich, das doppelt so viele, nämlich etwa sechs Millionen MuslimInnen hat, geht man von 10-20 Prozent aktiven Gläubigen aus, von denen wiederum nur ein ganz geringer Teil Schriftgläubige sind. Der liberale Imam der Großen Pariser Moschee zum Beispiel warnt vor den von Saudi-Arabien bezahlten Islamisten und dem Schleier in der Schule, weil der das Anderssein betont und die Integration behindert. Und junge Musliminnen in den Vorstädten protestieren erstmals öffentlich gegen den religiös verbrämten Terror der eigenen Väter, Brüder und Männer, für die verschleierte Mädchen die Guten zum Heiraten sind - und unverschleierte die Schlechten zum Vergewaltigen.

Seit einem Vierteljahrhundert ist der Schleier der Frauen die Flagge der islamistischen Kreuzzügler. Er ist das Zeichen für Separierung. Zeit also, endlich Schluss zu machen mit der gönnerhaften Pseudo-Toleranz und anzufangen mit ernsthaftem Respekt. Respekt vor allem für die Millionen Musliminnen und Muslime, die von dem Terror aus dem eigenen Lager noch bedrohter sind als wir.
 

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Alice Schwarzer (Hrsg.) "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (KiWi) und "Krieg - Was Männerwahn anrichtet und wie Frauen Widerstand leisten" (Fischer TB, vergriffen).

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Alice Schwarzer schreibt

Iran: Die Betrogenen

Frauen demonstrieren 1979 im Iran gegen den Schleierzwang.
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Die jungen Männer strahlen. Guerilla-Look mit Blumen in den Gewehrläufen - so ziehen sie vorbei: Helden der Revolution, zu Tausenden auf dem Weg zum ersten großen Militäraufmarsch. Die alte Diktatur ist tot, die neuen Herren demonstrieren ihre Macht. Ganz ähnlich muß das ausgesehen haben in Portugal, in Kuba, in Algerien.

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Sie waren meine ersten Begegnungen auf dem Weg vom Teheraner Flughafen zum Hotel. Als ich sie sah, musste ich daran denken, dass es noch vor wenigen Wochen Frauen waren, die bei Demonstrationen in den vordersten Reihen gingen. Tief verschleiert. So auch am 8. November 1978, dem berüchtigten "Schwarzen Freitag", wo allein an diesem Tag 4000 Schahgegner auf der Straße erschossen wurden, darunter 700 Frauen. Damals stand in Springers Welt übrigens nicht: "Jetzt schießen sie auch auf Frauen." Damals waren Menschenrechtsverstöße des prowestlichen Schahs, waren Folter und Beachteiligung kein Thema für weite Teile der westlichen Presse.

Der Schleier wurde zum tragischen Symbol

Nun machen die "armen iranischen Frauen" und ihr "verzweifelter Protest" plötzlich Furore in einer Presse, der einheimischer Frauenprotest sonst keine Zeile, geschweige denn eine Schlagzeile wert ist. Warum? Um uns zu zeigen, dass wir Frauen hier froh sein können, nicht verschleiert gehen zu müssen? Um ein Regime zu diskreditieren, unter dem die Menschen auch nicht frei sein werden, schon gar nicht die Frauen, das aber für viele bedeutend lebbarer sein wird als das vorhergehende?

Diese Fragen und noch viel mehr stellten sich mir vor der Reise. Doch so schwer es schien, die Dinge aus der Ferne zu beurteilen, so sicher war es, dass hier etwas Unerhörtes passierte: Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte stellten Frauen noch in der Stunde Null auch die Frage nach ihrem Schicksal! Zum ersten Mal in einem so dramatischen historischen Augenblick demonstrierten Frauen öffentlich: Wir sind nicht bereit, bei der Verteilung der gemeinsam erkämpften Freiheiten zurückzustehen! Und wir sind schon gar nicht bereit, zusätzliche Unfreiheiten hinzunehmen!

Eine Demo por Khomeini, noch ist der Schleier eine Gewohnheit aus der Anti-Schah-Zeit.
Eine Demo 1978 pro Khomeini und Anti-Schah.

Der Schleier wurde zum tragischen Symbol: einst Zeichen des Kampfes gegen die Zwangsverwestlichung, ist er jetzt Zeichen einer neuen Unterwerfung. So kommt es, dass Frauen, die früher aus Protest gegen den Schah den Schleier trugen, jetzt aus Protest gegen den Schleier auf die Straße gingen.

Das sind Dinge, die wir in diesen drei Tagen begriffen haben. Wir: die 18 Frauen des zu diesem Anlaß hastig in Paris gegründeten "Komitees zur Verteidigung der Rechte der Frauen". Eingeladen von niemandem, gekommen aufgrund der Hilferufe einiger iranischer Frauen.

Schon am Flughafen empfing uns eine Gruppe erstaunter Auslandskorrespondenten. Bis zuletzt hatten sie nicht damit gerechnet, dass wir überhaupt ins Land gelassen würden. Schon gar nicht an diesem Morgen des 19. März, an dem am selben Ort und zur selben Stunde Kate Millet nach einer Abschiebehaft von 20 Stunden zwangsweise via Okzident geschickt worden war.

Bei ihrer Ankunft in Paris sprach die amerikanische Feministin, die - eingeladen von iranischen Feministinnen - zehn Tage lang streitbar am Frauenprotest, an Meetings und Demonstrationen teilgenommen hatte, dann von der "schrecklichsten Erfahrung" ihres Lebens und vom "Polizeistaat" Iran (so zitiert vier Tage später in der internationalen Ausgabe des "Kayhan", der größten Tageszeitung des Landes).

Harte Worte, die vielleicht auch dazu beitrugen, dass wir Frauen vom Komitee zwar zunächst reserviert, dann aber plötzlich auffallend zuvorkommend behandelt wurden - bis hin zum Empfang bei den politischen und religiösen Führern des Landes, bei Ajatollah Taleghani und Chomeini sowie dem Ministerpräsidenten Bazargan.

"Im Koran steht nichts gegen die Frauen" - die Mehrheit beugt sich dem Schleierzwang und vertraut den neuen Herren.
"Im Koran steht nichts gegen die Frauen" - die Mehrheit beugt sich dem Schleierzwang und vertraut den neuen Herren.

Was uns denn die Herren gesagt hätten, wurde ich nach meiner Rückkehr oft gefragt. Nun, das Übliche. Wobei es zwei Sorten von Patriarchen gibt im Iran: die Hemmungslosen, nämlich die Religiösen, die uns wie Taleghani auf die Frage nach den Rechten der Frau schlicht antworteten: "Das erste Recht der Frau ist das auf einen Ehemann, das zweite das auf die Mutter- schaft"; und die Taktischen wie Ministerpräsident Bazargan, der grundsätzlich "selbstverständlich" für Gleichberechtigung ist, konkret in allem ausweicht und sich ansonsten gern auf den "natürlichen Unterschied" beruft: "Mann und Frau sind komplementär." Das klingt in Teheran nicht anders als in Bonn.

Das Bemerkenswerte an diesen Begegnungen waren wohl nicht die gewechselten Worte, sondern war die Tatsache, dass sie überhaupt stattfanden: dass Regierungschefs in bewegten Krisenzeiten 18 Ausländerinnen empfangen, die öffentlich im Ausland verkündet hatten, sie kämen aus Sorge um die Lage der Iranerinnen.

Eine Geste, die ohne Zweifel nicht nur der ausländischen Imagepflege, sondern auch der inländischen Beruhigung galt. Denn die neuen Herrscher waren ein wenig voreilig gewesen, hatten gar zu rasch Platz genommen im Herrensattel und den Frauen die Steigbügelhalter-Position zugewiesen.

Nur eine Minderheit der Iranerinnen
ist anfangs beunruhigt

Und sie, die iranischen Frauen selbst? Nur eine Minderheit ist beunruhigt, die Mehrheit vertraut den neuen Machthabern. Das wurde uns klar in diesen drei Tagen, in denen wir zahlreiche Frauen aus verschiedensten politischen Lagern trafen.

Da ist Kateh, die Feministin, die schon jetzt Angst hatte, in unser von Chomeini-Garden bewachtes Hotel zu kommen. Wir trafen sie und ihre Freundinnen versteckt, in wechselnden Wohnungen. Diese Frauen sind fast ausnahmslos vor wenigen Wochen oder Monaten aus dem Exil zurückgekommen, ihre Vorstellung von Emanzipation ist importiert. Und dennoch sind auch sie pro Chomeini ("Wir verehren ihn alle sehr für das, was er für den Iran getan hat") und halten auch sie die Befreiung der Frau und den islamischen Glauben für vereinbar ("Im Koran steht nichts gegen Frauen").

Da ist die europäisch gekleidete Studentin, der wir auf dem Universitätsgelände begegneten, und die uns auf die Frage nach dem Schleier antwortete: "Na und? Wenn's den Frauen gefällt ... Was jetzt zählt, ist die Revolution und sonst nichts."

Da ist die persische Französischlehrerin, zufällig auf der Straße kennen gelernt, deren Mutter schon keinen Schleier mehr getragen hatte, und die selbst den Schador nur bei Protestdemonstrationen gegen den Schah trug. Am 8. März war sie eine der Frauen, die spontan auf die Straße gingen: gegen den Schleierzwang und die neue Einschränkungen von Frauenrechten. Nun aber sagte sie zögernd: "Das ist jetzt alles nicht mehr so wichtig. Wir müssen erst unser Land aufbauen."

Da sind die kichernden jungen Mädchen auf der Straße, unter deren knöchellangem schwarzen Schador gerade noch die Jeans und die bunten Tennisschuhe vorblitzen. Daneben in der Zeitung die Meldung, die Ehefrauen der Minister Bazargans hätten erklärt, sie hätten den Schleier nie getragen und hätten auch in Zukunft nicht die Absicht, es zu tun.

Und da sind die tiefverschleierten Frauen der gerade gegründeten Islamischen Frauenunion. Auch sie erkämpften den Umsturz, nicht selten mit der Waffe in der Hand. Auch sie hoffen auf volle Gleichberechtigung im politischen und beruflichen Leben ("Wir können uns sehr gut vorstellen, dass eine Frau eines Tages Ministerpräsident unseres Landes wird!").

Und dennoch halten sie, ganz nach der offiziellen Männerversion, die Frauenproteste des 8. März für Komplotte der Savak (Geheimdienst des Schahregimes) und der CIA. Und sie alle - egal ob sie jetzt für oder gegen den Schleier kämpfen -, sie alle werden betrogen werden! Sie werden ein weiteres tragisches Exempel liefern dafür, dass Menschen, die nicht für ihre eigenen Rechte kämpfen, vergessen werden. Doch wenn sie es merken, wird es zu spät sein. Denn sie haben sich ihren Protest zu gutgläubig wieder ausreden lassen. Und sie haben keine eigene Organisation, ihre Ohnmacht zeigt sich schon jetzt.

Schockiert in Teheran: Alice Schwarzer 1979, mit Verlegerin Claude Servan-Schreiber (li) und Feministin Anne Zelensky (re).
Alice Schwarzer 1979 à Teheran, mit Verlegerin Claude Servan-Schreiber (li) und Feministin Anne Zelensky (re).

Bereits in den Wochen vor dem endgültigen Sturz des Schahs stellten Perserinnen öffentlich die Frage: Was wird danach mit uns Frauen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vor dem Machtwechsel noch um diplomatische Formulierungen bemüht, verloren die Ajatollahs danach keine Zeit mehr. Ajatollah Schiriat Madari, als "liberal" bekannt, führte den ersten Schlag: Im "Kayhan" erklärte er, in einer islamischen Republik könnten Frauen nicht mehr Richter sein, denn sie seien bekanntermaßen zu emotional.

24 Stunden später widersprachen zehn Richterinnen in derselben Zeitung energisch. Und wenige Tage danach veröffentlichte die winzige Teheraner Feministinnengruppe, die maximal einige Dutzend Aktivistinnen zählt, eine Anzeige im "Kayhan". Zum "internationalen Tag der Frau" suchte das frischgegründete "Komitee zur Organisation des 8. März" Mitstreiterinnen. Kateh: "Wir dachten, das könnte ein Anfang sein."

Reaktion: zirka 40 Briefe, 300 Frauen beim ersten Treffen am 24. Februar und - die ersten Schwierigkeiten. Für eine zweite Versammlung  bekamen die Frauen schon keinen Raum mehr. Argument: "Der Koran verbietet den 8. März."

Und schon erfolgte der bisher spektakulärste Angriff auf die Frauen. Aus der "heiligen Stadt" Chom verkündete Chomeini erneut den Schleierzwang, die Aufhebung der Koedukation und die Annullierung des Familiengesetzes, das unter dem Schah zumindest theoretisch die Scheidung möglich gemacht, die Vermögensverhältnisse zwischen den Geschlechtern einigermaßen gerecht geregelt und dem Mann statt vier "nur noch" zwei Frauen zugestanden hatte.

Von diesem Tag an sprachen die Ansagerinnen im Fernsehen die Nachrichten verschleiert ...

Tausenden Büroangestellten wurde der Zugang zur Arbeitsstelle verweigert

Zur Explosion fehlte nur noch ein Funke. Der flog am Morgen des 8. März. Ausgerechnet. Tausenden von weiblichen Büroangestellten wurde an diesem Tag der Zugang zu ihren Arbeitsstellen verweigert: "Geht erst mal nach Hause und zieht euch anständig an, statt so nackt herumzulaufen." Nackt meint: ohne Schleier. Manche Frauen wurden auch tätlich angegriffen, Eiferer schnitten ihnen die Haare ab.

Schon eine Stunde später zogen 20 000 bis 30 000 Frauen durch die Straßen Teherans. Sie skandierten: "Wir sind Iranerinnen und lassen uns nicht länger an Ketten legen!" und "Ohne die Frauenbefreiung ist die Revolution sinnlos gewesen!" und "Wir haben nicht gegen die alte Diktatur gekämpft, um uns einer neuen Diktatur zu beugen."

Die Chomeini-Garden schossen. Allerdings nicht auf die Frauen, wie in der hiesigen Presse fälschlicherweise berichtet wurde, sondern in die Luft und zum Schutz der Frauen, die von einzelnen Männern angegriffen, geschlagen und an den Haaren gezerrt wurden. Die Antwort: "Wir haben keine Angst!"

Dieser erste Protest war noch ganz euphorisch: heiter in der Sicherheit, dass sie, die alten Kampfgefährtinnen, Gehör finden würden.

Am nächsten Morgen, Freitag, Sit-in im Universitätsgelände. Trotz Regen trägt keine Frau ein Kopftuch. Am Samstag 50.000 Frauen bei der Demonstration. Viele rauchen, auch Nichtraucherinnen. Protest gegen Ajatollah Chomeinis Ermahnung: "Eine iranische Frau raucht nicht auf der Straße" (vertraute Töne in deutschen Ohren ...).

Der Frauenprotest erreichte die Provinzstädte

Am Montag, dem 12. März, hat der Frauenprotest bereits die Provinzstädte erreicht, bis hin in den Kurdistan. Und siehe da, dieselben Männer, deren Differenzen sich in Ermangelung des gemeinsamen Außenfeindes in den ersten Wochen der neuen Machtverteilung rasch gezeigt hatten, sie alle, vom Mullah (islamischer Priester) bis zum Fedayin (nichtreligiöse Revolutionäre), waren sich plötzlich einig: "Der Frauenprotest muss aufhören! Er schadet der islamischen Revolution und nutzt nur der Savak und dem CIA." (Auch das vertraute Töne in den Ohren derer, die unbequem und konsequent sind in den Stunden der Veränderung: egal, ob es sich bei der russischen Revolution um die Matrosen von Kronstadt oder beim iranischen Umsturz um die Frauen Teherans handelt.)

Doch: eine Männergesellschaft, ein Wort. Und die Frauen? Sie gehorchten. Wieder einmal. Sie, die Kampfgewohnten, waren überzeugt oder eingeschüchtert. Einige auch verzweifelt. So wie die Schülerin, die sich am Morgen des 13. März die Pulsadern aufschnitt. Oder die geschiedene Sekretärin, die auf dem Rückflug neben mir saß, und mir über Athen anvertraute: "Ich bin auf der Flucht. Ich gehe nicht zurück. Ich habe Angst."

Nur eine verschwindende Minderheit, ein paar Tausend Frauen vielleicht, begreift die Hoffnungslosigkeit der Lage. Sie lassen sich auch von der taktischen Abwiegelung der vom heftigen Protest überraschten Ajatollah keinen Sand in die Augen streuen: Nicht der Schleier sei Zwang, sondern nur "die züchtige Kleidung" - was auch immer das sein mag.

Hunderttausende sind, wie die Französischlehrerin, halb optimistisch, halb resigniert. Die weite Mehrheit der Perserinnen aber ist tief im islamischen Glauben verwurzelt und hat volles Vertrauen zu den neuen Herren. Noch.

Sie werden repräsentiert von der Islamischen Frauenunion, mit deren Vertreterinnen wir uns einen Vormittag lang unterhielten. In diesem Kreis gehört den Traditionellen das Wort. Wortführerin ist die schador-gewandete Azam Taleghani, Tochter des Ajatollah und Heldin des bewaffneten Widerstandes. Zahrah Hejazi, Tochter Bazargans, die im Gegensatz zu den meisten Iranerinnen in dieser Runde europäisch gekleidet ist und das bunte Kopftuch sichtbar improvisiert umgeschlungen hat, ist auffallend zurückhaltend und ergreift das Wort nur zum Übersetzen.

Fast all diese Frauen sind übrigens berufstätig, sind Ärztinnen, Lehrerinnen, Chemikerinnen. Auch das wurde deutlich: bei der Frauenfrage teilen sich die Lager im Iran weniger nach Gebildeten und Analphabeten oder nach Stadt und Land, sondern eher nach westlich Infizierten und im Orientalischen Verhafteten.

Nach dem Tod von Mahsa (Jina) Amini protestieren Frauen im ganzen Land für ihre Freiheit.
Nach dem Tod von Mahsa (Jina) Amini im September 2022 protestieren Frauen im ganzen Land für ihre Freiheit.

In so vielem haben sie mir imponiert, diese Frauen der Union, so wie sie vor mir saßen mit ihren würdigen und starken Gesichtern. Sie glauben an die Verwirklichung einer klassenfreien Gesellschaft im Iran, an das Ende von Unterdrückung und Ausbeutung. Sie glauben an ihre maßgebliche gesellschaftliche Beteiligung auch in der Zukunft.

Tahez Labaf, Ärztin und Mutter zweier Kinder, beruft sich bei ihrer Definition von der Freiheit des Menschen allein dreimal auf Jean-Paul Sartre. Gleichzeitig aber verteidigt sie ungebrochen das Recht des Mannes auf Polygamie (zum Teil mit fast rührenden Rechenexempeln, Stil: Wenn nach einem Krieg weniger Männer ... Oder: Kinder müssen dann nicht mehr ins Waisenhaus. Oder: Alternde Frauen sind so nicht einsam ...).

Tahez ist es auch, die uns freundlich die Exekution der ersten Homosexuellen bestätigt. "Homosexualität verstößt gegen den Islam, weil sie gegen die Gesellschaft gerichtet ist: sie ist nur Begierde und nicht Ausdruck eines Kinderwunsches."

Diese Frauen, die nicht selten in den Kerkern des Schahs gefoltert wurden, erläutern uns detailliert, wie in Zukunft "beim einmaligen Vorkommen" von Homosexualität die Prügelstrafe angewandt werden wird und, "wenn es zur Gewohnheit wird", die Todesstrafe. Bei Männern und Frauen. Ganz gleichberechtigt.

"Die Unterdrückung des Schah kam für uns Iraner von außen und war so offensichtlich und gewalttätig, dass man sich dagegen wehren konnte. Die religiöse Unterdrückung aber kommt vom Volke selbst und wird von der Mehrheit der Iraner selbst blindwütig gutgeheißen, denn sie fanden nur diese Form der Auflehnung gegen die Schreckenstyrannei." Das schrieb die Iranerin Anoucha Hodes in der letzten EMMA. Wie recht hat sie.

Sie glauben sich so fest auf der Seite der Gerechten, dass sie Unrecht noch nicht einmal mehr erkennen. Und sie haben vom Westen nie Alternativen geboten bekommen. Die scheinbare Liberalisierung unter dem Schah-Regime war nicht mehr als eine Fratze. Wenn der Schah-Vater den Frauen einst durch Soldaten gewaltsam den Schador vom Körper reißen ließ, so ist das nicht besser als Chomeinis neues Diktat.

Wie überhaupt die Arroganz der Christen, die alles Islamische schlicht als "mittelalterlich" abtun wollen, schwer erträglich ist. Denn es ist nicht alles schlecht, was islamisch ist. So einfach ist das nicht.

Farideh Ahmadian von der Frauenunion erzählt mir von ihren Erfahrungen in Frankreich, wo sie zusammen mit ihrem Mann vier Jahre lang gelebt hat. Die tiefgläubige 26-jährige hat auch dort ihren Schador nicht abgelegt. Zum Hohn und Spott ihrer Umwelt. "In der Mensa haben sie mir sogar einmal Joghurt auf den Kopf gegossen und an meinem Schleier gerissen." Warum Farideh so daran festhält? "Weil Allah es so will" - eine Antwort, der wir an irgendeinem Punkt der Gespräche immer wieder und überall begegneten ... Und Farideh weiter: "Weil ich kein sexuelles Objekt sein will! Ich möchte von den Männern respektiert werden!"

Sie haben vom Westen nie Alternativen geboten bekommen

Bei Farideh bin ich am nächsten Tag, dem islamischen Neujahrstag, zum Mittagessen eingeladen. Ihr Mann, ein Physiker, ist auf Dienstreise. Sie ist Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Ihr einstöckiges lichtes Haus liegt im privilegierten Norden der Stadt. Sie muss nicht, wie so viele in diesem vom Schah erbarmungslos ausgebeuteten Land, zu acht, zwölf Personen in einem 20-Quadratmeter-Raum hausen.

Farideh ist sehr heiter an diesem Tag. "Das ist unser erstes islamisches Neujahrsfest! Vor einem Jahr sprach zu dieser Stunde noch der Schah, und mein Bruder war im Gefängnis..." Farideh war eine der Frauen, die am Schwarzen Freitag in der ersten Reihe gingen - im Arm ihre kleine Tochter, und unter dem Schador ein Küchenmesser.

Farideh sagt: "Mein Haus ist mein Paradies" und - ich glaube es ihr. Sie glaubt so tief und ist so unberührt von Zweifeln, dass sie wahrscheinlich dieses ihr Leben in Hingabe und Demut und den- noch auf ihre Weise glücklich verbringen wird. Oder wird sie zu denen gehören, die eines Tages aufwachen, erkennen werden, dass sie betrogen wurden? Und die sich dann auf ihre alte Kampftradition besinnen?

Farideh glaubt an das Recht von Frauen auf Berufstätigkeit und würde doch nie darauf drängen. Sie sieht auch nicht die ökonomischen Interessen des Irans, der schon jetzt drei Millionen Arbeitslose hat, und schon darum versuchen wird, die Frauen zurück ins Haus zu drängen.

Und wer soll das verhindern? Das Sagen haben in diesem Land heute weder die Frauen, noch die Arbeiter, noch die Intellektuellen. Das Sagen haben die Baazaris - die kleinen Kaufleute - und die Religiösen. Mullahs besetzen alle strategischen Posten, Mullahs sind auch Vorsitzende der neugegründeten Arbeiterzellen, in denen übrigens ausschließlich Männer sind, versteht sich. Obwohl es heute zwei Millionen Arbeiterinnen im Iran gibt.

Ich verbringe trotz alledem heitere Stunden mit Farideh. In vielem kann ich sie so gut verstehen, in anderem ist sie entwaffnend: Was soll ich entgegnen auf das Argument "Allah will es so"? An der Tür sagt sie mir zum Abschied dreimal "Allah ist groß" - Allah o Akbar. Und ich weiß, dass auch sie von Allahs Jüngern betrogen werden wird. Denn Farideh und ihre Schwestern waren gut genug, um für die Freiheit zu sterben. Sie werden nicht gut genug sein, in Freiheit zu leben.

ALICE SCHWARZER

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