22.11.2005: Wir sind Kanzlerin!
Eine eigenartige Stimmung lag in diesen Wochen vor und nach der Wahl in der Luft. Schon lange hatte kein Wahlkampf mehr die Menschen so erregt. An den beiden großen politischen Lagern kann diese extreme Polarisierung nicht gelegen haben: kandidierten doch hie ein SPD-Kanzler, der sich in seiner Regierungszeit als „Genosse der Bosse“ profiliert und da eine CDU-Kandidatin, die im Wahlkampf fast ausschließlich um die Wirtschaft gebuhlt hatte. Hinter dem überraschenden Rückfall der WählerInnen in das Blockdenken von einst musste also etwas anderes stecken. Denn die Realität ist fließender.
Das signalisieren jetzt auch die Koalitionsverhandlungen, in denen beide Lager vorauseilend Positionen, die im Wahlkampf noch als unveräußerlich deklariert worden waren, über Bord werfen, und die gesprächsführenden Herren sich bestens verstehen. So schenkte der Westfale dem Bayern noch vor Beginn der ersten Sitzung zum Geburtstag eine CD mit „den besten Fußballreportagen“. Und so plauderte Stoiber schon nach dem zweiten Spitzengespräch vor Journalisten darüber, was sie vereint anstreben: „Müntefering und ich“. Und? Ach ja, da war ja noch eine: „und insbesondere Frau Merkel“. Die gehört jetzt dazu. Bleibt aber das Besondere. Bleibt die Fremde. In ihrem Fall doppelt fremd: Frau und Ossi.
Angela Merkel bleibt doppelt fremd: als Frau und Ossi
Dreißig Jahre nachdem Frauen erstmals wieder an der Männerfestung gerüttelt haben, hat eine den Schlüssel da liegen sehen und einfach genommen. Und jetzt schließt sie das Tor zur Festung auf. Ganz legitim. Und ganz alleine.
Die Unerhörtheit des Unterfangens schien Merkel bis zur Wahl nicht wirklich klar gewesen zu sein. Und genau das hat sie einfach losmarschieren lassen – und hat die Besitzstandswahrer eingeschläfert. Die ist doch harmlos. Das ist doch nicht so eine. Die schaffen wir schon.
So wurde ausgerechnet Angela Merkel zum trojanischen Pferd, das nicht im Galopp, sondern im Parcours die Festung betrat. Sie fing wohl erst in der blutrünstigen Wahlnacht an zu begreifen: Als der Verlierer versuchte, die Gewinnerin vom Platz zu fegen; und als wenige Tage später die eigenen Mannen begannen, ihre Kanzlerin noch vor Einzug ins Kanzleramt zu demontieren (Stichwort Richtlinienkompetenz).
Auch so manche Wählerin begriff zu spät, dass es hier leider eben nicht nur um Inhalte ging, sondern auch um das Geschlecht der Kandidatin. Das gute alte Frauen-gemeinsam-sind-stark-Feeling des Aufbruchs ist längst verflogen. Wie bei allen Emanzipations-Bewegungen traten auch bei den Frauen nach den ersten Erfolgen und Rückschlägen die Unterschiede in den eigenen Reihen krass hervor, verschärft durch die traditionelle weibliche (Selbst)Verachtung und Rivalität.
Hinzu kommen die Töchter der Emanzipation. Die, die wunderbarerweise so selbstverständlich reingewachsen sind in den Anspruch auf Gleichheit – auch wenn es sie gleichzeitig zerreißt wegen der realen Ungleichheit und der Drohung, weniger geliebt zu werden. Die, die zu naiv oder zu stolz sind zu begreifen, dass das Geschlecht durchaus noch ein Faktor ist – auch, wenn wir alle uns das anders wünschen würden. Die, die anscheinend bei Null anfangen müssen – wieder einmal.
Es ging nicht nur um Inhalte, sondern auch um das Geschlecht der Kandidatin.
Merkel sei nicht von den Frauen gewählt worden, heißt es gerade aus Frauenmund mit triumphierendem Unterton. Und wenn es so wäre – wäre das ein Grund zur Freude? Außerdem ist es falsch. Richtig ist, dass Merkel im Vergleich zu Stoiber 2002 nur ein Prozent weniger Frauenstimmen bekam. Sie hat den, laut Umfragen, denkbaren Geschlechterbonus von bis zu zehn Prozent für eine Kandidatin mit ihrem offensiv geschlechtslosen Wahlkampf verschenkt. Auch darum konnte sie den zu erwartenden Verlust der Mannsbilder nicht wettmachen: Es wählten 2005 fünf Prozent weniger Männer Merkel als 2002 Stoiber!
Dennoch: Merkel hat viel weniger Frauen verloren als Schröder. Der SPD sind, im Vergleich zu 2002, drei Prozent der Männer weggelaufen – aber sechs Prozent der Frauen. Also hat Schröder sechsmal so viele Frauenstimmen verloren wie Merkel! Was bedeutet: Die deutschen Wählerinnen haben 2005 vor allem Anti-Macho gewählt – aber nicht Pro-Frau.
Denn die moderne Frau will auch als Wählerin nicht aufs Geschlecht reduziert werden. Das ist verständlich. „Nur“ weil sie eine Frau ist, wollten nicht-konservative Wählerinnen nicht eine CDU-Kandidatin wählen. Das gilt als gestrig. Den Schuh mochte die Generation High-Heel sich nicht anziehen. Eine Genderforscherin des Jahrgangs 1957 erklärte gar die Tatsache, dass ich mir erlaubt hatte, den Faktor Geschlecht im Wahlkampf zu thematisieren, im Spiegel schlicht zur „klassischen Position der siebziger Jahre“. 1971, beim Aufbruch der Frauenbewegung, war diese Genderforscherin 14. Es sei also erlaubt zu erinnern:
Sie wollten die Welt befreien - die eigene Frau aber weiter ausbeuten.
Eine Erkenntnis ist, nur weil sie schlappe dreißig Jahre alt ist, nicht darum schon von gestern. Außerdem wäre nach dieser Logik die Leugnung des Geschlechterwiderspruchs – modern: Interessenkonflikt – nicht von gestern, sondern von vorgestern. Denn exakt so wurde von linken Männern und Frauen in den sechziger Jahren argumentiert, wo es hieß: Nur auf die Klassenfrage – modern: soziale Frage – komme es an.
Darauf reagierten dann in den Siebzigern die Frauen, die es leid waren, dass die Genossen zwar die ganze Welt befreien wollten, aber die eigenen Frauen weiter ausbeuteten. Wir Feministinnen bewiesen, dass das Geschlecht sehr wohl eine Rolle spielt bei der Zuweisung von Rollen, der Ausübung von Gewalt und der Verteilung der Welt.
Im Westen ist das alles sodann über Jahrzehnte öffentlich durchdekliniert worden. Frauen fanden politische Worte für das, was bis dahin als „privat“ abgetan worden war. Nichts anderes bedeutet: Das Private ist politisch. Das hat – Machotum hin, Schwesternstreit her – zu einer Revolution in den Köpfen geführt.
Ganz anders in der DDR. Da war vierzig Jahre lang behauptet worden: Mit der Lösung der Klassenfrage ist automatisch auch das Geschlechterproblem gelöst. Emanzipation wurde von oben verordnet. Das hat zweifellos zu der so zweischneidigen Unschuld der ersten deutschen Kanzlerin auf dem Weg ins Kanzleramt beigetragen. Aber was auch immer war: Jetzt ist sie drin!
Nur noch knapp jeder vierte deutsche Mann findet heute: „Männer sind bessere Politiker als Frauen“ (und nur jede sechste Frau). Auch zwischen Frauen entwickelte sich, mühsam aber stetig, eine Kultur der Freundschaft, des Mentorings und der Netzwerke. Doch durchhalten wird auch eine Kanzlerin nur, wenn sie ein echtes trojanisches Pferd ist, das heißt, wenn sie andere mit einschleust: bewusste Frauen und menschliche Männer. Denn eine Angie bringt noch keine Männerbastion zum Einsturz. Aber sie hat die Pforte geöffnet.