Von Herren- und Untermenschen
Was war geschehen? Der durch Walsers Friedenspreis-Rede in der Paulskirche tief getroffene Bubis begann das Gespräch mit einem etwa 20 Minuten langen Monolog, in dem er in großer Offenheit und Verletzlichkeit versuchte, seinem Gegenüber klarzumachen, warum nach dessen Worten von der "Moralkeule" und der "Zumutung" der Holocaust-Filme der Friedenspreisträger für ihn ein "geistiger Brandstifter" war.
Die beiden Männer sind ein Jahrgang, geboren 1927. Noch hat der "deutsche Jude" Ignatz Bubis Hoffnung; noch glaubt er, seinen Schmerz dem "deutschen Arier" Martin Walser vermitteln zu können. Also redet Bubis. Und redet. Und redet. Warum er der eigenen Tochter nie ein Wort von all dem erzählt hat.
Warum er erst so spät Bergen-Belsen besucht hat, wo seine Frau interniert war. Warum er in seinem Leben nur ein Buch über die KZs gelesen hat, nämlich über Treblinka, "weil mein Vater in Treblinka umgebracht wurde": "Ich kann da nicht hinschauen. Ich würde zerbrechen, wenn ich wieder nach Treblinka gehen würde. Es würde mich zerbrechen."
Und Walser? Was sagt der darauf? Erschrickt er? Ist er beschämt? Versucht er, Bubis zu verstehen?
Nein. Walser geht mit keinem einzigen Wort auf das Gesagte ein. Er spricht nur von sich, vom "Sprachgebrauch", von "Themengebieten", vom "Sinnzusammenhang". Und er befeuert den zunehmend kleinlaut werdenden Bubis mit einem Kugelhagel von Argumenten wie diesem: "Sie haben vom Wegschauen darauf geschlossen: Der will einen Schlussstrich ziehen. Das fand ich empörend angesichts meiner Arbeit in diesem Feld. Und, Herr Bubis, da muss ich sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt."
Er sagt tatsächlich "Feld". Meint der Ex-Soldat das "Feld der Ehre", auf dem er in der deutschen Wehrmacht gedient hat? Nein, er meint das Feld der Sühne, auf dem er nach 1945 als Kommunist nicht minder stramm tätig war. Und auch darum ist Walser es jetzt wirklich leid. Er hat schließlich immer seine Pflicht getan. Als dienender Nazi-Soldat wie als sühnender Linker. Muss er, Walser, sich ausgerechnet von ihm, Bubis, etwas sagen lassen? Kann denn nicht endlich Ruhe sein?
Walser spielt auch auf die Tatsache an, dass Bubis nach dem Krieg Erfolg als Immobilien- und Diamantenhändler hatte ("mit ganz anderen Dingen beschäftigt"). Und Bubis, längst in die Enge getrieben, weist diese Unerhörtheit nicht etwa zurück, sondern entschuldigt sich auch noch: "Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte."
Erschrickt Walser wenigstens jetzt? Streift ihn eine Ahnung von dem existenziellen Unterschied des (lebenslangen) Leides eines Opfers und der (kurzen) Reue eines Täters? Nein. Walser entgegnet knapp: "Und ich musste, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen."
Schon nach dem allerersten Schlagabtausch ist die Sache entschieden, sie geht so fort bis zu ihrem sehr bitteren Ende: Da redet ein Herrenmensch mit einem Untermenschen. Und auch der gesprächsführende Schirrmacher bietet dem keinen Einhalt, im Gegenteil. Er munitioniert noch das Massaker, indem er mit seinen wenigen knappen Interventionen jedes Mal Walser bestätigt und Bubis abkanzelt.
Unwidersprochen kann Walser sich in einem selbst in der gedruckten Version noch spürbar scharfem Ton "die moralische Istanzhaftigkeit" von Bubis verbitten, seine "Vorschrift" und seinen "eingeschlafenen Sprachgebrauch". Walser will seinen "Seelenfrieden, verstehen Sie?". Er will sich "nicht dreinredenlassen, von niemandem".
Und er ist sicher, dass "die Leute mit diesem Spuk nichts mehr zu tun haben", den "Generalverdacht" nicht mehr hören wollen. Darum erlaubt er sich im Zusammenhang mit der Berliner Mahnmal-Debatte auch den Hinweis, dass ein Denkmal "so beschaffen" sein kann, "dass es Leute zur Schändung provoziert". Die Juden sind, wir wissen's schon, selber schuld.
Längst ist Ignatz Bubis - Überlebender, Familienvater, FDP-Mitglied, erfolgreicher Geschäftsmann und geachteter Vorsitzender des Zentralrates der Juden - wieder in den Abgrund der Erniedrigung und Hilflosigkeit gestürzt. Er fleht nicht mehr um Verständnis, er fleht nur noch um Gnade: "Wenn alle Ihren Standpunkt so verstanden hätten, wie Sie ihn heute hier erklärt haben, dann hätte ich überhaupt keine Probleme. Dann hätte ich keinen Mucks von mir gegeben", sagt er.
Darauf Walser: "Die Mehrheit hat mich richtig verstanden. (...) Das sollte Ihnen doch zu denken geben." - Und noch immer kein ausbalancierender, erhellender Eingriff von Moderator Schirrmacher, sondern schweigendes Gewährenlassen.
Bubis wird, das zeigen auch die Fotos zu diesem Gespräch, immer kleiner. Aber er ist nicht klein genug. Kurz vor Schluss wagt er es zwar noch einmal, auf die Gefahr aufmerksam zu machen, dass Walser eine Art "geistiger Vater" für dunkle Kräfte in Deutschland werden könnte, aber er wiederholt auch noch einmal sein demütiges Friedensangebot: "Nachdem Sie in diesem Gespräch Ihren Standpunkt erläutert haben, nehme ich den Ausdruck geistiger Brandstiftung zurück."
Endlich. Der Herrenmensch triumphiert. Und er führt den letzten Schlag, indem er das Opfer wissen lässt: "Ich brauche das nicht." Er braucht nicht sein Verzeihen. Er will es nicht. Wie hat ein Jude mal so treffend gesagt? "Die Deutschen werden Auschwitz den Juden nie verzeihen."
Alice Schwarzer, EMMA 4/2002