Widerstand: Ein Denkmal für Jacoba
Wer sich auf der Jacoba-van-Tongeren-Brücke umsieht, könnte auf den ersten Blick vergessen, dass er in Amsterdam ist. Die Brücke passt so gar nicht zu den Bildern von Grachten und gemütlichen Cafés, die Touristen hier normalerweise mit ihren Smartphones festhalten. Stattdessen rundum grauer Beton, Wäscheleinen auf Balkons, alte Männer mit Plastiktüten. Die Brücke, die ein Wohnviertel mit einem Park verbindet, liegt im Westen der Stadt, an der Burgermeester Fockstraat. Hier leben und arbeiten Menschen aus sozial schwächeren Familien, viele mit Migrationshintergrund.
136 Denkmäler, Brücken oder Straßen in Amsterdam erinnern an männliche Widerstandskämpfer in der Nazizeit. Diese Brücke ist eine von 13 in Amsterdam, die nach einer Widerstandskämpferin benannt ist: Jacoba van Tongeren. „Meine Großtante war eine einfache Frau, die nicht studiert hatte“, sagt Paul van Tongeren. Der Neffe war es, der die Bedeutung von van Tongeren im Widerstand gegen die Nazis, die Amsterdam von 1940 bis 1945 besetzten, ans Licht brachte.
In der Familie wusste man später zwar, dass die Tante „da irgendwie in etwas verwickelt war“. Aber Jacoba war bescheiden, sprach nur gelegentlich über den Krieg. Und Paul war wenig am Krieg interessiert: Er gehört zu denen, die lieber in die Zukunft blickten. Als aber sein eigener Enkel ihn fragte: „Was war eigentlich mit Jacoba während des Krieges?“, begann er zu recherchieren.
Gehen wir über die Brücke der Zeit, 79 Jahre zurück, ins Jahr 1942. Eine Frau biegt langsam mit dem Fahrrad um die Ecke. Sie fährt auf den schmalen Straßen von Amsterdam. Jacoba ist Ende 30, trägt ein schlichtes blaues Kleid, die Gesichtszüge freundlich, aber ernst und entschlossen. Sie scheint schwanger zu sein. Die 300 Jahre alten Häuser hinter ihr spiegeln sich in den Grachten, die Sonne scheint.
Aber was auf dem ersten Blick wie ein Postkartenmotiv aussieht, ist schon lang keine Idylle mehr. Am anderen Ende der Straße patrouillieren die Nazis. Jacoba steigt vom Fahrrad, blickt sich unauffällig um, grüßt einen Vorbeigehenden und verschwindet in einer der altehrwürdigen Kellertüren.
So oder so ähnlich verlief fast jeder Tag ihres Lebens im Jahr 1942. Jacoba van Tongeren wurde auch die „Coupon-Queen“ genannt, die Königin der Essens-Coupons, die von den Nationalsozialisten an die BürgerInnen der Stadt verteilt wurden. Unter ihrem Kleid verbarg Jacoba keinen Babybauch, sondern mehr als 5.000 Coupons, um Juden oder Widerständler zu versorgen, die sich in Amsterdam verstecken mussten.
Als die Nazis die Stadt besetzen, war Jacobas Vater ein kritischer Gegner. Er, ein General im Ruhestand, hatte gelernt, dass Krieg nichts Gutes bringt. Und so half er schon zu Beginn der Besatzungszeit einer Gruppe von Abiturienten, die eine eigene Zeitung gründen wollte: Vrij Nederland – Freie Niederlande. Der Vater lässt Kontakte spielen, gibt Geld und hilft mit Tricks aus der Spionage.
Seine Tochter – als Frau unauffälliger – deckt ihn. Sie vermittelt zunächst nur, bis der Vater auffliegt und 1941 in Sachsenhausen ermordet wird. Jacoba entschließt sich, nun selbst eine aktive Rolle einzunehmen und vor allem denen zu helfen, die sich verstecken müssen: Juden, anderen Widerständlern oder Verurteilten.
Von ihrem Vater hatte Jacoba gelernt, dass Widerstand viel „Macho-Arbeit und Spionage“ bedeute, aber dass auch ein guter Plan wichtig ist. Bei der Gründung ihrer eigenen Widerstandsgruppe mit Namen „2000“ ging sie deshalb besonders gründlich vor: Jacoba entwickelte beispielsweise mehrere Codes für die Verständigung mit den Versteckten, änderte dabei auf komplizierte Weise alle Buchstaben in Nummern. Einen einfachen „internen“ Code erfand sie ausschließlich für die 150 Mitglieder, die sie für ihr Vorhaben zusammengebracht hatte: „A“ wurde zu 1, „B“ zu 2 und so weiter. Die Gruppe war gut organisiert und auf alles vorbereitet.
Jacoba hatte ihre Kindheit am Ende der Kolonialzeit in Indonesien verbracht. Hier war der Vater Offizier gewesen, baute Brücken. Seine Ehefrau, Jacobas Mutter, lebte in Batavia, heute Djkarta, und kümmerte sich um die drei Kinder. Jacoba wurde ihr zu viel. Also schickte sie die jüngste Tochter zu ihrem Vater, der sie selbst erzog und wie einen Soldaten ausbildete. So handelte Jacoba auch im Widerstand: streng, ehrlich und klug. Sie war der Chef und blieb bis zum Schluss in ihrer Rolle. Bei ihren „eigenen“ Leuten wurde sie respektiert, in der Gruppe immer anerkannt. Man stellte ihre Führungsposition nicht infrage.
Ganz anders aber erging es ihr mit einigen der „großen“ männlichen niederländischen Widerständlern anderer Gruppen. Als etwa Hendrik van Randwijk Jacoba das erste Mal traf, war er überrascht, dass eine Sozialarbeiterin eine so große Widerstandsgruppe leitete. Van Randwijk wollte auch bei Jacobas Gruppe sofort die Führung übernehmen: Das sei doch viel angebrachter.
Van Randwijk, der später auch Chefredakteur der Zeitung Freie Niederlande wurde, durfte am 9. Mai 1945, zum Befreiungsfest der Stadt, eine Rede halten, wurde als Volksheld gefeiert. Während er sprach und öffentlich sichtbar war, blieben viele Frauen verborgen und stumm. Auch Jacoba van Tongeren. Nach dem Krieg erkrankte sie an Tuberkulose, wurde bettlägerig und starb 1967.
Jahrzehnte später schmökerte Jacobas Neffe im Amsterdamer Archiv in den Sammelbänden über den Widerstand. Und war schließlich auf eine Fußnote aufmerksam geworden: „Siehe das unveröffentlichte Tagebuch von Jacoba van Tongeren, Freimaurer Archiv Den Haag“, stand dort. „Darüber war ich sehr überrascht“, sagt er. „Niemand in der Familie hatte gewusst, dass Jacoba ihr Leben aufgeschrieben hatte.“
Eine Woche später fand der Neffe das Buch in Den Haag: ein dickes Tagebuch, ihre gesamten Memoiren. Über fünfzig Jahre später. Paul van Tongeren entschloss sich, dass Buch mit allen detaillierten Beschreibungen, historisch aufbereitet, um für jeden verständlich zu sein, zu veröffentlichen.
Dank der Erinnerungen von Jacoba erfuhren viele andere Amsterdamer Familien, dass ihre Großmütter oder Tanten im Widerstand aktiv gewesen waren. Mehr als 350.000 JüdInnen, Widerständler und andere von den Nazis Verfolgte wurden von Frauen durch die Besatzungszeit gebracht.
Auch der Historiker Lou de Jong, der führende Forscher zum Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden, war blind für die Rolle der Frauen im Widerstand. In mehr als 20 Büchern zum Krieg dokumentierte er den niederländischen Kampf gegen die Besatzer. Die Arbeit von Frauen wie Jacoba aber, das Versorgen der Versteckten mit Coupons und die Nachrichtenübermittlung, waren für ihn kein „wahrer Widerstand“ – obwohl auch darauf Folter und Todesstrafe stand.
Doch spätestens seit Jacoba van Tongerens Tagebuch entdeckt wurde, müssen Männer wie er umdenken lernen. Die Historikerin Marjan Schwegman, ehemalige Direktorin des Institutes für Krieg, Holocaust und Genozid in Amsterdam, schrieb die Geschichte über den Widerstand in Amsterdam neu. „Wie Frauen aus dem Widerstand verschwanden“, heißt ihr vielzitierte Aufsatz. Darin beschreibt sie dieses europaweite Phänomen: Während die Frauen nach dem Krieg schwiegen, obwohl sie genauso gegen das Unrecht gekämpft hatten, errichtete man männlichen Widerständlern wie Van Randwijk Denkmäler.
Nach Bekanntwerden von Jacobas Geschichte, sprach Eberhard van der Laan, Ex-Bürgermeister von Amsterdam, erstmals öffentlich über Jacoba und ihre Gruppe, die 70 Jahre lang unbekannt geblieben war und würdigte deren Engagement, das Tausenden das Leben rettete. Ein halbes Jahr später benannte der Stadtrat fünf Brücken nach fünf Widerständlerinnen um. Und nun endlich ein Denkmal!
ESTHER GARDEI