Ein Besuch bei Eileen Green

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Auf den Spuren der großen Designerin und Architektin fuhr Charlotte Kerner nach Roquebrune und nach Dublin: das eine die Stätte von Grays Vernichtung, das andere die Stätte ihrer Bewahrung.

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Besuch bei Eileen Gray: Ort dieser Zeitreise ist eine Videoprojektion in Dublin, wo im Frühjahr dieses Jahres das National Museum of Ireland zu Ehren seiner großen Tochter eine Dauerausstellung eröffnet hat. Ein gutes Vierteljahrhundert nach ihrem Tod sitze ich der Design-Legende gegenüber. Treffpunkt ist der wuchtige hölzerne Arbeitstisch in ihrer Pariser Wohnung in der Rue Bonaparte, wo 70 Jahre lang das Zentrum ihres Lebens war. Ich lausche Eileen Grays zurückhaltender, brüchiger Stimme, ihrem Englisch mit dem leicht französischen Akzent. "Ich glaube, ich bin 96 oder 97, davon mache ich wirklich nicht viel Aufhebens", sie überlegt kurz, "aber ob ich 96 oder 97 bin, das ist doch sowieso dasselbe." Dann strafft sich ihre hagere knochige Gestalt, die Gesten werden lebhafter, der große silberne Ring an ihrer linken Hand blitzt auf. Die Stimme wird heller, Eileen kichert ein wenig wie das junge Mädchen, das sie einmal war, als sie von ihrem ersten Besuch in der Londoner Lackwerkstatt erzählt. Nein, jetzt arbeite sie nicht mehr mit Lack, denn "das ist immer dasselbe".
Die aufwendige japanische Lackkunst erlernte die adlige höhere Tochter, die 1878 in der Stadt Enniscorthy an der Südostküste der grünen Insel geboren wurde, nach einem Kunststudium in London. In ihrer Wahlheimat Paris, wo sie seit 1902 lebte, fertigte sie Art-Deco-Möbel, insbesondere Paravents, und fand dafür schon vor dem ersten Weltkrieg Anerkennung. Im Mai 1922 eröffnete die 43-Jährige dann eine eigene Galerie unter dem Männernamen "Jean Desert". Zu Hause war sie im Kreis der Frauen des Rive Gauche, von denen viele ihre ersten Kundinnen waren.
Endlich nahm sich die Künstlerin alle Freiheiten und blieb dabei immer ihre eigene Frau, besonders auch in Vermarktung und Darstellung ihrer Arbeit, die sie damals schon eigenhändig fotografierte.
Bereits Anfang der 20er Jahre begann sie, ihre Arbeiten als Designerin und Innenarchitektin nicht nur mit Worten zu erklären, sondern sie mit Fotos zu dokumentieren, und zeigte einmal mehr, wie weit sie ihrer Zeit voraus war: Eileen Gray nahm die Bildlichkeit des 21. Jahrhunderts vorweg. Auch das ein Grundstein für ihre aktuelle Bekanntheit.
Als die Designerin 1922 für einen Pariser Kunstsalon das laszive, dunkle "Schlaf-Zimmer-Boudoir Monte-Carlo" entwarf, schmähten Kritiker die an ein kubistisches Bild erinnernde Installation als Gruselkabinett einer Tochter des Doktor Caligari. Doch die Avantgarde-Architekten waren begeistert von Grays Talent, Räume zu gestalten und dabei die Grenze von Architektur und Möblierung aufzuheben.
Ermutigt experimentierte die Frau mit dem hennaroten Bubikopf nun als eine der ersten mit dem neuen Material Stahlrohr. Ab 1923 tat sie sich auch enger mit Jean Badovici zusammen, einem gut aussehenden Architektur-Publizisten. Doch dieser 15 Jahre jüngere Mann war nicht ihr Gönner, der sie unter seine Fittiche nahm, Angebote dieser Art hatte Gray immer abgelehnt. In der Beziehung zu Badovici war sie es, die die Rolle des Mannes spielte: Sie war die Ältere und sowohl Geldgeberin als auch Genie, er hingegen ihre "Muse", der sie inspirierte, motivierte und Kontakte knüpfte.
"Badovici hat zu mir gesagt, warum bauen Sie nicht?", erzählte Gray später, "Sie vergeuden Ihre kostbare Zeit, schaffen Sie eine Tür, die von Dauer ist." Und die bald 50-Jährige stieß tatsächlich eine neue Tür auf: In der Pionierzeit der Moderne, zwischen 1925 und 1929, plante und baute die Autodidaktin das Haus E.1027 bei Roquebrune an der Côte d’Azur. Das Kürzel, Chiffre einer Liebe und Firmenname des Architekten-Teams, bildete sie aus ihren beiden Monogrammen: Das E steht für Eileen und die Nummer 7 am Ende für G(ray), den siebten Buchstaben im Alphabet; die 10 bezieht sich auf das J von Jean und die 2 steht für B(adovici).
Die Villa E.1027 wurde ein Gesamtkunstwerk, für das Eileen Gray auch ihre berühmtesten Stahlrohrmöbel entworfen hat, darunter der Adjustable Table, der kleine chromblitzende Beistelltisch, die heute viel verbreitete "Design-Ikone des 20. Jahrhunderts". In den heroischen Männerzirkeln der modernen Architektur waren Grays Entwürfe eine Herausforderung, ja Provokation, besonders für Jean Badovicis Kumpan Le Corbusier, der oft zu Gast im E.1027 war – vor allem, nachdem die Erbauerin sich Anfang der 30er Jahre von Badovici getrennt und ihm das Haus überlassen hatte.
"Corbu" verlor keine Zeit: Er ließ im E.1027 seiner neu entdeckten Liebe zur Wandmalerei freien Lauf. Neun Fresken – grell, bunt und erotisch – verteilte der Stararchitekt über die Villa der Konkurrentin. Gray wurde von keinem der beiden Männer um Erlaubnis gefragt. Eine spätere Besitzerin von E.1027 erinnerte sich an die Erklärung von Le Corbusier zu dem schwarz-weißen Grafitto unter den Stützpfeilern, das er "Zusammenkunft dreier Frauen" nannte: Sein "Freund Bado" sei rechts, Gray links dargestellt, in der Mitte die kleine Figur sei das erhoffte, aber nie geborene Kind. Badovici ist wie eine Frau mit Busen abgebildet. Das Bild ist nicht nur eine Verhöhnung ihrer Beziehung, sondern auch ein Outing: Denn dass Eileen Gray auch Frauen liebte, war bekannt.
Die programmatisch weißen Wände Grays, die Le Cobusier mit seinen Farben überdeckte, deutet die Trierer Kunsthistorikerin Christina Threuter als "Schleier", die traditionell eine Schwelle zwischen privaten und öffentlichen, weltlichen und heiligen, männlichen und weiblichen Räumen markieren. Ihre Verunstaltung reißt Gray im übertragenen Sinne die Schleier vom Gesicht, entblößt sie; die Räume sind nicht länger unantastbar. Le Corbusier besetzt die Villa E.1027 durch seine Wandgemälde und stellt "mittels eines vandalistischen Aktes", so Threuter, "die Hierarchie, die Gray durcheinander gebracht hatte, wieder her … Eine Vergewaltigung, die in massiver Form gegen ihre sexuelle Selbstbestimmung und mehr noch gegen ihre soziale Existenz als Produzentin gerichtet ist."
Und der Karlsruher Architekturprofessor und E.1027-Spezialist Rainer Franke fügt hinzu: "Er hat es letztlich nicht verkraftet, dass eine Frau und dazu eine Autodidaktin, die in seinem Einflussbereich lebte, ein solch eigenes Haus gebaut hat. Er kannte das Haus so gut, dass er dessen eigenständige Qualität realisiert hat. Le Corbusier war sensibel genug, diese Dinge zu spüren." Auch Eileen Gray begriff genau, was in ihrer Villa am Meer geschehen war. Sie kehrte nach den Ereignissen im Jahr 1938 dem Haus E.1027, diesem Schlachtfeld der Eitelkeiten, für immer den Rücken und verstummte. Nach dem zweiten Weltkrieg verschwand das Kürzel ganz, das Haus wurde zum anonymen "Maison blanche" oder gleich als ein "Corbusier-Bau" angesehen.
Im Frühjahr 2000 endlich würdigte die französische Regierung den Eigenwert von E.1027 und ernannte Grays fast vergessenes Werk, das in den 70er Jahren von Modeschöpfer Yves Saint Laurent wieder entdeckt worden war, zum Monument Historique, das nun die höchste Klasse des Denkmalschutzes genießt. Der Verfall des Hauses wurde gestoppt, die Türen und Fenster sind mit Eisenstäben und metallenen Fensterläden gesichert. Ob E.1027 als Studienzentrum und Künstlerwohnung oder reines Denkmal restauriert werden soll, darüber besteht zur Zeit noch keine Einigkeit.
Auf der Broschüre, die seit 2001 von der Stadt Roquebrune zum Kulturdenkmal E.1027 herausgegeben wird, lächelt auf der Rückseite die Garçonne Eileen Gray spöttisch. Auf dem berühmten Porträtfoto blickt sie nach links direkt zu Le Corbusier, der nackt die Wände bemalt. Gleichberechtigt, quasi auf Augenhöhe, stehen sich die Architektin und der Architekt jetzt gegenüber. Eileen Gray ist endgültig aus dem Schatten von le Corbu herausgetreten.
Im hohen Alter erlebte Gray sogar noch den Beginn eines späten Ruhms. In London fand 1973 die erste große Solo-Ausstellung statt. Als ihr Name nun weltweit Schlagzeilen machte, erreichte "die Lady aus der Rue Bonaparte" sogar ein Brief aus der alten Heimat. Der Kurator des Dubliner Nationalmuseums John Teahan versicherte, wie gerne er sie ausstellen würde, und fragte nach, "wie wir einige Arbeiten von Ihnen erwerben könnten". Am 22. Juli 1975 bedankt sich Eileen Gray für "das freundliche Angebot", aber gibt dem Projekt keine Chance: "Fast mein gesamtes Werk wurde entweder verkauft oder zerstört."
Zeitreise zweiter Teil: Ich sehe die fast blinde Frau vor mir, wie sie das Blatt aus ihrer alten Schreibmaschine spannt. Mühsam setzt sie ihre Unterschrift darunter, die Hand zittert so stark, dass sich das große E von Eileen aus lauter kleinen Zickzack-Strichen zusammensetzt. In ihrer Antwort bedauert sie: "Ich hätte gerne etwas von Dauer in Dublin gehabt, aber dafür ist es wohl zu spät."
Doch hier irrte Gray: Ihr Brief hängt heute unter Glas genau gegenüber der Videoprojektion in der gelungenen Gray-Ausstellung in den Collins Barracks, die aus ihrem für 1,2 Millionen E erworbenen Nachlass gestaltet wurde. Neben Teppichen und Plänen, Originalmöbeln und einem großen Arbeitsbuch gehören auch privatere Stücke dazu, zum Beispiel ihr schwarz-golden glitzernder Abendmantel und ein lederner Beauty-Case. Darin tauchte nach der Ausstellungseröffnung ein halbes Pfund Cannabis auf, das sofort von der Dubliner Polizei beschlagnahmt wurde. Eileen Gray ist eben bis heute für eine Überraschung gut.
Charlotte Kerner, EMMA 1/2003

 

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