Ein Opfer über Mittäterinnen
Es muß 1940 gewesen sein, ich war acht oder neun Jahre alt, im Kino um die Ecke wurde „Schneewittchen“ gespielt. Ich bin seit meinem ersten Micky-Maus-Film, den ich noch vor dem Anschluß mit dem Kindermädel in einer Nachmittagsvorstellung innigst genoß, sehr gern ins Kino gegangen, und so wollte ich auch diesen Film unbedingt sehen, durfte aber als Jüdin leider nicht hinein. Darüber klagte und schimpfte ich abwechselnd, bis meine Mutter vorschlug, daß ich doch einfach gehen sollte und basta.
Es war Sonntag, wir waren in der Nachbarschaft bekannt, hier ins Kino zu gehen, war eine Herausforderung. Meine Mutter war der Überzeugung, daß niemand sich darum kümmern würde, ob ein Kind mehr oder weniger im Saal säße, und gab mir zu verstehen, daß ich mich einerseits zu wichtig nehme, andererseits beschämend feig sei. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, zog also drauflos, wählte die teuerste Platzkategorie, eine Loge, um nicht aufzufallen, und kam gerade dadurch neben die neunzehnjährige Bäckerstochter von nebenan und ihre kleinen Geschwister zu sitzen, eine begeisterte Nazifamilie.
Ich hab diese Vorstellung ausgeschwitzt und hab nie vorher oder nachher so wenig von einem Film mitbekommen. Ich saß auf Kohlen, vollauf mit der Frage beschäftigt, ob die Bäckerstochter wirklich böse zu mir hinschielte, oder ob es mir doch nur so vorkäme. Die Niederträchtigkeiten von Schneewittchens Stiefmutter verschwammen mir auf der Leinwand zu einem vorgekauten Brei unechter Schlechtigkeit, während ich und keine Prinzessin im wahren, triefenden Fettnäpfchen saß, umzingelt.
Warum bin ich nicht aufgestanden und weggegangen? Vielleicht, um mich meiner Mutter nicht zu stellen oder weil ich meinte, gerade durchs Aufstehen und Weggehen Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht nur, weil man nicht aus dem Kino geht, bevor der Film aus ist. Oder am wahrscheinlichsten, weil ich vor Angst nicht denken konnte. Ich weiß ja nicht einmal, warum wir alle nicht rechtzeitig aus Wien weg sind, und vielleicht gibt es eine Familienverwandtschaft zwischen dieser Frage und meinem Kinoproblem.
Als es im Saal hell wurde, wollte ich die anderen vorlassen, aber meine Feindin stand und wartete. Ihre kleinen Geschwister wurden ungeduldig, die Große sagte „Nein, seid’s stad“, und sah mich streng an. Die Falle war, wie gefürchtet, zugeschnappt. Es war der reine Terror. Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an, pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Ungewitter entlud sich.
Sie redete fest und selbstgerecht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch: „Weißt du, daß deinesgleichen hier nichts zu suchen hat? Juden ist der Eintritt ins Kino gesetzlich untersagt. Draußen steht’s beim Eingang an der Kasse. Hast du das gesehen?“ Was blieb mir übrig, als die rhetorische Frage zu bejahen?
Das Märchen vom Schneewittchen läßt sich auf die Frage reduzieren, wer im Königsschloß etwas zu suchen hat und wer nicht. Die Bäckerstochter und ich folgten der vom Film vorgegebenen Formel. Sie, im eigenen Hause, den Spiegel ihrer rassischen Reinheit vor Augen, ich, auch an diesem Ort beheimatet, aber ohne Erlaubnis, und in diesem Augenblick ausgestoßen, erniedrigt und preisgegeben. Ich hatte mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier eingeschlichen, den Nazivers bestätigend: „Und der Jud hat den Brauch / Und es bringt ihm was ein / Schmeißt man vorne ihn raus / Kehrt er hinten wieder rein.“
Wenn ich auch das Gesetz, das ich verletzt hatte, für ungerecht hielt, so war ich doch beschämt, ertappt worden zu sein. Denn die Scham entsteht einfach dadurch, daß man einer verbotenen Tat überführt wird, und hat oft mit schlechtem Gewissen gar nichts zu tun. Wäre ich nicht erwischt worden, so wäre ich auf meine Waghalsigkeit stolz gewesen. So aber war es umgekehrt: Man sieht sich im Spiegel boshafter Augen, und man entgeht dem Bild nicht, denn die Verzerrung fällt zurück auf die eigenen Augen, bis man ihr glaubt und sich selbst für verunstaltet hält.
Es ging dann doch schneller als erwartet, für mich immer noch lang genug. Der Vertreterin unanfechtbarer Gesetzlichkeiten fiel nicht mehr viel ein. Wenn ich mich noch ein einziges Mal unterstehen tät, hierher zu kommen, würde sie mich anzeigen, ich hätt ja noch ein Glück, daß sie’s nicht gleich tät. Ich stand mit weit aufgerissenen Augen, einigermaßen erfolgreich meine Tränen schluckend.
Die Platzanweiserin, die zugehört hatte, denn wir waren die Letzten im Saal, half mir nachher in den Mantel, drückte mir meine Geldbörse, die ich sonst liegen gelassen hätte, in die Hand, und sagte ein paar beruhigende Worte. Ich nickte, unfähig zur Gegenrede, dankbar für den Zuspruch, eine Art Almosen.
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Wir kamen am späten Nachmittag in Niederschlesien an. Wir befanden uns in einem Wald, und der nächste Ort hieß Christianstadt. Irgendwann erfuhren wir, daß es ein Außenlager von Groß-Rosen war, ein auch heute noch ziemlich unbekannter Name, obwohl dieses Lager, mit seinen vielen Außen-Kommandos, eines der größten Konzentrationslager war. Der Wald war idyllisch ruhig, das Lager mit seinen noch unbewohnten grünen Holzbaracken schien erträglich. Die Baracken waren nicht wie in Auschwitz ein einziger großer Stall mit Stockbetten, sondern in Zimmer unterteilt, wo je sechs bis zwölf Frauen schliefen.
Wir wurden von uniformierten deutschen Frauen empfangen, die uns in einem normalen, wenn auch etwas zackigen Ton ansprachen und die Erwachsenen siezten. Wir haben während unserer Zeit im Lager vor allem mit diesen Frauen zu tun gehabt, obwohl auch Männer auftauchten, die offensichtlich die Zügel in der Hand hielten.
Diese Aufseherinnen werden immer wieder „SS-Frauen“ genannt. Dabei weiß doch jeder, daß es keine SS-Frauen gegeben hat, denn die SS war ja strikt ein Männerverein. Man weiß es, und obwohl man mit solchen Bezeichnungen in anderen Zusammenhängen geradezu penibel umgeht, läßt sich das Wort SS-Frauen nicht tilgen.
Über die Grausamkeit der Aufseherinnen wird viel geredet und wenig geforscht. Nicht daß man sie in Schutz nehmen soll, aber sie werden überschätzt. Sie kamen aus kleinen Verhältnissen, und man steckte sie in Uniformen, denn irgendwas mußten sie ja tragen und natürlich nicht Zivil für diesen Dienst in Arbeitslager und KZ. Ich glaube auf Grund dessen, was ich gelesen habe, daß sie im Durchschnitt weniger brutal waren als die Männer, und wenn man sie heute im gleichen Maß wie Männer verurteilt, dient ein solches Urteil als Alibi für die eigentlichen Verantwortlichen.
Solche Überlegungen stoßen allerdings auf hartnäckigen, manchmal sogar empörten Widerspruch. Man wendet ein, Nazi-Frauen hatten einfach weniger Gelegenheit, Verbrechen zu begehen als Männer. Bleibt noch die Tatsache, daß die deutschen Frauen, sogar die Nazi-Frauen, nachprüfbar weniger verbrochen haben als die Männer. Man verurteilt einen Menschen ja nicht für das, was er unter Umständen tun würde oder könnte, sondern dafür, was er tatsächlich getan hat. Gewiß haben die deutschen Frauen dem Führer zugejubelt, genauso laut wie die Männer. Doch so widerwärtig uns dieser Jubel heute erscheinen mag, so ist er noch kein Verbrechen.
Kann es sein, daß sich die berühmten Beispiele weiblicher Grausamkeit in den Lagern auf immer dieselbe relativ kleine Gruppe von Aufseherinnen beziehen? Wird nicht immer dieselbe Ilse Koch beim Namen genannt? Der Tatbestand ist unklar, man müßte Statistiken und Berichte vergleichen.
In Ermangelung von exaktem Material stelle ich die These auf, daß es in den Frauenlagern im Durchschnitt weniger brutal zuging als in den Männerlagern. Die Aufseherinnen in Christianstadt waren mäßig und übten ihre Macht vor allem dadurch aus, daß sie einerseits ihre schlechte Laune nicht zügelten und sich andererseits Protektionskinder unter den Häftlingen wählten.
In den ersten Tagen suchten sie sich ein paar Kinder aus, darunter war auch ich, mit denen sie in den Wald gingen, um Beeren zu pflücken. Das war schon merkwürdig, diese idyllische Beschäftigung mit den nicht unfreundlichen Uniformierten. Ein ungarisches Kind spielt mit großer Geschicklichkeit den Clown, tanzt um die Aufseherin herum, benimmt sich wie ein Affe, finde ich. Mich nannten sie „schwarzen Peter“. Das war mir unangenehm, denn es verstieß gegen meine Neigung zum Grundsätzlichen. Sie waren ja meine Feinde. Daß sie mir nicht zusetzten, war in Ordnung, aber für Intimitäten, wie im Kindergarten, war es zu spät. Feinde, die freundlich zu einem sind und doch nicht helfen. Das Kalb, mit dem man spielt, bleibt trotzdem Schlachtvieh. So ein Kalb wollte ich nicht sein. (Die Vergleiche mit Tieren, die sich wie von selbst einstellen, haben mir das Fleischessen verleidet.)
Anfänglich überwog die Freude, von Birkenau weg und bei gutem Wetter am Leben zu sein. Es dauerte eine Weile, bis die Arbeitsgruppen organisiert waren, und so gab es Stunden, wo ich in reinster Euphorie im Gras herumliegen konnte, wohl zum ersten Mal im Leben, und niemand mich störte.
Mit fortschreitendem Jahr stellte sich Mißmut bei den Aufseherinnen ein, auch Willkür, aber wir erlebten selten Mißhandlungen von seiten dieser Frauen. Manchmal wurden einer Gefangenen zur Strafe die Haare geschoren. Und es gab natürlich Fälle, wo Häftlinge verschwanden, weggeschickt wurden, nicht wieder auftauchten. Doch gewalttätig waren die Aufseherinnen nicht. Wir kamen ihnen wohl wie Tiere vor, aber solche, die man brauchen kann.
Manchmal ging mir durch den Kopf, daß man sie auf die gemeinsame Menschlichkeit aufmerksam machen könnte, durch Sprache zum Beispiel. Die müssen es mir doch anhören können, daß ich nicht anders bin als die Mädchen meines Alters, die sie draußen kennen.
Ruth Klüger