Eine Frage der Definiton
Früher war alles besser. Wie die meisten Menschen verwende ich diesen Satz ungern, drückt er doch verknöcherte, fortschrittsfeindliche Rückwärtsgewandtheit aus. Manchmal aber schießt er einem doch ins Hirn.
Es geht nicht darum, eine bereichernde Körpererfahrung zu machen
Das letzte Mal, als mir das passierte, war ein wunderschöner Sommertag. Es war ein Sonntag, die Sonne schien – eine äußerst seltene Koinzidenz, die wir daher nutzten, um einen Wander-Ausflug ins Bergische Land zu machen. Für Ortsunkundige: Das Bergische Land liegt vor den Toren von Köln, es besteht aus Hügeln, Obstwiesen und Wäldern, in denen Vögel zwitschern, Bäche plätschern und Rehe an jungen Baumtrieben zu knabbern pflegen. Es wandert sich dort ganz wunderbar.
Ja, ich komme zur Sache. Kurz nachdem wir also die A4 verlassen hatten, fuhren wir durch ein kleines Gewerbegebiet. Und dort erspähte ich das, was mir den besagten Satz in den Kopf schießen ließ: Ein Fitnessstudio, hinter dessen Glasfront Menschen das betrieben, was man neudeutsch „Spinning“ nennt. Das heißt: Auf am Boden festgeschraubten Fahrrädern in die Pedale treten, ohne dass man dabei vorwärtskommt.
Warum nur, fragte ich mich, radeln diese Menschen – es waren alles Frauen – nicht durch die Wälder vor ihrer Nase, vorbei an den Obstwiesen, hören die Bäche plätschern, sehen die Rehe knabbern und lassen sich dabei den Fahrtwind um die Nase wehen? Die Antwort lautet: Weil es darum nicht geht. Es geht nicht darum, eine sinnliche, bereichernde Körpererfahrung zu machen. Worum geht es aber dann? Es geht darum, wie dieser Körper aussieht.
Das Zauberwort lautet „definiert“. Man und ganz klar auch frau braucht, wenn sie im Zeitalter der Selbstoptimierung ankommen will, heutzutage eine „definierte“ Muskulatur. So ein Arm darf nicht einfach Arm sein, nein, er muss aus Strängen bestehen, die sich klar voneinander abgrenzen, Bizeps, Trizeps, Deltamuskel und so weiter, das alles sollte klar erkennbar sein. Ist das nicht der Fall, fällt in Freundes- und auch Freundinnenkreisen mit Blick auf so einen untrainierten Schlabberarm immer öfter der Satz: „Du bist aber schlecht definiert!“ Und das bedeutet: Dieser Mensch muss ganz schnell ins Fitnessstudio.
Fitnessstudios sind Frauensache. Tatsache. 42 Prozent aller sporttreibenden Frauen tun das laut einer großen Sportstudie der Techniker-Krankenkasse in einer Muckibude – aber nur 22 Prozent der sporttreibenden Männer. Überhaupt treiben Frauen (53%) mehr Sport als Männer (47%). Und was geben sie als Hauptgrund dafür an? Richtig: Sie wollen „ihr äußeres Erscheinungsbild verbessern“. Bizeps und Trizeps werden also nicht dazu ausgebildet, den Bierkasten mühelos in den dritten Stock schleppen zu können. Nein, sie müssen „definiert“ sein. Einfach so halt. Kürzlich habe ich in einem ohnehin äußerst deprimierenden Artikel über Jugendsexualität die bedrückende Aussage einer jungen Frau gelesen: „Früher mussten wir wenigstens nur dünn sein, jetzt müssen wir auch noch muskulös sein.“ Die Daumenschrauben in Sachen weibliches Schönheitsideal wurden also noch weiter angezogen.
Früher, behaupte ich, und komme auf den Eingangssatz zurück, war das anders. Nämlich besser. Um mal von mir zu sprechen: Ich habe seit meinem 14. Lebensjahr Volleyball gespielt, zuerst in der Schulmannschaft, dann im Verein. Ich habe das aus einem einzigen Grund getan: Es hat mir riesigen Spaß gemacht! Ballbeherrschung lernen, die Freude an tollen Spielzügen und am Ende (idealerweise) der gemeinsame Jubel über ein gewonnenes Spiel. Und natürlich danach das gesellige Bier mit supernetten Frauen, geschüttet in einen durch den Sport wunderbar entspannten Körper. Natürlich bekam frau dank Baggern und Schmettern eine ganz ordentliche Armmuskulatur und durch die Blocksprünge Waden, die man heutzutage als „definiert“ bezeichnen würde. Nur verlor damals niemand ein einziges Wort darüber, weil es darum gar nicht ging.
Es geht nur noch darum, wie "definiert" dieser Körper aussieht
Vor ein paar Jahren hat sich mein Volleyballteam leider aufgelöst. Weil mir der regelmäßige Sport fehlte, habe ich mir auf die enthusiastische Empfehlung einer Bekannten hin eine DVD aus Amerika gekauft. Ich wollte etwas Niedrigschwelliges, etwas, das man ohne organisatorisches Aufheben ganz leicht zu Hause machen kann. Seither mache ich unter Anleitung eines extrem definierten Mannes namens Harley etwa viermal die Woche eine Mischung aus Konditions- und Krafttraining. Das macht sehr viel Spaß, auch wenn Harley unentwegt Unfug redet.
Harley ist Kalifornier und sagt, es sei wichtig, dass unsere Arme straff sind, weil man in Kalifornien immer T-Shirts trägt. Einen anderen Grund gibt er nicht an, nur, dass die Arme straff sein müssen, weil Arme eben straff sein müssen. Beine natürlich auch, der zu straffende Muskel am Oberschenkel heißt übrigens Quadrizeps. Und die Bauchdecke. Muss unbedingt ein Sixpack werden, weil man an kalifornischen Stränden seinen Bauch nicht verstecken kann. Und so ein undefinierter Bauch ist kalifornischen Augen natürlich nicht zuzumuten.
Abgesehen davon, dass ich nicht in Kalifornien lebe, sondern im oft kühlen Köln, ist mir Harleys oberflächliches Gequatsche selbstredend ein Graus. Mir sind andere Dinge wichtig. Zum Beispiel, dass ich das Arm-Training jetzt schon mit der Fünf-Kilo-Hantel schaffe. Dass ich mich da steigern konnte, das ist entscheidend. Gut ja, schon schön, dass mein Bizeps jetzt ein bisschen gewachsen ist. Sieht gut aus. Irgendwie … besser als früher.
Chantal Louis