Alice Schwarzer schreibt

Verantwortung der Protestanten

Foto: Jens Schulze/epd-bild
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Die lange erwartete Studie erschien Anfang Februar. Und sie brachte nur scheinbar Überraschendes. Feministinnen hatten schon lange in die Richtung Vermutungen geäußert.

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Es geht um die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Evangelischen Kirche und wie die damit umgeht. Sehr interessant ist dabei der Vergleich mit dem Problem in der Katholischen Kirche. Die ist im Gegensatz zu der „geschwisterlich“ und antihierarchisch organisierten Evangelischen Kirche ja autoritär und hierarchisch organisiert. Und das kam raus in der ForuM-Studie:

Vergleicht man die Studien der Katholiken und Protestanten, wird klar, dass die Anzahl der beschuldigten Geistlichen trotz unterschiedlicher Strukturen etwa gleich ist. Für die Jahre zwischen 1946 und 2018 sind es bei den Katholiken 1.670 Täter, bei den Protestanten 1.259. Bei gleicher Datenbasis wären es hochgerechnet 1.402. Diese Zahlen sind bei beiden nur die Spitze der Spitze des Eisberges.

  • Das Argument, das Zölibat fördere den Missbrauch, ist weitgehend hinfällig. Bei den Protestanten waren zwei von drei beschuldigten Pfarrern beim Begehen ihrer ersten Tat verheiratet. Wir können also bei den Protestanten nicht von einem Mangel an Gelegenheit ausgehen, wie bei den Katholiken. Bei beiden ist wohl der Reiz des Missbrauchs die Macht.
  • Das große I können wir uns bei dem Bericht über die ForuM-Studie getrost sparen: 99,6 Prozent der Täter sind Männer.
  • Beide Kirchen haben stark gemauert. Von 20 Diözesen hat nur eine richtig geliefert, nämlich nicht nur die Disziplinarakten, sondern auch die Personalakten. 19 hatten tausend Gründe, warum sie mit dem für die wissenschaftliche Studie nötigen Material nicht überkamen.

„Der sexuelle Missbrauch ist ein reines Männlichkeitsproblem“, schreibt der Religionssoziologe Detlef Pollack in der FAZ. Und er fährt fort: „Ein antiautoritäres Verhältnis zwischen den Geistlichen und den Jugendlichen kann sexuellen Missbrauch ebenso befördern wie ein autoritäres. Gerade da, wo sich rhetorisch begabte Geistliche aus ihrer Dienstrolle herausbewegen, wo sich formales Amtsverständnis und Privatheit vermischen, wo die verantwortlichen Erwachsenen eine besondere Nähe und Vertrautheit zu den Jugendlichen aufbauen, ist es für diese schwer, Grenzen zu ziehen, ja Grenzen zu erkennen.“ Zum Beispiel: „Auf einmal findet sich beim Versteckspielen in der dunklen Kirche die Hand eines Diakons da, wo sie nichts zu suchen hat.“

Es ist jedoch weniger der im Patriarchat universelle sexuelle Missbrauch Abhängiger, der im Fall der Kirchen so schockierend ist, sondern es ist die Kluft zu dem hohen moralischen Anspruch der Kirchen. Und genau dieser Anspruch verdeckt den Missbrauch doppelt. Das ist auch vergleichbar mit einem innerhalb der Familie missbrauchenden Vater.

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Hinzu kommt, dass das in Deutschland fortschrittliche Milieu eng mit der Evangelischen Kirche verbunden ist und das protestantische Bildungsbürgertum auch im pädagogischen Bereich großen Einfluss hat. In diesem Milieu haben die „Kinderfreunde“ über Jahrzehnte unter dem Deckmantel des Fortschrittes ganz besonders gewütet. Zum Beispiel dank Prof. Helmut Kentler, pädosexueller Täter und Aktivist, der in Evangelischen Akademien herzlich willkommen war. In seinen Vorträgen setzte er die Sexualität von Kindern und Erwachsenen gleich, ignorierte das Machtgefälle und plädierte für die totale Straffreiheit von Pädophilie.

Hätte EMMA damals nicht im letzten Moment Alarm geschlagen, hätten SPD und FDP 1980 den Pädophilen-Paragraphen §176 gestrichen (die Grünen gab es damals noch nicht). Im Ernst. Jemand wie Kentler trat übrigens auch als Gutachter vor Gericht auf. Er empfahl, delinquente Jugendliche zur Bewährung bei aktiven Pädosexuellen unterzubringen, da diese sich „besonders für Jugendliche interessieren“. Die Gerichte folgten gerne dem guten Rat des Experten.

Diese Art von „Reformpädagogen“ prägen bis heute die Sicht der „fortschrittlichen“ Pädagogik. Sie kommt von der anderen Seite des Problems her und steht den Gewalt- und Missbrauchsverhältnissen dunkler Mächte in der Katholischen Kirche in nichts nach. Und wir sind erst am Anfang der Aufklärung, dessen dunkle Schatten das Leben so vieler junger Menschen lebenslang überschattet.

ALICE SCHWARZER

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