Eine russische Anne Frank
Am 27. Januar 1944, also vor 75 Jahren, wurde Leningrad – heute wieder Sankt Petersburg – nach 872 Tagen deutscher Hungerblockade befreit. Am Gedenktag wurde auf dem Piskarjowskoje-Friedhof der über eine Million Toten gedacht. Die Bundesregierung kündigt zu diesem Anlass eine Unterstützung über 12 Millionen Euro für die Opfer der Belagerung und ihre Kinder an. In einem Pavillon am Eingang sind Fotos und Tagebucheinträge von Tanja Sawitschewa ausgestellt. Die Schülerin notiert im belagerten Leningrad akribisch den Tod ihrer Verwandten: „Schenja starb am 28. Dezember um 12.00 vormittags 1941. Großmutter starb am 25. Januar, 3 Uhr nachmittags 1942. Ljoka starb am 17. März um 5 Uhr vormittags 1942. Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht 1942. Onkel Ljoscha am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags 1942. Mama am 13. Mai um 7.30 vormittags 1942.“
Tanja ist elf Jahre alt, als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt. Sie ist das Jüngste von fünf Geschwistern. Nach dem frühen Tod des Vaters zieht die Mutter die Kinder allein groß. Als Schneiderin eines Leningrader Modehauses hat sie viele Kundinnen und verdient gut. Auch Tanja stickt viel: Blumen, Vögel, Landschaften.
Nach Kriegsausbruch beschließt die Familie, in Leningrad zu bleiben. Die Mutter näht nun Soldatenblusen. Bruder Leonid arbeitet als Transportarbeiter. Tanjas Schwester Schenja schleift Minengehäuse und dreht Granathülsen, Nina gräbt Schützengräben. Tanja hilft, verschüttete Keller freizulegen.
Am 8. September 1941 erreicht die Wehrmacht eines der wichtigsten Kriegsziele. Deutsche Truppen ziehen einen Belagerungsring um Leningrad, um die Metropole von der Außenwelt abzuschließen. „Leningrad muss ausgehungert werden“, beschließt Adolf Hitler rund einen Monat nach der Einschließung. Seinen Generälen befiehlt er, die Stadt an der Newa von der Außenwelt zu isolieren – kein Strom, kein Wasser, keine Nahrung. Für den Herbst 1941 ist bereits eine Siegesfeier im Hotel Astoria avisiert.
Hitler unterschätzt jedoch den Widerstand der Bevölkerung. Die Dichterin Anna Achmatowa ruft die Bewohner über Rundfunk auf, „die Stadt Peters, Lenins, Puschkins, Dostojewskis und Bloks“ auf keinen Fall „den deutschen Faschisten“ in die Hände fallen zu lassen. Hunger und Kälte sind die größten Feinde. Die Leningrader sind im ersten Blockadewinter bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad einem der härtesten Winter ausgeliefert. Die Menschen essen Katzen, Hunde, Ratten, sogar den Kleister aus Tapeten – und manche aus Verzweiflung auch andere Menschen.
Als eines Tages die Stadt besonders heftig beschossen wird, kommt Schwester Nina nicht mehr von der Arbeit nach Hause zurück. Die Mutter schenkt Tanja ein kleines Notizbuch, das einmal Nina gehört hat. Es soll ein Andenken an die Schwester sein. Ende Dezember 1941 beginnt Tanja, ihre Chronik der Ereignisse in das hellblaue Heft zu schreiben: „Es gab in diesem Jahr bisher wenig Schnee, alles verweht. Erst gestern hat es richtig geschneit. Wir können die Wohnung nicht mehr heizen.“
Wenig später bricht Schwester Schenja zusammen und stirbt direkt im Betrieb. Bald darauf müssen sie die Großmutter beerdigen. Im März 1942 schieben sie den Karren mit dem Leichnam von Bruder Leonid zum Friedhof. Tanja vermerkt immer öfter die ständigen „Besuche des Todes in unserem Haus“. Das Tagebuch schließt mit den Worten: „Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist geblieben.“
Es ist der 13. Mai 1942. Tanja ist zwölf Jahre alt. Sie ist allein. Als die Rote Armee Ende Januar 1944 den Belagerungsring durchbricht, wird Tanja von Sanitätern entdeckt und zusammen mit 140 anderen halbverhungerten Kindern in die Gegend um Gorki – heute wieder Nischni Nowgorod – evakuiert. Alle erholen sich. Nur Tanja bleibt liegen und verliert immer wieder das Bewusstsein. Sie stirbt am 1. Juli 1944 an den Spätfolgen der Blockade.
Was Tanja nicht mehr erfährt: Ihre vermisste Schwester Nina lebt. Sie wurde über den Ladogasee evakuiert. Die deutschen Armeen hatten nicht daran gedacht, auch die Wasserverbindungen über den Ladogasee zu schließen. Ab dem 17. November 1941 war der Ladogasee fest zugefroren. Die ersten Lastwagen, die sich aufs Eis wagten, brachen noch ein. Aber bald konnte Nachschub über das Eis auf der „Straße des Lebens“ organisiert werden. In umgekehrter Richtung konnten rund 900.000 Leningrader evakuiert werden.
Im Mai 1945 kehrt Tanjas ältere Schwester nach Leningrad zurück und findet in der leeren Wohnung ihrer Eltern das Notizbuch mit Tanjas Aufzeichnungen. Das Tagebuch gehört während des Nürnberger Prozesses zu den Beweismitteln der Anklage im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Doch Tanjas Tagebuch wurde nicht, wie das von Anne Frank, gedruckt.
P.S. Auch die Eltern des 1952 geborenen Wladimir Putin waren eingeschlossen in Leningrad. Ihr Erstgeborener ist in der Belagerung gestorben. Die Mutter beinahe auch. Putin selbst hat einmal erzählt, wie sein Vater zufällig auf dem vor ihrem Haus losfahrenden Leichenkarren unter den Bergen von Körpern die Schuhe seiner Frau entdeckte. Er bat, ihm wenigstens ihren Körper zu geben – sie lebte noch. Und hat überlebt.
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