Türkinnen gegen Erdoğan

Foto: Imago/ZUMA Press
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Nein, es ist kein Zufall, dass es die Türkinnen sind, die derzeit in erster Reihe gegen den Ausgang von Erdoğans Verfassungsreferendum protestieren. So wie diese Frauengruppe (Foto), die seit Tagen in dem Istanbuler Stadtviertel Kadıköy auf die Straße geht. Denn es sind allen voran die Türkinnen, die unter Erdoğans islamistischer Politik leiden. Ihr Vorwurf lautet nun: Bei dem Referendum ist betrogen worden. Auch die größte türkische Oppositionspartei CHP hat einen Antrag für eine Neuauszählung bei der Wahlkommission in Ankara eingereicht. Die Hinweise auf Wahlbetrug häufen sich. Im Internet kursieren inzwischen Videos aus Wahllokalen, die zeigen, wie ungestempelte, nicht verifizierte Wahlzettel mitgezählt wurden. Es geht um rund 2,5 Millionen ungültige Stimmen. Das „Evet“-Lager liegt nach derzeitigem Stand mit nur 1,4 Millionen Stimmen vorne. Die Neuauszählung könnte also ein ganz anderes Ergebnis des Referendums zutage bringen, als Recep Tayyip Erdoğan proklamiert. Seit er 2003 als Ministerpräsident an die Macht kam, wehren sich Türkinnen gegen seine „autoritäre One-Man-Show“, weiß die türkische Juristin und Schriftstellerin Ece Temelkuran. Sie ist eine dieser Frauen. Hier ein Auszug aus ihrem Essay „Eine Türkin weint um ihre Heimat“, der in der nächsten EMMA (ab 27.4. im Handel) erscheint.

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Diejenigen, die von Anfang an Widerstand leisteten, waren säkulare Frauen der Unter- und Mittelschicht in den großen Städten, diejenigen eben, denen kein Platz mehr im Bus angeboten wurde. Ihren Bedenken wurde mit flammender Kritik begegnet, immer ging es dabei darum, dass sie respektlos seien gegenüber anderen Identitäten, besonders gegenüber der Identität der muslimischen Frau.

Natürlich ließen sich die Mainstream-Medien die Gelegenheit nicht entgehen, diese Spannungen unter Frauen auszuschlachten und manchmal sogar zu feiern. In der ersten Amtszeit von Erdoğan waren die Mainstream-Fernsehsender voll mit Debatten, in denen es um die krude Zweiteilung von hie der „gesitteten Dame“ mit Kopftuch und dort der „freizügigen“ Frau ging. Und wie man sich sehr leicht vorstellen kann, schwangen mit dem Wort „freizügig“ viele Anzüglichkeiten mit, wie etwa „sexuell freizügig“.

Ich war eine dieser „freizügigen Frauen“. Und ich erinnere mich an eine Sendung in einem der meistgesehenen Programme. Ich sehe noch immer das amüsierte Gesicht des männlichen Moderators vor mir, während er diesen politischen Zickenkrieg beobachtete; auch wenn es mir gelang, in der Sendung die Unverschämtheit zu entlarven, die hinter der Idee stand, Frauen auf diese Weise gegeneinander ausspielen zu wollen. Doch von dem Moment an, an dem ich akzeptierte, auf ihrer Bühne zu spielen und mit den Jungs an einem Tisch zu sitzen, war es unmöglich, dieser primitiven männlichen Profilierung auf Kosten von Frauen zu entkommen.

Als Feministinnen versuchten wir, dieser dumpfen Dichotomie etwas entgegenzusetzen. Wir verfassten Stellungnahmen gemeinsam mit anderen Frauen, die sich selbst als Musliminnen bezeichneten. Wir wollten deutlich machen, dass wir – egal ob mit oder ohne Kopftuch – an Multikulturalismus glaubten, an Demokratie, Menschenrechte und Gleichberechtigung. Aber diese beinahe naiven Statements verloren sich in der Flut der Geschichte, die hinströmte zu einer islamistischen und autoritären One-Man-Show. Die in der Mitte gehen nur zu leicht unter und verschwinden in der Strömung zwischen den politischen und sozialen Fronten.

Ece Temelkuran
Die Autorin lebt heute in Zagreb. Von ihr erschien gerade der Roman „Stumme Schwäne“ (Hoffmann & Campe).

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DeutschtürkInnen wählen Erdogan

Erdogan-AnhängerInnen feiern in Berlin. © Imago/Zuma Press
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Erdogan ist am  Ziel angekommen. Er wird nun daran arbeiten, die gesamte Macht bei sich zu konzentrieren und zukünftig als von Allah erwählter Sultan, Kalif und Kadi, also weltlicher und religiöser Führer sowie oberster Richter in einer Person aufzutreten. Die Demokratie hat er schon früher nur als einen "Zug" verstanden auf dem Weg zu seinem Ziel: eine islamische Türkei. Auf diesem Weg haben ihm viele, die heute entsetzt sind, den Rücken gestärkt: von der SPD, den Grünen und der Linken, bis hin zur CDU in Deutschland und darüber hinaus die EU. Bei den westlichen Eliten galt die Türkei lange als das Vorzeigeprojekt für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam.

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Diese romantische Hoffnung wurde gestern Abend endgültig zunichte gemacht. Denn Erdogans Haltung des tek millet (ein Volk), tek devlet (ein Reich), tek lider (ein Führer) führt ihn nun mit der Zustimmung der Straße zur Alleinherrschaft. Der Weg zur Errichtung eines "Gottesstaates" ist frei. Direkt vor der europäischen Haustür scheitert ein demokratischer Staat an Islamisierung und Autokratie. Und 2 von 3 der insgesamt 1,4 Millionen Wahlberechtigten (Deutsch)Türken in Deutschland haben dazu beigetragen.

Erdogans knapper Sieg ist eine Niederlage, die Türkei gespalten

Auf seinem strammen Weg der Islamisierung wird Erdogan auch weiterhin auf seine Landsleute in Deutschland als fünfte Kolonne seiner Politik setzen. Die Doppelstaatsangehörigkeit der Deutsch-Türken macht es möglich. Erdogans knapper Sieg - 51,3 Prozent Ja gegen 48,7 Prozent Nein - ist allerdings tatsächlich eine Niederlage. Denn unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, nach einem höchst unfairen Wahlkampf, seiner allgegenwärtigen Medienpräsenz, und dubiosen Vorkommnissen bei der Auszählung, bekam er offiziell nicht die erwartete überwältigende Mehrheit. Für den Allmächtigen, der allen mit dieser Abstimmung „eine Lektion“ erteilen wollte, ist das eine gefühlte Niederlage. Er weiß nun, dass er nicht der Präsident aller Türken ist. Die Türkei ist ein gespaltenes Land.

Trotzdem wird Erdogan sich weiter legitimiert fühlen, das Land nach seinem religiösen Ideal zu formen. Er wird sagen: die Mehrheit will die Todesstrafe, das Volk will den Gottesstaat. Mit diesem Sieg hat der Sieger nun auch alles zu verantworten, was an gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem Niedergang in der Ex-Republik Türkei kommen wird.

Zwei von drei der in Deutschland lebenden wahlberechtigten (Deutsch)Türken haben für Erdogans Ermächtigung gestimmt. Am Abend der Abstimmung fuhren Autokorsos mit Erdogan-Fans um den Berliner Breitscheid-Platz - den Ort des grausamen Lastwagen-Attentas - und spielten die (Mehter)Kriegsmusik der Osmanen.

Es waren meist junge Männer, wohl hier geboren und aufgewachsen, die den Sieg des vermeintlich starken Mannes am Bosporus feierten. Mit ihrem EVET haben sie Nein zur Demokratie und Nein zur Integration gesagt. Sie wollen Türken sein und bleiben. Diese Identität haben sie in ihren traditionellen Familien und den aus der Türkei gelenkten islamistischen Moscheen gelernt. Und von der linksgrünen Politik - wie   „ihren“ Abgeordneten Özcan Mutlu, Christian Ströbele oder Aydan Özoguz - wurden sie in einer Opferrolle als angeblich "Ausgegrenzte" bestärkt. Jetzt weinen dieselben  Krokodilstränen über den Weg der Türkei in die Diktatur.

Keiner dieser Fortschrittlichen und "Antirassisten" hatte bis gestern auf die antidemokratischen Strukturen der Islam– und Kurdenvereine hingewiesen oder gar etwas dagegen unternommen. Dabei waren und sind sowohl die Moscheen -  die von der Türkei gelenkten DITIB-Moscheen, wie die aus Saudi-Arabien finanzierten der Muslim-Brüder oder der Milli Görüs, - und die orthodoxen Islamverbände Brutstätten der Erdoganpartei und der Abgrenzungspolitik von Muslime und Türkeistämmigen in Deutschland. 64% der Ja Stimmen wurden in den Moscheen in Deutschland organisiert. Die Wahlkampagnen Erdogans haben die Moscheen getragen. Wie lange möchte unsere Gesellschaft diese Orte der Antidemokratie als Religionsfreiheit schützen?! 

Die Mehrheit der Deutsch-Türken lebt in Freiheit - und hat die Unfreiheit gewählt

Diese blinde deutsche Politik verhinderte, dass die jungen Migranten der 3. und 4. Generation eine deutsche Identität annehmen, im Gegenteil: Man hat sie mit der doppelten Staatsbürgerschaft auf die andere Seite gelotst. Jetzt gefallen diese Doppelstaatler sich im Doppelspiel: einerseits nutzen sie Sozialstaat und Demokratie, andererseits gefallen sie sich als Sympathisanten eines islamischen Reis (Führer), identifizieren sich mit ihm.

Die toleranten deutschen Politiker aber feiern weiterhin die doppelte Staatsbürgerschaft als Meilenstein für den von ihnen geträumten Multikulturalismus. Sie sehen nicht, dass sie die Türkeistämmigen damit in ihrem Wunsch, in Deutschland, aber ohne die Deutschen, zu leben, gestärkt haben. Sie behaupten allen Ernstes, die Türkei hätte schon 2004 mit Erdogan in die EU aufgenommen werden müssen, dann wäre jetzt alles gut in der Türkei. Stattdessen hätte die EU den Türken bösartig die Kopenhagener Kriterien vor die Nase gehalten und so in Erdogans Arme getrieben.

Für die freiheitsliebenden Menschen in der Türkei - für meine Familie und meine Freundinnen und Freunde -  ist das Ergebnis traurig, denn es entfernt sie noch weiter von Europa und dem Erbe Atatürks. Die Wirtschaftskrise kommt so sicher wie der Ruf des Muezzins, der Bürgerkrieg mit den Kurden wird ihr Leben überschatten, Frauen werden ins Haus gedrängt und auf die Rolle als Mütter reduziert werden.

Die TürkInnen in der Türkei sind ab sofort keine freien Bürger mehr (und sind schon länger stark eingeschränkt). Die Mehrheit der Deutsch-Türken aber lebt in einem freien Land, hat aber die Unfreiheit gewählt. Wir Deutschen und Europäer, woher wir auch kommen, müssen diesen Erdogan- WählerInnen mitten unter uns endlich klarmachen, dass Demokratie und Sozialstaat nur mit Loyalität zu haben ist.

Necla Kelek

 

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