Eine Türkin weint um ihre Heimat

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Die Welt erlebt gerade aufregende Zeiten. Und das nicht nur in „verrückten“ Ländern wie der Türkei oder Pakistan, auch im Herzen Europas tobt der Irrsinn. Der aufkeimende Populismus und die Frauenfeindlichkeit drängen mit Macht nicht nur in die politische Sphäre, sondern auch in unser alltägliches Leben. Es gibt viele Namen für diese neuen, interessanten Zeiten. Manche sagen, dies sei die letzte Krise des Kapitalismus; andere sprechen von der Krise der repräsentativen Demokratie; und wieder andere sagen, dass der ­Faschismus zurück sei, diesmal in einem neuen, eintönig-bunten Outfit.

Nun, hin und wieder sage ich tatsächlich auch solche Dinge. Ich glaube, alle diese Erklärungen haben Sinn. Doch ich denke, darüber hinaus befinden wir uns ganz schlicht in einer Krise der Männlichkeit. In dem Maß, in dem Frauen immer stärker und immer präsenter werden, ­fühlen die Männer sich mehr und mehr nutzlos – was sie dazu bringt, die Frauen „zurück auf ihre Plätze“ zu weisen.

So waren es keine spontanen Gesten von Trump gegenüber Merkel, als er ihr nicht die Hand reichte und sie dazu verdonnerte, mit seiner Tochter Ivanka zusammen am diplomatischen Verhandlungstisch zu sitzen. Damit machte er klar, dass „Mädchen mit den anderen Mädchen“ zusammensitzen sollen, aber eben nicht mit den „großen Jungs“.

Ich musste lachen, als ich es sah. Aber nicht etwa, weil es mir Vergnügen bereitete, sondern weil es mich an all das erinnerte, was wir in der Türkei in den letzten 15 Jahren durchgemacht haben. Es ist eine lange und quälende Geschichte, die wir erleben. Und sie begann mehr oder weniger damit, dass Mädchen dazu genötigt wurden, ­wieder mit Mädchen zusammen zu sitzen.

Nicht erst nach der Wahl Erdoğans zum Alleinherrscher zeigen die internationalen Medien auf allen Kanälen Nachrichten aus der Türkei. Genauer gesagt, sind sie voll mit dem Konterfei von Präsident Erdoğan. Jedes Stück über die Türkei wird mit seinem Gesicht bebildert. Und mit der Zeit sieht es so aus, als lebe niemand ­anders in der Türkei außer Erdoğan und seine Anhänger. Die Nachrichten berichteten so manches Mal sogar begeistert über die Erdoğan-Türkei. Heute brandmarken sie die Türkei als Diktatur unter Erdoğans Führung.

Letzteres war vor 15 Jahren noch nicht der Fall, als Erdoğans Partei an die Macht gelangte. Die internationalen Medien tanzten um ihn herum, um diesen „echten Vertreter des Volkes“ und Retter der „wahren Demokratie“. So, wie sie es heute mit allen populistischen Führern in Europa tun.

Doch schon damals begann Erdoğans Partei, die Frauen wieder auf ihren Platz zu verweisen. Es fing damit an, dass sie das Wort „Frau“ auslöschten. So wie jeder gute alte Konservative ersetzten sie das Wort durch „Dame“. Nun gab es aus ihrer Sicht hie die Damen und dort die Frauen, und langsam begann das Wort Frau obszön zu werden, auf Sex bezogen und schmutzig.

Ich erinnere mich an den Tag, als meine Mutter mir erzählte, dass eine „Dame“ mit Kopftuch von einem Mann seinen Platz angeboten bekam, sie jedoch, eine Frau ohne Kopftuch, nicht.

Es ist kein Wunder, dass die Frauen, ­besonders die säkularen und fortschrittlichen, schon zu diesem frühen Zeitpunkt alarmierter über die neue Regierung waren als die Männer. In ihrem Alltag erlebten sie bereits winzige Veränderungen, die sehr genau signalisierten, was auf sie zukommen würde.

Die gängigste Metapher im Zentrum der steigenden Besorgnis war die vom „langsam kochenden Frosch“. (Anm. der Red.: Setzt man einen Frosch in kochendes Wasser, flieht er schnellstmöglich. Setzt man ihn aber in kaltes Wasser und erhöht allmählich die Temperatur, gewöhnt er sich daran und bleibt sitzen, bis das kochende Wasser ihn tötet). Als die Frauen und schließlich auch die Männer endlich merkten, dass sie nicht etwa in warmem Thermalwasser saßen, sondern dass es tatsächlich anfing zu kochen, dass also dieses an Macht gewinnende Regime ihre säkularen Leben existenziell bedrohte, da war es bereits zu spät.

Diejenigen, die von Anfang an Widerstand leisteten, waren säkulare Frauen der Unter- und Mittelschicht in den großen Städten, diejenigen eben, denen kein Platz mehr im Bus angeboten wurde. Ihren Bedenken wurde mit flammender Kritik begegnet, immer ging es dabei darum, dass sie respektlos seien gegenüber anderen Identitäten, besonders gegenüber der Identität der muslimischen Frau.

Natürlich ließen sich die Mainstream-­Medien die Gelegenheit nicht entgehen, diese Spannungen unter Frauen auszuschlachten und manchmal sogar zu feiern. In der ersten Amtszeit von Erdoğan waren die Mainstream-Fernsehsender voll mit Debatten, in denen es um die krude Zweiteilung von hie der „gesitteten Dame“ mit Kopftuch und dort der „freizügigen“ Frau ging. Und wie man sich sehr leicht vorstellen kann, schwangen mit dem Wort „freizügig“ viele Anzüglichkeiten mit, wie etwa „sexuell freizügig“.

Ich war eine dieser „freizügigen Frauen“. Und ich erinnere mich an eine Sendung in einem der meistgesehenen Programme. Ich sehe noch immer das amüsierte Gesicht des männlichen Moderators vor mir, während er diesen politischen Zickenkrieg beobachtete; auch wenn es mir gelang, in der Sendung die Unverschämtheit zu entlarven, die hinter der Idee stand, Frauen auf diese Weise gegeneinander ausspielen zu wollen. Doch von dem Moment an, an dem ich akzeptierte, auf ihrer Bühne zu spielen und mit den Jungs an einem Tisch zu sitzen, war es unmöglich, dieser primitiven männlichen Profilierung auf Kosten von Frauen zu entkommen.

Als Feministinnen versuchten wir, dieser dumpfen Dichotomie etwas entgegenzusetzen. Wir verfassten Stellungnahmen gemeinsam mit anderen Frauen, die sich selbst als Musliminnen bezeichneten. Wir wollten deutlich machen, dass wir – egal ob mit oder ohne Kopftuch – an Multikulturalismus glaubten, an Demokratie, Menschenrechte und Gleichberechtigung. Aber diese beinahe naiven Statements verloren sich in der Flut der Geschichte, die hinströmte zu einer islamistischen und autoritären One-Man-Show. Die in der Mitte gehen nur zu leicht unter und verschwinden in der Strömung zwischen den politischen und sozialen Fronten.

Erdoğan und seine Partei, die AKP, sind nicht die ersten politischen Akteure in der modernen Geschichte, die Frauen in ihrem politischen Schaufenster präsentieren. Die Geschichte zeigt, dass politische Bewegungen auf der ganzen Welt die Frauen vor die Augen der Öffentlichkeit gezerrt und sie jeweils so angezogen haben, wie es zu ihren politischen Zielen passte. Frauen wurden schon immer als politische Models funk­tionalisiert. Wie Barbiepuppen wurden sie auf diese oder jene Weise angezogen, je nach Geschmack des jeweiligen Regimes.

Und wieder einmal wurden die Frauen, von oben – von der ersten Dame im Staat und Erdoğans Töchtern – bis nach unten zwar nicht physisch gezwungen, aber ermu­tigt, Kopftuch zu tragen.

Lange Jahre war der Wandel der Ehefrauen hochrangiger AKP-Politiker Gegenstand zahlloser Witze in den Zeitungen. Bis das zu gefährlich wurde. Denn sobald der Ehemann einen prominenten Posten in der regierenden Partei bekleidete, legte sich seine Ehefrau den schicklichen „Damen-Look“ zu, der selbstverständlich einen ostentativen Schleier einschloss. Der Weg an die Spitze der politischen Leiter war klar: Du musst aussehen wie sie. Diese Einstellung breitete sich rasch aus. Und schon bald wussten alle Frauen, wie sie sich zu kleiden hatten, um als angemessenes Model der neuen Türkei auf den Laufsteg geschickt zu werden.

Es liegt nahe, anzunehmen, dass der rückschrittliche Wandel in der türkischen Gesellschaft unter Zwang geschehen ist. Und klar, da gab es eine bedrohliche Kraft von oben, aber das war es nicht allein. Viele Frauen stimmten diesem neuen Leben „freiwillig“ zu, dem Wohlstand und einer machtvolleren ­Position in dieser neuen Gesellschaft zuliebe.

Allerdings konnten – oder wollten – sie nicht in Betracht ziehen, dass dieser Wandel, dem sie zustimmten, eine wirklich gefährliche Entwicklung für jene Frauen in Gang setzte, die nicht nach der Pfeife der politischen Macht tanzen wollten.

Wie ich es in meinem Buch „Euphorie und Wehmut“ detailliert schildere, war da diese junge Frau, Didem Yaylalı, die den Preis für diesen Wandel mit ihrem Leben bezahlte. Sie war eine 26-jährige Richterin in Ausbildung. Sie war erfolgreich. Allerdings war sie eine „freizügige Frau“. Eine Frau, die ein normales, säkulares Leben lebte und nicht „freiwillig“ das Kopftuch trug, sondern am Wochenende auch mal ein, zwei Bier trank und sich nichts dabei dachte, Bilder davon auf ihrer Facebook-Seite zu posten.

Als sie bei ihrer Ernennung zur Richterin von der „Hohen Kommission von Richtern und Staatsanwälten“ befragt wurde – einer angeblich unabhängigen Kommission, in Wahrheit aber AKP-nahe – wurde ihr gesagt, dass sie wegen ihrer niedrigen Moral nicht Richterin werden könne. Sie war keine „richtige Dame“. Sie beging Selbstmord.

Wir wissen nicht, wie viele Didem Yayla­lıs es gibt in der Türkei, ob sie bereits tot sind oder noch am Leben – wenn man es Leben nennen mag. Aber wir wissen sicher, dass dies nicht mehr ihr Land ist, kein Ort, an dem sie als Bürgerinnen erster Klasse angesehen werden, und ganz sicher nicht als Damen.

Hin und wieder denke auch ich über diese Frage nach: Fühle ich mich in der Türkei noch zu Hause? Frauen wie ich machen ­zunächst eine Pause, wenn ihnen diese Frage gestellt wird. Sie spüren, dass eine negative Antwort würdelos wäre – denn damit würden sie zugeben, dass sie besiegt sind. Dennoch wird es schwieriger und schwieriger, auf diese Frage mit Ja zu antworten. Und nach dieser Wahl fast unmöglich.

Dabei geht es längst nicht mehr darum, ein Kopftuch zu tragen oder nicht. Es geht darum, den Regeln der Partei zu gehorchen – oder nicht. Und selbst jene, die ein Kopftuch tragen, werden sich nicht mehr zu Hause fühlen, wenn sie sich nicht dem neuen Leben unterwerfen, Erdoğans neuen Regeln.

Von den Bereichen Kinderehen bis zur Gewalt gegen Frauen hat die Türkei als säkularer Staat in den letzten 15 Jahren langst an Glaubwürdigkeit verloren. Mein geliebtes Land ist kurz davor, in die Kategorie jener verrückten Länder zu fallen, in denen alles geschehen kann – und niemand sich mehr daran stört.

Und während ich diesen Artikel schreibe, hat mein Land das Referendum zugunsten der Regeln Erdoğans entschieden. Knapp, aber dennoch. Neben all dem ­gesetzlichen Zierrat ging es bei dem Referendum darum, ob Erdoğan allein die Türkei regieren wird oder nicht.

Wie auch immer es weitergehen wird: Die Geschichte sollte festhalten, dass es Frauen waren, die sich am entschiedensten zur Wehr setzten. Die Zeit vor dem Referendum war die Zeit, in der die türkischen Frauen, ob mit oder ohne Kopftuch, diejenigen waren, die Nein gesagt haben – im vollen Bewusstsein davon, dass sie um ihr eigenes Leben kämpften und das Leben ihrer Töchter.

Und während ich das sage, ist mir gleichzeitig bewusst, dass die Geschichte die Taten von Frauen nur selten erwähnt, auch nicht, wenn sie Recht behalten. Deshalb sollten wir, wir Frauen, es in unserer Erinnerung behalten, dass türkische und kurdische Frauen gekämpft haben, wahrlich gekämpft haben. So wie es die Irane­rinnen und Afghaninnen vor ihnen taten.

Türkan Saylan, eine bekannte Medizinerin und Initiatorin einer Nichtregierungsorganisation für die Bildung von Mädchen, war in ihren letzten Jahren eine der stärksten Kritikerinnen Erdoğans, während sie gleichzeitig gegen den Krebs kämpfte. Kurz vor ihrem Tod wurde ihr Haus durchsucht. Vorwand: Sie wurde des Terrorismus angeklagt. Gültan Kışanak ist eine kurdische Politikerin, die das Auschwitz der Kurden überlebte, das Gefängnis in Diyarbakır in den 1980er Jahren, und die Bürgermeisterin von Diyarbakır wurde, bis sie vom AKP-Regime ins Gefängnis geworfen wurde.

Oder all jene kopftuchtragenden Frauen, die einst öffentliche Figuren waren, doch Kritikerinnen Erdoğans – sie sind heute ohne Arbeit und ausgestoßen. Nur die, die sich der Forderung, Barbies für die politische Partei zu sein, unterwarfen, haben überlebt, mit oder ohne Kopftuch.

Wenn ich heute eine Lehre ziehen sollte aus all diesen Jahren, dann würde ich sagen: Vergiss nie, dass du eine Frau bist – und alle konservativen, männlich dominierten politischen Bewegungen dein natürlicher Feind sind. Aber ich nehme an, nun ist es zu spät. Oder?

Übersetzung: Angelika Mallmann.

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