Eine Wölfin auf der Pirsch

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Ich weiß, wovon ich rede. Ich füllte Dutzende Fragebögen aus, öffnete Partnervorschläge des Webseitenbetreibers (immer enttäuschend), scrollte durch Listen. Sie waren beeindruckend und unerschöpflich. Wie im Netz üblich hatte ich mich auf verschiedenen Plattformen angemeldet. Ich verwaltete Passwörter und Decknamen, lud Fotos von 2003 in mein Profil und steigerte mit jeder Neuanmeldung meine potentiellen Kontakte um Tausende potentieller Männer. Meine Abende waren ausgefüllt, wochenends lief die große Samstagabendmenschlotterie. Zum ersten Mal im Leben spürte ich einen derartig gigantischen Markt: allein die Profile aller Suchenden anzusehen, hätte meine Lebenszeit bei weitem überschritten. Ich schwamm.

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Morgens wachte ich mit Kopfschmerzen auf und erwischte mich selbst zu meinem eigenen Erstaunen dabei, wie ich Menschen nach Kriterien wie Wohnort, Alter und Bildung im Sekundentakt aussortierte. Ich musste strenger werden. Im realen Leben hätte ich mich dagegen mit Kai dem Kranführer unterhalten, schon aus Neugier. Doch so?

Zweierlei fordert an der elektronischen Suche heraus. Zum einen fehlt die körperliche Begegnung: Gesten und Mimik, die Proportionen des Körpers, Stimme und Geruch. Mich störte zudem, wie krass man seine Absichten vor sich herträgt. Flirts spielen mit Absichten und Verstecken, nun aber diente jeder Klick schlicht einem Zweck: Ich will einen Partner! Ich muss …! ICH …! Welch Gebrüll, welche Zweckmäßigkeit.
Geht es nicht (auch) um das, was man gemeinhin romantische Liebe nennt? Verlangt sie nicht ein Gegenüber, ein Du? Das Liebesnetz hingegen betont das Ich: Ich suche, ich bin noch ohne, ich bin allein.

Bald wurde klar, dass die Männer, die ich dank Netzdating kennenlernte, keineswegs identisch mit ihren Bildern und Texten waren: Einer strich sich durch weiße statt braune Locken, der nächste litt unter einer Hautkrankheit, der dritte rauchte auffällig viel für einen Nichtraucher. Wieder geriet ich mit mir selbst in Streit: Ich nahm den Männern übel, dass sie ihre „Defizite“ im Netz verschwiegen hatten, obwohl ich es verstehen konnte – ein wenig jünger hatte ich mich beim Foto ja auch gemacht. Hätten wir uns in einem wirklichen Raum kennengelernt, wäre die Versuchung, sich auf diese Weise aufzuwerten bzw. das Gefühl, betrogen zu werden, gar nicht erst aufgekommen. Doch da war er, der Markt, diesmal mit seiner Kraft, uns zu homogenisieren: hübsch, fit, gesund, nicht alt.

Schon immer haben sich Menschen aus der Ferne kennengelernt: Man tauschte Briefe. Freunde oder die Familien kannten sich. Anders als beim E-Dating wurden diese Begegnungen von einem sozialen Netz umspannt und getragen. Die Männer indes, deren Bilder in langen Listen an mir vorüberglitten, begleitet von immer gleichen, standardisierten Vorlieben und ein wenig eigenem Text, erschienen mir wie von ihrem Leben und ihren Freunden gelöst. Ich konnte sie nicht richtig sehen, weil ihr sozialer Kontext fehlte.

EinesAbends, als ich an jemanden schrieb, der mir wichtig war, aber an den seltsamen Antwortzeiten bemerkte, dass er mich offensichtlich innerhalb seiner Kennenlernlisten „abarbeitete“, ertappte ich mich bei dem Gedanken, ob diese anderen wirklich Menschen waren. Diese Frage schloss mich ein.

Zugleich gefiel mir das E-Dating. Fantasie macht Internetliebe schön und kräftig – verlockend, trickreich und riskant. Dass Netzkontakte Räume für ungehinderte Projektionen öffnen, hatte ich schon im Jahr 2000 schmerzvoll begriffen. Das Internet war noch keine nennenswerte Größe, extrem langsam, jede Sekunde kostete Geld. Ich hatte den Mann einmal aus geschäftlichen Gründen getroffen, wir hatten gefaxt.

Dann eröffnete ich mein erstes Mailaccount. Eine Woche später waren wir süchtig, mehrmals pro Tag (damals noch atemberaubend) stürzte ich beim Mail-Klingelgeräusch wie ein Pawlowscher Hund an den Computer. Wochen lang bewegten wir uns – mit realem Anlass, aber ohne Reibungsverluste in der Wirklichkeit – in den schönsten erotisch-sexuellen Fantasien.

Der Aufprall in der Wirklichkeit war hart. Die reale Affäre schien meinem Gegenüber zu gefährlich. Er brach den Kontakt ab. Seither bin ich vorsichtig damit, meinen Vorstellungen und Wünschen angesichts der Bildtextfläche eines virtuellen Menschen die Zügel schießen zu lassen. Sicher, auch über den notwendigen Selbstschutz kann man sich im Netz austauschen: Wann gibt man den Realnamen preis, wann telefoniert man? Leider kam es meist nicht einmal so weit. Ich stieß auf sehr viel mehr interessante und witzige Anzeigen von Frauen als von Männern.

Allmählich sammelten sich Netzgeschichten bei mir: schöne, seltsame, tragisch-komische und harte von ewigen Fernreisen. Eine Freundin, die ihren Internetmann das zweite Mal besuchte, stieß bei der Rückkehr von einem Spaziergang in seiner Wohnung auf seine Exfrau. Die zückte, vollkommen überrascht davon, woher die neue Frau trotz ihrer Kontrolle plötzlich gekommen sein mochte, das an ihrem Schlüsselbund befestigte Schweizer Messer. Der Mann griff ein, meine Freundin rannte in den Keller, kletterte dort aus dem Fenster und rief die Polizei.

Es zeigte sich auch, dass erfolgreiche Online-Paarbildungen gern einem einfachen Muster folgten: Mindestens einer der beiden war neu in der elektronischen Liebeswelt, es funkte beim ersten Kontakt.
Daran stimmt, dass Online-Dating die romantischen Ressourcen verbraucht. Schwung und Bereitschaft, sich auf jemanden einzulassen, nehmen ab. Je länger man sucht, desto schwieriger wird es, sich zu entscheiden. Versteckt der ideale Partner sich nicht doch nebenan? Taucht in einer Woche nicht ein noch besserer auf? Netzplattformen suggerieren Verfügbarkeit und ein potentiell unerschöpfliches Reservoir.

Die Codes des elektronischen Kennenlernens bilden sich erst noch heraus. Das immense und doch kleine Angebot – die Paradoxien der Bildtextdarstellung und fehlenden Körperlichkeit, die Höhen und Tiefen wirklicher Begegnungen nach den ausgetauschten Worten bedürfen neuer Regeln der Verständigung und Vertrauensbildung. Jahrhundertelang begleiteten die wachsamen Augen der anderen den Prozess der Paarbildung, feste Regeln steuerten ihn. Dass sie wegfallen bzw. sich ändern, fördert die Unsicherheit des Individuums und fordert Entschlossenheit. Sowie innere und äußere Mobilität.

Zumindest wenn frau einen Realpartner sucht. Doch sind – und das gehört zum Kern des virtuellen Marktes – allgegenwärtig auch jene, deren Ziel die Plattform selbst ist. Ihre Zahl, heißt es, wächst. Die Attraktivität der garantiert bakterienfreien Anbahnung im Wiederholungsloop ist groß, denn sie verbindet sich mit einem weiteren Szenenfeld dichter und schneller Gesellschaften: Ängste vor Körperlichkeit (und Sterblichkeit) haben Konjunktur.

Alle Lust will Ewigkeit. Und manche Liebe auch. Der E-Traum indes ist anders strukturiert. Wer im Internet datet, nimmt – egal, ob er im realen Leben gebunden ist oder nicht – an der Ewigkeit des Suchens, der Schein-Unabhängigkeit und Schein-Jugend teil. Der elektronische Markt ist unendlich und wird, anders als die Liebe, ohne den anderen erlebt. Modus: Wölfin oder Wolf auf der Pirsch. Ein wenig distanziert, ein wenig heiter, ein wenig allein.

Die Autorin ist Schriftstellerin und hat in Literaturwissenschaften promoviert. Anfang der 1990er Jahre war sie an der Uni München Frauenbeauftragte, Sex- und Genderthemen sind ihre Spezialität. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Vorliebe“ (btb). Sie ist verheiratet und hat eine sechsjährige Tochter.

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