Wie wurde Breivik zum Massenmörder?

Im Gerichtsprozess wurde die Frage gestellt: Ist Anders Breivik zurechnungsfähig? © imago/Zuma Press
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Schon der Buchtitel ist aufschlussreich, enthält er doch die entscheidende Botschaft: „Einer von uns“ hat Åsne Seierstad ihr Buch über das Leben des Anders Breivik genannt. Der Norweger hatte am 22. Juli 2011 mit einem Autobombenanschlag in Oslo zunächst acht Menschen getötet und anschließend auf der Insel Utøya 69 Menschen, davon die Hälfte Jugendliche, in einer wahren Gewaltorgie erschossen. In seinem wirren 1500-Seiten Manifest hatte sich der damals 32-Jährige zuvor zum Kommandeur eines nicht existenten „Knights Templar“-Ordens erklärt. Ein Gutachter-Team attestierte ihm eine Psychose. Und der soll einer von uns sein? Åsne Seierstad sagt: Ja.

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Denn wer Anders Breivik schlicht für verrückt erklärt, so wie es bei Amokläufern in schöner Regelmäßigkeit passiert (zuletzt bei dem Amokpiloten Andreas Lubitz), macht es sich zu leicht. Das gibt die Schuld einer mehr oder weniger zufällig falschen Verdrahtung von Hirnwindungen – anstatt genau hinzuschauen, wer und was diese Tat möglich gemacht hat. Die norwegische Journalistin Seierstad hat sehr genau hingeschaut.

Wer den Attentäter Anders Breivik für verrückt erklärt, macht es sich zu leicht

Die 46-Jährige hat ihr halbes Leben lang als Auslands- und Kriegsreporterin verbracht. Jetzt hat sie ihr Augenmerk auf etwas gerichtet, das in der Debatte entweder gar nicht oder lediglich als Nebenaspekt erwähnt wird: Anders Breivik ist nicht nur ein Rassist und Verächter aller „Multikulturalisten und Kulturmarxisten“. Anders Breivik ist auch ein Frauen- und vor allem ein Feministinnenhasser.

„Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens“, erklärte er. Dem „radikal-feministischen Angriff auf unsere Werte“ und der „psychologischen Kriegsführung gegen den europäischen Mann“ müsse ein Ende gemacht und das „Patriarchat wieder her - gestellt werden“. Frauen müssten „wieder wissen, wo ihr Platz ist“. Der Platz, den Breivik für Frauen in seiner Gesellschaft der Zukunft vorsieht, ist der: Jungfräulichkeit bis zur Ehe, vertraglich zwischen Müttern und Vätern geregelte Kinderaufzucht. Scheidung als strafbarer Vertragsbruch. Die vornehmliche Aufgabe der Frau ist die Kinderaufzucht: In Billiglohnländern würde man Fabriken mit Leihmüttern errichten, jede Leihmutter müsste mindestens zehn blonde und blauäugige Kinder produzieren. Der nächste Schritt sei die Aufzucht von Kindern in künstlichen Gebärmüttern.

Was ist im Leben des Anders Breivik passiert, dass er von der Auslöschung der Frau und der Überhöhung des Mannes träumt? Die Kurzfassung lautet: Eine Kombination aus einer psychisch labilen und überforderten Mutter, einem gleichgültigen und abwesenden Vater sowie einer Jugendhilfe, die das Gefahrenpotenzial zwar erkannte, der aber die Hände gebunden wurden. Eine Serie von Abweisungen durch Familie, Freunde, Frauen. Und schließlich eine Flut von Bildern krankhaft übersteigerter Männlichkeit: in Breiviks pakistanischer Jungsclique, in der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, im Computerspiel „World of Warcraft“, das Breivik exzessiv spielte. Irgendwann beginnt Anders Breivik, sein völliges Unvermögen, mit Abweisung und Kränkungen umzugehen, durch größenwahnsinnige Bilder von sich selbst als Übermensch bzw. Über-Mann zu kompensieren.

Anders Breivik wurde am 13. Februar 1979 im Osloer Aker-Hospital geboren. Das wäre nicht passiert, hätte das norwegische Parlament die Fristenlösung – also den straffreien Abbruch der Schwangerschaft innerhalb der ersten zwölf Wochen – ein Jahr früher beschlossen. Denn seine Mutter Wenche Behring will das Kind nicht. Die Krankenpflegehelferin und alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter kennt den Vater, Jens Breivik, erst ganz kurz. Sie hat den frisch geschiedenen Diplomaten in der Waschküche ihres Hauses kennengelernt. Sie wohnt in einer Einzimmerwohnung zur Miete, er in einer Eigentumswohnung. Wenn die drei Kinder von Jens Breivik zu Besuch sind, erlebt sie ihn als „kühl und distanziert“ mit ihnen.

Seine Mutter war distanziert und kühl, mit den Kindern völlig überfordert

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die 32-Jährige die Schwangerschaft am liebsten beendet hätte: Sie hat kein gutes Verhältnis zu Kindern, denn sie war selbst ein ungeliebtes und zutiefst unglückliches Kind: Ihre Mutter war kurz vor der Geburt an Polio erkrankt, als Wenche auf die Welt kommt. Sie gibt dem Kind die Schuld und erklärt es für „böse“. Der große Bruder malträtiert seine kleine Schwester, die sich aus Angst nur noch draußen herumtreibt.

Mit 17, im Jahr 1963, packt Wenche ihre Sachen und flieht nach Oslo. Sie arbeitet zunächst als Putzhilfe, später als Au pair in Kopenhagen und Straßburg. Womöglich passiert in dieser schwierigen Zeit noch etwas anderes. Sie wird, so beschreibt es die Autorin, später immer wieder ein merkwürdig sexualisiertes Verhalten an den Tag legen.

Nach der Geburt von Anders begleitet Wenche ihren Mann Jens mit den beiden Kindern nach London. Dort wird sie als „Frau an seiner Seite“ regelrecht depressiv. Sie packt schließlich ihre Koffer und geht mit den Kindern zurück nach Oslo. Aber sie ist mit den Kindern völlig überfordert. Die Familie lebt von Sozialhilfe, Nachbarskinder berichten, dass es bei Breiviks „nie Abendessen gibt“. Wenche erkundigt sich beim Jugendamt, ob sie „beide Kinder zur Adoption freigeben kann. Sie wünsche die Kinder zum Teufel“.

Der Junge reagiert mit emotionaler Abschottung. Besorgte Erzieherinnen stellen fest: „Er hatte keine Freunde, konnte sich aber auch kaum selbst beschäftigen. Außerdem weinte er nie, wenn er sich wehtat.“ Der jugendpsychiatrische Dienst, der die Familie begutachtet, stellt bei der Mutter eine „mentale Verfassung nahe an der Persönlichkeitsstörung fest“, über ihr Verhältnis zum Sohn heißt es: „Einerseits bindet sie ihn symbiotisch an sich, andererseits weist sie ihn aggressiv ab. Anders wird zum Opfer, weil sie ihre paranoid-aggressive und sexuelle Angst vor Männern auf ihn projiziert.“ Die Psychologen empfehlen, den Jungen aus der Familie zu nehmen. Er könne „eine ernsthafte Psychopathie entwickeln, wenn sich nichts ändert“. Aber es ändert sich nichts. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Anders Breivik findet keine Freunde, die anderen Kindern finden den verschlossenen Jungen seltsam und beängstigend, auch deshalb, weil er Ratten in Käfigen hält und sie mit spitzen Stiften malträtiert. Schließlich schließt sich Anders einer Gruppe Graffiti-Sprayer an. Er gibt sich den Künstlernamen „Morg“. Morg ist eine Figur aus den Marvel-Comics. Es ist der oberste Scharfrichter des Herrschers Galactus, so kalt und skrupellos, dass er kaltblütig auch die eigenen Leute hinrichtet. Auch aus dieser Gruppe wird er bald wieder ausgeschlossen, weil die anderen seinen Größenwahn nicht ertragen.

Breivik taucht ein in eine Welt der Allmacht und Hyper-Männlichkeit

Zu seiner Geschlechtsidentität hat Breivik ein zwiespältiges Verhältnis: Als junger Mann hatte er häufig Make-up getragen, viele hielten ihn für schwul. Das aber bestritt er vehement. Konfrontierte ihn jemand damit, prahlte er mit seinen (angeblichen oder tatsächlichen?) Bordellbesuchen. Tatsächlich hatten „die Frauen nichts für ihn übrig und er hatte nichts für sie übrig“, schreibt Åsne Seierstad. „Bei einem Freund beschwerte er sich, die norwegischen Frauen seien zu emanzipiert und würden nie gute Hausfrauen werden.“ Aber auch Breiviks Versuch, über ein Dating-Portal eine unemanzipierte Frau namens Natascha aus Weißrussland zu importieren, scheitert. Auch Natascha möchte keine Hausfrau sein – und fliegt zurück nach Minsk.

Immer wieder wird Anders Breivik scheitern: Bei seinen Aktiengeschäften, mit denen er zunächst viel Geld gewinnt und bald wieder verliert. Bei seinem lukrativen Handel mit falschen Diplomen, dem eines Tages die Ermittler auf die Spur kommen. Bei seinem Engagement in der rechtspopulistischen „Fortschrittspartei“.

Im Alter von 27 Jahren muss der abgebrannte Breivik, der sich stets als großer Geschäftsmann inszeniert hatte, wieder bei seiner Mutter einziehen. Nun beginnt er, die Schuldigen für sein Scheitern zu suchen und zu finden: Muslime – und Frauen. Zwei Jahre lang zieht sich der auf ganzer Linie Gescheiterte völlig von der Welt zurück. Er verlässt sein winziges Zimmer so gut wie nie. Er spielt „World of Warcraft“, ein martialisches Kriegsspiel, manchmal 14 Stunden am Stück. Und nun beginnen seine Vorstellungen wahnhafte Züge anzunehmen. Immer tiefer taucht er ein in eine Welt, in der Allmacht und Hyper-Männlichkeit die beherrschenden Größen sind. Und er beginnt, sein Manifest zu schreiben: „2083. Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“.

Bezeichnenderweise wählt Anders Breivik für seinen Bombenanschlag und seine Massenexekution keine Muslime aus. Es wäre in Oslo ein Leichtes gewesen, die Besucher einer Moschee oder eines arabischen Cafés zu erschießen. Aber Anders Breivik, der später vor Gericht behaupten wird, er sei „nie in seinem Leben von irgendjemandem abgewiesen“ worden, ermordet diejenigen, die er genau dieses Verbrechens für schuldig hält: ihn abgewiesen zu haben. Es sind die Jugendlichen im Sommercamp auf Utøya. Und es wäre um ein Haar Gro Harlem Brundtland gewesen, die ehemalige Ministerpräsidentin und mächtige Frau, die in Breiviks Kindheit die Frauenrechte voranbrachte. In seinem Manifest nennt Breivik sie „Landesmörderin“. Brundtlandt hatte am Vormittag auf der Insel eine Ansprache gehalten, Frauenhasser Breivik verpasste sie, weil er sich verspätet hatte, nur knapp.

Richterin Wenche Elisabeth Arntzen erklärt: Breivik ist zurechnungsfähig

Als der Gerichtsprozess gegen den Massenmörder Breivik seinem Ende zugeht, stellt sich die Frage: Ist Anders Breivik zurechnungsfähig? Nein, sagt das psychiatrische Gutachten. Breivik lebe „in seinem eigenen wahnhaften Universum“. Dem schließen sich deutsche Psychiater an. Zum Beispiel der renommierte Forensiker Norbert Leygraf, der erklärt, es handle sich um eine „paranoide Schizophrenie“ und „individuelle Krankheit eines Menschen“.

Das Gericht aber entscheidet anders. Richterin Wenche Elisabeth Arntzen erklärt, Breivik habe „keine Zwangsvorstellungen im klinischen Sinne“. Und sie fügt hinzu: „Ich halte es für prinzipiell bedenklich, Verbrecher von Schuldfähigkeit freizusprechen, indem man ihre Gesinnung für krankhaft erklärt.“

In der Tat: Die Gesinnungen des Anders Breivik, sein Wunsch, die guten alten Verhältnisse wiederherzustellen, ist anschlussfähig. Er schlummert in Millionen Männern. In diesem Sinne ist Anders Breivik tatsächlich „Einer von uns“.

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Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. (Kein & Aber, 26 €. Ü: Frank Zuber + Nora Pröfrock)

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Alice Schwarzer schreibt

Rassismus sticht Sexismus

© imago/Zuma Press
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In der Nacht zum 1. Oktober 2017 ist O. J. Simpson aus einem Gefängnis im US-Staat Nevada entlassen worden. Eine Richterin hatte ihn für „bewaffneten Überfall mit Geiselnahme“ zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt – er kam nach neun Jahren frei.

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Der Raubüberfall war eher ein Schmierentheater gewesen, bei der Verurteilung schwang wohl ein Verbrechen mit, für das der berühmte Football-Spieler nie strafrechtlich belangt worden war: das blutige Massaker am 12. Juni 1994 an Simpsons Ex-Frau Nicole und einem ihrer Bekannten, Ron Goldman. Vor dem Haus in Los Angeles schwammen die Leichen der beiden im Blut, Nicole war fast der Kopf abgetrennt worden. Währenddessen schliefen die beiden Kinder der Simpsons im ersten Stock.

Obwohl die Beweise „erdrückend“ gewesen waren und die Staatsanwältin versicherte, „noch nie in meinem Leben einen Fall mit so einer eindeutigen Beweislage gesehen“ zu haben, sprachen die zwölf Geschworenen O. J. Simpson frei. Der Angeklagte war schwarz – und die Geschworenen waren überwiegend schwarz und weiblich. Die beiden Opfer waren weiß. Eine der Geschworenen erinnert sich heute: „Es ging uns nicht um Simpson. Das Urteil war die Rache für Rodney King. Die Rache für 400 Jahre Unterdrückung.“

Rodney King war das damals letzte Opfer von vielen gewesen bei Zusammenstößen zwischen der Polizei von Las Vegas und der schwarzen Bevölkerung. Er wurde halb totgeschlagen, ohne Folgen für die Täter. Der Tod von Nicole allerdings, nach dem ein schwarzer Mann beschuldigt wurde, eine weiße Frau ermordet zu haben, hatte keinen rassistischen Hintergrund. Er hatte einen sexistischen Hintergrund: Es ging um einen gewalttätigen, besitzergreifenden Mann und seine seit Jahren von ihm misshandelte Frau.

© imago/Zuma Press
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Doch eines ist gleich: Waren bisher immer wieder schuldige Weiße nicht verurteilt worden, so wurde jetzt ein wohl schuldiger Schwarzer nicht verurteilt. Beides auf Kosten der Opfer.

Kurz nach dem Freispruch sprach ein anderes Gericht in einem Zivilverfahren Simpson schuldig. Goldmanns Familie hatte den Prozess angestrengt, das Gericht gestand ihr 33 Millionen Dollar Schmerzensgeld zu. Simpson hat bis heute keinen Cent gezahlt.

Über das nationale Drama hat Ezra Edelman eine überwältigende, siebenstündige Dokumentationsserie gedreht und dafür im Frühjahr einen Oscar erhalten: „O. J. Simpson – Made in America“. Edelman zeigt den Aufstieg und Fall des Nationalhelden und verfügt dabei über ein reiches Originalmaterial: Jeder Karriereschritt von O. J. ist von den Medien und von Amateuren gefilmt worden, bis ins innerste Privatleben hinein; in allen drei Prozessen gegen Simpson durfte im Gerichtssaal lückenlos gefilmt werden; und Beobachter wie (Ex)Freunde waren bereit, sich zu erinnern. An den netten O. J., an den grausamen O. J.

Es entstand ein Sittenbild, das nicht nur eine große Lektion in Rassismus und Sexismus ist, sondern auch eine Lektion in Sachen Rechtsstaat bzw. Recht und Gerechtigkeit. Ausgerechnet Simpson, der nie hatte schwarz sein wollen und mit dem Satz berühmt wurde: „Ich bin nicht schwarz, ich bin O. J. Simpson“, ausgerechnet er ließ sich nun von dem bekannten schwarzen Menschenrechtler Johnnie Cochran Jr. verteidigen.

Cochran setzte alles auf die Rassismus-Karte. Und es gelang ihm tatsächlich, einer breiten Öffentlichkeit weiszumachen, hier stünde kein Verbrechen zur Verhandlung, sondern eine Hautfarbe. Der Verteidiger verführt die zwölf schwarzen Geschworenen trotz überwältigender Gegenbeweise zum Freispruch. Und die Medien zogen mit. Freigesprochen – also unschuldig!

21 Jahre vor der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten von Amerika war der Fall Simpson allerdings nicht die erste große Probe aufs Exempel der Strategie Fake News. Mit dem gefeierten Freispruch von Simpson hatte Amerika ein zweites Mal seine Ehre verloren. Das erste Mal hatte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten seine Ehre bei all den Freisprüchen für Rassisten verloren, die nie verurteilt worden waren für ihre Verbrechen gegen Schwarze.

Der Football-Star O.J. Simpson in Aktion.
Der Football-Star O.J. Simpson in Aktion.

Noch heute, 23 Jahre später, sagen drei von vier schwarzen AmerikanerInnen: Simpson war unschuldig. Und drei von vier weißen AmerikanerInnen sagen: Simpson war schuldig. Und schon 1995 jubelten die meisten Schwarzen (sowie etliche wohlmeinende Weiße beider Geschlechter) nach Simpsons Freispruch. Nur einige weiße Frauen demonstrierten auf der Straße mit einem Schild: „Die Jagdsaison auf Frauen ist eröffnet.“

Simpsons skrupelloser Verteidiger, der geachtete Menschenrechtler Cochran, hatte erfolgreich im Namen des „N-Wortes“ („Nigger“) plädiert und einfach allen Belastungszeugen unterstellt, Rassisten zu sein. Am Ende dieses eines Rechtsstaates unwürdigen Prozesses erklärte die Staatsanwältin resigniert: „Er war so viel größer als wir. Aber ich kenne auch ein N-Wort: Nicole.“ In der Tat, es war – wie bis heute in den meisten Fällen der sexistischen Gewalt – in dem Prozess 1995 um vieles gegangen – nur um eines nicht: das Opfer Nicole.

Lange her? Nicht unbedingt. Die Spannung zwischen Schwarzen und Weißen ist in Amerika seither nicht weniger geworden und auch der Sexismus feiert Urstände. So konnte O. J. Simpson jetzt nur darum früher entlassen werden, weil dem vielfach der Misshandlungen Überführten – seine Frau Nicole hatte über Jahre immer wieder die Polizei alarmiert und gewarnt: „Er wird mich umbringen!“ – im Staat Nevada die langjährigen Misshandlungen seiner Ehefrau beim Bewährungsverfahren nicht angelastet wurden. Die „Häusliche Gewalt“ gehört noch nicht einmal zum Fragenkatalog des Bewährungsausschusses.

Über 13 Millionen AmerikanerInnen verfolgten im Juli im Fernsehen live die Verhandlung über Simpson vor dem ­Bewährungsausschuss. Doch weder die Tatsache, dass sexistische Gewalt vor dem ­Bewährungsausschuss nicht zählt, noch die, dass Simpson noch nicht einmal unter Eid aussagen musste, löste Empörung aus.

Bereits vor seiner Entlassung kündigte Simpson, der als Sportstar auch Filme gedreht hatte, neue Filmpläne an. Finanzielle Sorgen muss er sich auf jeden Fall nicht machen: Die Nationale Football-Liga, für die er 1979 zum letzten Mal antrat, zahlt Simpson eine lebenslange Rente von 25.000 Dollar. Im Monat.

Alice Schwarzer

Ezra Edelman: „O.J. Simpson – Made in America“, Dokumentarfilm 2016

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