Der verlorene Sohn des Genies
Er starb im Irrenhaus und hinterließ bemerkenswerte Gedichte. Seine Mutter pflegte ihn bis zu ihrem Tod, sein Vater wünschte sich dem Sohn, der für ihn kein "ganzer Mensch" war, den frühen Tod. Die Rede ist von Einsteins Sohn Eduard.
Zu Johanna Fantova, seiner letzten Geliebten, sagte der 73-jährige Albert Einstein 1952: "Ich bin ein Magnet für alle Verrückten, und sie interessieren mich auch." Wildfremde Leute schrieben ihm nach Princeton: Wissenschaftler, Kinder, Hobbyforscher, Antisemiten, Verehrerinnen. Wenn ihn ein Brief belustigte, dann legte ihn Einstein in seiner "komischen Mappe" ab. Zu der Zeit hatte er seinen Sohn Eduard seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Auch Briefe schrieb er ihm keine. Bei Eduard war 1933 eine "schwere Schizophrenie" diagnostiziert worden; seine letzten Lebensjahre sollte er in der Zürcher Nervenheilanstalt Burghölzli verbringen.
Warum hatte Vater Einstein jeglichen Kontakt zu seinem kranken Sohn abgebrochen? Seinem Biografen Carl Seelig schrieb er 1954: "Es liegt da eine Hemmung zugrunde, die völlig zu analysieren ich nicht fähig bin. Es spielt aber mit, dass ich glaube, schmerzliche Gefühle verschiedener Art bei ihm zu wecken, dadurch, dass ich irgendwie in Erscheinung trete." Noch eine zweite Ausrede hatte Einstein, der zeitlebens einen kruden genetischen Determinismus verfocht, parat: Das kranke Erbgut stamme nicht von ihm, sondern von Eduards Mutter Mileva. "Die Schizophrenie war in der Familie meiner Frau, wovon ich aber bei meiner Verheiratung nichts wusste." Seinem sechs Jahre älteren Sohn Hans Albert schrieb er sogar: "Wenn ich informiert gewesen wäre, wäre er (Eduard) nicht auf der Welt."
Eduard Einstein wurde am 28. Juli 1910 in Zürich geboren. Sein Vater war damals Extraordinarius für theoretische Physik an der Universität Zürich und trug aus Freude über die Geburt an jenem Sommertag einen ganzen Rucksack voll Spreu für die Wiege den Zürichberg hinauf in seine Wohnung an der Moussonstraße. Eduard und den sechs Jahre älteren Hans Albert nannte Einstein stolz seine beiden "Bärchen".
Zu jenem Zeitpunkt war die Ehe der Einsteins aber bereits zerrüttet. Albert, seit frühester Jugend ein Charmeur und Herzensbrecher, war außerehelichen Affären nicht abgeneigt und machte seine Frau Mileva wiederholt rasend eifersüchtig. Als er sich in seine Cousine Elsa Löwenthal verliebte und ihretwegen 1914 mit seiner Familie nach Berlin zog, war das Schicksal der Ehe besiegelt.
Nach wenigen Monaten fuhr Mileva Einstein-Maric mit den beiden Söhnen zurück in die Schweiz. Umgehend berichtete Albert seiner Geliebten Elsa, die 1919 seine zweite Frau werden sollte: "Die letzte Schlacht ist geschlagen. Gestern ist meine Frau mit den Kindern auf immer abgereist. Ich war an der Bahn und gab ihnen einen letzten Kuss. Ich habe gestern geweint, geheult wie ein kleiner Junge, gestern Nachmittag und gestern Abend, nachdem sie weg waren." Die Trauerphase dauerte freilich nicht länger als ein paar Stunden.
Eduard hingegen, der wenige Tage zuvor vier Jahre alt geworden war, dürfte der tränenreiche Abschied vom Vater in Berlin lange Zeit in schlechter Erinnerung geblieben sein. In den folgenden Jahren, in denen sich die Eltern einen erbitterten Rosenkrieg um Kindererziehung und Unterhaltszahlungen lieferten, war es aber meistens sein älterer Bruder Hans Albert, der mit dem Vater in den offenen Konflikt geriet.
Über den sechsjährigen Eduard schrieb Einstein seinem Freund Michele Besso nach Zürich: "Es ist ausgeschlossen, dass er ein ganzer Mensch wird. Wer weiß, ob es nicht besser wäre, wenn er Abschied nehmen könnte, bevor er das Leben richtig gekannt hat!" Den pessimistischen Vorhersagungen des Vaters zum Trotz überlebte Eduard alle Kinderkrankheiten. Er besuchte die Primarschule in Zürich-Fluntern und ab 1923 die Kantonsschule an der Rämistraße.
Eduard, genannt "Tete", "Tetel" oder auch "Teddy", war ein ausgesprochen guter Schüler, der schon früh große Musikalität und literarische Interessen an den Tag legte. Mit sechs las er Hauffs Märchen, mit neun die deutschen Klassiker. Während seiner Gymnasialzeit schrieb er Spottgedichte und Aphorismen, von denen einige später veröffentlicht wurden, unter anderem im Nebelspalter. Ein Gedicht des im Unterricht oft gelangweilten Gymnasiasten trägt den Titel "Idyll": Blödigkeit liegt auf der Flur,/Trostlos brütet die Natur./Und es frägt sich bang die Herde,/Ob es niemals zwölf Uhr werde./ Nur der Hirte frägt es nicht,/Doch er spricht und spricht und spricht.
Eduards Mutter war zwar stets besorgt, ihr "Tete" könnte sich überanstrengen, verfolgte aber die Entwicklung ihres ausgesprochen begabten Jüngsten mit viel Anteilnahme. Über den Elfjährigen schrieb sie einer Freundin: "Tete zeigt immer mehr Freude und Begabung für Musik. In der Schule lernt er ausgezeichnet und ich muss nur immer aufpassen dass er nicht zu viel thut und sich auch etwas Ruhe gönnt." Zwei Jahre später erfuhr dieselbe Vertraute: "Tete hat sich in der neuesten Zeit als Dichter entpuppt. Bis jetzt schwebte ihm hauptsächlich Busch als Vorbild vor, jetzt fängt er sogar an in das lyrische Geschäft überzuschwenken. Ich bin begierig was aus ihm noch wird."
Über den in seiner Kindheit etwas dicklichen, inzwischen aber recht gut aussehenden und bei Klassenkameraden sehr beliebten Maturanden schrieb die stolze Mutter: "Tete hat sich sehr hübsch entwickelt [...]. Er ist mehr oder weniger entschlossen Medizin zu studieren und zwar ist es die Psychiatrie, die ihn dabei interessiert."
Vater Einstein war vom Berufswunsch seines Sohnes alles andere als begeistert. Im Gegensatz zu Eduard, über dessen Bett ein Bild von Sigmund Freud prangte und der einem Schulkameraden bereits mit fünfzehn "kurz und bündig" erklären konnte, zu welchen "wesentlichen Erkenntnissen" der berühmte Wiener Nervenarzt gelangt war, stand Einstein der Psychoanalyse zeitlebens ausgesprochen kritisch gegenüber. "Freud war sehr gescheit, aber vieles in seiner Theorie halte ich für dummes Zeug und deswegen bin ich dagegen, dass Du Dich analysieren lässt", sagte er seiner Geliebten Johanna Fantova zwei Jahre vor seinem Tod.
Anfang 1930 geriet der 19jährige Eduard Einstein wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte in eine schwere psychische Krise. Von seinem inzwischen weltberühmten Vater – 1922 hatte Einstein den Nobelpreis bekommen – erhielt er in einem undatierten Brief den gutgemeinten Rat: "Die Beschäftigung mit dem anderen Geschlecht ist so erfreulich wie nötig, aber sie darf nicht der Haupttenor des Lebens werden, sonst ist man verloren." Im Februar 1930 ließ Einstein seinen Sohn wissen, eigentlich habe er sich über seine "Krankheits-Erscheinungen" zu freuen, denn man könne "nichts so gut lernen, als wenn man es selbst erlebt. Wenn Du also die Sache überwindest, wirst Du die Aussicht haben, ein besonders guter Seelenarzt zu werden." Und, tröstend: "Ich bin zwar auch meschugge, aber nur auf meine Art."
Statt die Krise zu überwinden, erlitt Eduard Einstein drei Monate später einen Zusammenbruch, von dem er sich nie wieder erholte. Eduard gab sein Medizinstudium auf und kapselte sich in der Wohnung seiner Mutter an der Huttenstraße immer mehr von der Umwelt ab. Zwei Jahre nach seinem Zusammenbruch schrieb er einer Freundin: "Seit 3 Monaten verließ ich, obwohl leiblich gesund, kaum mein Zimmer, ging an keine Zerstreuung, keine Gesellschaft, sah fast niemand, sondern lebte ganz versunken und nach psychoanalytischen Lehransätzen. Man muss zeitweise derartige Perioden einschalten, besonders, wenn einem vorher alles schief gegangen ist." Im Selbststudium habe er sich "in der Psychologie eine Unmenge Kenntnisse" angeeignet. Außerdem habe er viel Klavier gespielt und gelesen – Bach, Mozart und Schubert; Goethe, Shakespeare, Hofmannsthal und Hermann Hesse.
Nach Eduards Zusammenbruch kam Einstein 1930 zweimal zu Kurzbesuchen in die Schweiz. Danach ließ er es bei unverbindlichen Einladungen nach Berlin bewenden. "Ich habe das Gefühl, dass niemand außer mir Dir unter diesen Umständen gut tun kann", schrieb er ihm – wohlwissend, dass der immer zurückgezogener lebende Eduard kaum von sich aus zu ihm kommen würde. Der inständigen Bitte seines Freundes Michele Besso, Eduard für ein halbes Jahr zu sich zu nehmen und ihn mitzunehmen "auf eine Deiner großen Reisen", wich Einstein aus. Er habe Eduard fürs nächste Jahr nach Princeton eingeladen, erklärte Einstein im Oktober 1932.
Im Herbst 1932 wurde Eduard vorübergehend, Anfang 1933 für unbestimmte Zeit ins Burghölzli eingeliefert. In seiner Krankengeschichte heißt es, der Patient habe sich damals "ausschließlich in psychoanalytischer Theorie [ergangen]. Er habe eben, speziell durch seine Liebesbeziehung zu einer älteren Frau, die ihn zu spät und unter falschen psychologischen Prämissen zum Coitus zu sich kommen ließ, verdrängt, habe Angst etc. Das müsse er jetzt abreagieren. Brauchte eine von Metaphern geschwängerte, wirre Sprache, hielt aber stur und unbelehrbar an seinen Theorien fest."
Als Eduard Einstein ins Burghölzli eingeliefert wurde, stand die Klinik unter der Leitung von Hans Wolfgang Maier. Er war von der Erblichkeit von Geisteskrankheiten überzeugt – eine Einstellung, die Einstein teilte. Wie schon bei der vermeintlichen Tuberkulose Eduards stand für ihn fest, dass die psychischen Probleme seines Sohnes eine direkte Folge von Milevas minderwertigem Erbgut waren.
Zum letzten Mal sah Albert Einstein seinen jüngeren Sohn im Mai 1933, kurz vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten. Das Treffen fand im Burghölzli statt und scheint dem Vater jegliche Hoffnung auf eine Genesung Eduards genommen zu haben. Wenig später schrieb Einsteins zweite Frau Elsa dem Schweizer Botschafter in Brüssel, Eduard müsse "dauernd in der Heilanstalt Burghölzli in Zürich leben". Mit dieser Vorstellung dürfte Einstein kein Problem gehabt haben, denn die Idee, ein aus der Norm gefallenes Familienmitglied für immer in eine Anstalt einzuweisen, kam ihm 1933 nicht zum ersten Mal. Im Vorfeld seiner Scheidung hatte er 1918 einer Zürcher Bekannten geschrieben, seiner Ansicht nach wäre es das Beste, wenn die ebenfalls von Krankheiten geplagte Mileva, "welche für den Rest ihres Lebens unfähig bleiben wird, einen Haushalt zu führen, [...] dauernd in einem Sanatorium versorgt" würde.
Dass Eduard 1933 schon bald wieder aus dem Burghölzli entlassen werden konnte, lag an seiner Mutter. Mit Hilfe eines Pflegers umsorgte sie Eduard in den folgenden Jahren zu Hause und ließ nichts unversucht, ihm zu helfen. So willigte sie in die Durchführung von Insulin- und Elektroschocktherapien ein, von denen sich die damalige Medizin reelle Heilungschancen für Schizophrene versprach. Wie bei den meisten Patienten hatten diese mit fürchterlichen Schmerzen und beträchtlichen Nebenwirkungen verbundenen Therapien aber auch bei Eduard Einstein nicht den gewünschten Effekt – im Gegenteil. 1945 vermerkt seine Krankengeschichte einen ersten Selbstmordversuch.
Nach dem Tod seiner Mutter 1948 wurde Eduard entmündigt und bei verschiedenen Zürcher Pflegefamilien untergebracht. Obwohl Einstein mit seinem Sohn nicht korrespondierte, war er aufgrund regelmäßiger Berichte der städtischen Vormundschaftsbehörde über dessen Zustand recht gut informiert. Dennoch freute er sich, als ihn sein Zürcher Biograf Carl Seelig 1952 fragte, ob er mit Eduard in Kontakt treten dürfe: "Ihr freundliches Anerbieten, sich um meinen Sohn zu kümmern, begrüße ich außerordentlich. Er war frühreif, sensitiv und begabt und ist mit 18 oder 19 Jahren schizophren geworden. Sein Fall ist insofern relativ milde, als er die meiste Zeit außerhalb einer Anstalt zubringen kann."
Carl Seelig war der Vormund des seit 1929 in Nervenheilanstalten lebenden Schriftstellers Robert Walser und somit für Vater und Sohn Einstein ein Glücksfall. Seeligs Anerbieten, auch Eduards Vormundschaft zu übernehmen, schlug Einstein jedoch aus – bedankte sich bei seinem Biografen aber immer wieder für die "verständnisvolle Beschäftigung mit meinem kranken Sohn".
Carl Seelig unterhielt sich mit Eduard über Kunst und Literatur und ging mit ihm ins Theater. Noch lieber unternahm er mit ihm wie mit Robert Walser lange Spaziergänge. Vater Einstein schrieb er: "Ich habe auch bei anderen Geisteskranken die Beobachtung gemacht, dass sie von den Psychiatern meist falsch das heißt zuviel als Kranke behandelt werden. Ich tue immer, als ob sie normal wären und habe herausgefunden, dass sie sich geistig und seelisch nirgends so öffnen wie auf längeren Spaziergängen. Im Zimmer werden sie immer eigensinnig und widerspenstig."
Zehn Monate nachdem seine Schwester Maja im Juni 1951 in Princeton gestorben war, schrieb Einstein an Seelig: "Er (Eduard) bildet das nahezu einzige menschliche Problem, das ungelöst bleibt. Die andern sind nicht durch mich, sondern durch die Hand des Todes gelöst worden." Am 18. April 1955 starb Einstein in Princeton.
Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte der Sohn von Einstein im Burghölzli als Patient dritter Klasse. Am 26. Oktober 1965 starb er 55-jährig in der Klinik und wurde auf dem Friedhof Hönggerberg beigesetzt. Sein Grab ist längst aufgehoben. Einzig im Friedhofsregister findet sich noch ein Hinweis darauf, dass "Einstein, Eduard (Sohn v. Prof. Einstein)" vor fast 40 Jahren im Grab Nummer 757 beigesetzt worden ist. In Eduards Krankengeschichte haben sich mehrere Gedichte erhalten, darunter auch dieses:
Einsames Ende/Ahnt, wie ich einsam sterbe,/Lautlos schwinde/Und in keine Rinde mein Dasein kerbe/Was ich gesät,/ Haben die Winde leer verweht./Was ich gedämmt, hat schon geschwinde/Der Bach fortgeschwemmt./Ahnt, wie ich einsam sterbe,/Und wie die Scham mir meinen Halt,/Mir alles nahm./
Der Autor, 33, ist Historiker und lebt in Zürich. Er veröffentlichte: 'Das verschmähte Genie. Albert Einstein und die Schweiz' (DVA). Der Text erschien zuerst in der Weltwoche.