„Demokratie ist, was das Volk will“ sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Beerdigung von „Märtyrern“ zwei Tage nach der Niederschlagung des Putsches. Und das Volk wolle für die Verräter nun mal die Todesstrafe.
Frauen ohne
Kopftuch werden
beschimpft:
Ihr seid unser
Verderben!
Was seit dem „Putsch“ in der Türkei vor sich geht, scheint wie eine lange vorbereitete „Nacht der langen Messer“. Erdogans Anhänger in Deutschland und selbst der deutsche Außenminister Steinmeier sprechen von dem „Mut der Demokraten“, sich den Putschisten entgegengestellt zu haben. Welch eine Verdrehung von Tatsachen. Erdogan hat in dieser Nacht die Menschen auf die Straße geholt. Dort regiert seither der Mob.
Täglich werden, von der Regierung initiiert und der Verwaltung gefördert, auf öffentlichen Plätzen „Zafer“, Siegesfeiern, abgehalten. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren kostenlos, um die Menschen zu den Versammlungen zu bringen. Auf dem Taksim-Platz, wo sich sonst die Säkularen und Demokraten versammeln, rufen nun die Verschleierten „Allah Akbar“, den Schlachtruf der Islamisten und Terroristen.
Frauen, die sich öffentlich ohne Kopftuch zeigen, werden beschimpft. „Ihr seid unser Verderben“, ruft man ihnen zu. Sie wagen sich nicht mehr auf die Straße.
Erdogans AKP hatte schon am 29. Mai Zehntausende mobilisiert, um die „563. Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen“ zu feiern. Selbst als Sieger über die Christen machte der „Sultan“, der wie ein moderner Prophet im Helikopter zur Veranstaltung einschwebte, sich und seine Glaubensbrüder noch zum Opfer: “Istanbul ist vor 563 Jahren erobert worden, aber man versucht immer noch damit abzurechnen“ rief er. „Solange der Muezzin ruft, werden sie versuchen, sich an uns zu rächen.“
Es ist eine fixe Idee des Islam, sich immer zum Opfer zu machen, und die islamische Bewegung glaubt, nur Gewalt würde ihr zu Anerkennung verhelfen.
Erdogans Botschaft in allen Reden ist eine dichotomische Weltsicht, die die Welt in Gläubige und Ungläubige teilt, in Anhänger und Gegner. Politik als der Kampf des guten Islam gegen die böse Welt. Und das Prinzip: “Wer mich nicht liebt, soll mich fürchten.“ Systematisch erklärt er alle zu Gegnern und zu Terroristen, die seinem Diktat nicht folgen.
Der „Putsch“
war für
Erdogan ein
Geschenk Allahs.
Der „Putsch“ war nach Erdogans eigenen Worten “ein Geschenk Allahs“. Aber nicht nur, weil er nun mit seinen Gegnern abrechnen kann, sondern weil er so auch kaschieren kann, dass seine Politik in Wahrheit am Ende ist. Der gescheiterte Versuch, Assad mithilfe des Islamischen Staates zu stürzen, der daraus resultierende Konflikt mit Russland sowie der Bürgerkrieg gegen die Kurden haben Folgen. Die Tourismusindustrie liegt darnieder und ein finanzieller Gau zeichnet sich ab. Die Türkei ist bis über die Ohren verschuldet und von internationalen Investoren abhängig.
Erdogan sieht offenbar das bevorstehende wirtschaftliche Disaster und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Er schickte Versöhnungszeichen Richtung Israel und entschuldigte sich bei der Familie der russischen Piloten, die an der Grenze zu Syrien abgeschossen worden waren. Er hoffte, damit Putin umzustimmen, damit der wieder türkisches Gemüse ins Land und Touristen nach Antalya reisen lässt.
Die Reaktion der Opposition war entlarvend. Der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu klagte: „Erdogan hat den Stolz des türkischen Volkes verspielt“. Und der Vorsitzende der nationalistischen Partei MHP, Bahceli, tönte: „Ich hätte Russland den Krieg erklärt!“ Die Sorgen des Volkes interessierten diese Opposition nicht. Sie sind dadurch mit ihren gestrigen Vorstellungen keine Gefahr für die AKP. Auch nach dem Putsch bleibt diese Opposition bedeutungslos.
Alles an den Ereignissen des 15. Juli spricht aus meiner Sicht dafür, dass der allgegenwärtige Geheimdienst angezettelt hat, dass einige Obristen den Aufstand planten. Der Putsch war entweder inszeniert oder von Beginn an verraten. Man hat die Aufständigen von Anbeginn an als schwach eingeschätzt und sie gewähren lassen - und in Kauf genommen, dass ahnungslose Soldaten und BürgerInnen dabei umkommen werden.
Erdogan hat
sehr große
wirtschaftliche
Probleme.
Nachdem die AKP die Kurden wieder zu Terroristen gemacht hatte und sich mit ihnen im Krieg befindet und die säkulare Opposition mundtot gemacht wurde, blieb als Gegner nur noch der unsichtbare Feind in den eigenen Reihen: die Fethullahcis.
Der in Amerika lebende Prediger Fethullah Gülen ist wie Erdogan ein Islamist. Seine Hizmet-Bewegung hat über Jahrzehnte konspirativ den „Marsch durch die Organisationen“ betrieben. Seine mehrheitlich gut ausgebildeten Anhänger – Gülen setzt auf dem Weg zur Macht auf Bildung – haben sich durch ihr Verhalten selbst in die Rolle der „Verräter“ manövriert. Seit Jahrzehnten arbeiten sie konspirativ wie ein islamischer „Opus Dei“, verleugnen ihre Zugehörigkeit zu Gülen, tarnen ihre Vereine und verfolgen eine unbekannte Agenda. Weil Gülens Bewegung sich nicht dem demokratischen und öffentlichen Disput gestellt hat, ist es jetzt umso leichter, sie als Putschisten zu diffamieren.
Dass Erdogan jetzt Gülens Auslieferung von den USA fordert, gehört zu den Irrationalitäten, die vermuten lassen, dass der türkische Präsident die Verbindung zur Realität verloren hat. Man wird die alten Verschwörungstheorien wieder aufleben lassen, wonach die USA der Gral alles Bösen ist.
Erdogan verfolgt den Plan, nicht nur Gülen Gefolgsleute, sondern alle Gegner zu vernichten. Tausende Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Polizisten, Professoren und Verwaltungsbeamte wurden aufgrund von offensichtlich vorbereiteten Listen entlassen. Zehntausende bekamen Urlaubssperren verhängt, sie müssen sich an ihren Arbeitsplätzen einfinden oder stehen unter Hausarrest. Es wurde angekündigt, dass alle überprüft werden.
Was will man prüfen? Die Gesinnung der Menschen, ihr Verhältnis zum Präsidenten, ob sie in die Moschee gehen oder ob die Frauen Kopftuch tragen? Veranstaltet man einen landesweiten Muslimtest?
Offenbar ist der Plan, dass man mögliche Oppositionelle nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch ruinieren will, in dem man sie in die Arbeitslosigkeit treibt.
Für Europäer ist dies schwer nachvollziehbar, weil sie nicht so rachsüchtig sind.
Die Türkei wird
die Flüchtlinge
integrieren –
als gute Wähler
Die Europäer treibt verständlicherweise auch um, ob die Türkei den Flüchtlingsdeal einhalten wird. Vielleicht schickt Erdogan aus Rache ein paar Zehntausend Syrer nach Norden. Im Prinzip wird er aber die fast drei Millionen Syrer, die zurzeit in der Türkei sind, einbürgern. Denn diese Flüchtlinge sind mehrheitlich strenggläubige sunnitische Muslime, also potentielle Wähler seiner AKP. Und Europa wird das finanzieren – und die gesäuberte türkische Armee die Ansiedlung und die Wahlen bewachen.
Um Kritik aus Europa werden Erdogan und seine Mannen sich nicht kümmern. Der Junge aus dem Hafenviertel, der Straßenfußballer und fanatische Islamist, der es zu Palästen in Ankara und Istanbul gebracht hat, ist offenbar bereit, „das Königsopfer seiner Seele“ zu bringen (Machiavelli). Er ist bereit, böse zu handeln.
Necla Kelek