Alice Schwarzer schreibt

Gebärstreik

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Ein "Zurück zur Familie" forderte "Der Spiegel" in seiner nostalgisch braun getönten Titelgeschichte und beklagte über viele Seiten die "Todeskurve des Volkes", weil "kein Segen mehr über der Familie" liege. Das Hamburger Magazin steht nicht allein mit seiner Sorge um die Zukunft der Deutschen. "Die Deutschen sterben aus", wenn es so weitergeht, klagen die Medien seit Monaten. Bei 1,35 statistischen Durchschnittskindern pro Frau würde die "deutschstämmige Bevölkerung" bis zum Jahr 2050 um fast ein Drittel geschrumpft sein.

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Auslöser des Alarms waren Müllers und ihre zehn Kinder, deren Verfassungsklage wegen der Benachteiligung von Familien mit Kindern die Karlsruher RichterInnen in ihrer Mehrheit Recht gegeben hatten. Nun muss Vater Staat sich etwas überlegen.

Der Kinderschutzbund weiß auch schon Rat: Sofortige Anhebung des Kindergeldes auf 500 DM! Und Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof - mit Hausfrau und vier Kindern - möchte noch einen drauflegen: Er will das Kindergeld bei Bedarf auf bis zu 1.000 DM erhöhen und plädiert für eine kräftige Anhebung der Rente für Eltern: Pro Kind soll so viel angerechnet werden, als würde "der Erziehende 2.000 DM monatlich in die Sozialversicherung einzahlen", wie die "Süddeutsche Zeitung" zustimmend vermeldete.

Nur - "der" Erziehende ist in den meisten Fällen eine "die". Und dass Frauen nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas immer weniger Kinder kriegen, hat Gründe, die nicht mit einem erhöhten Taschengeld für die Familie zu beheben sind. Ausgerechnet la Mamma, einst bekannt für ihre stattliche Kinderzahl, bekommt heute die wenigsten Kinder: Italien meldet 1,22 Kinder pro Frau, und Spanien, das Schlusslicht, nur noch 1,14. Die deutsche Gebär(un)lust liegt an drittunterster Stelle der europäischen Achterskala.

Wäre das anders, wenn Frauen weniger berufstätig wären? Nein. Im Gegenteil! Gerade die Hausfrauen bekommen die wenigsten Kinder. Die Euroskala der Relation zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenrate enthüllt eine Sensation: Je berufstätiger die Frauen sind, um so mehr Kinder bekommen sie - und je weniger berufstätig sie sind, um so weniger Kinder. So haben die berufstätigsten Europäerinnen, die Norwegerinnen, auch die meisten Kinder (1,86 Prozent). Ihnen auf den Fuß folgen die übrigen Skandinavierinnen, sodann die Französinnen an dritter Stelle der Berufsskala mit 1,72 Prozent Kindern.

Wie ist das zu erklären? Ganz einfach: In Ländern mit einer hohen Frauenerwerbstätigkeit haben Staat und Wirtschaft auch eine besonders kinderfreundliche Politik - von Kinderkrippen bis Ganztagsschulen - sowie eine erhöhte Akzeptanz von Vätern als Mütter. Die Tatsache, dass Frauen nicht auf Beruf und Karriere verzichten müssen, nur weil sie Mutter werden, fördert also offensichtlich die Gebärlust.

Dabei steigt die Berufstätigkeit der Europäerinnen in allen Ländern unaufhaltsam, egal wie gut oder schlecht Vater Staat für seinen Nachwuchs sorgt. Auch in Deutschland, wo 43 Prozent aller Berufstätigen weiblich sind, sind heute zwei von drei Müttern minderjähriger Kinder erwerbstätig, allerdings überwiegend Teilzeit. Vorwiegend kinderlos sind die Karrierefrauen - im Gegensatz zu den Karrieremännern. Das ist nicht neu. So zeigte schon in den 80er Jahren eine Studie der FH Darmstadt, dass Männer in Spitzenpositionen zu 97 Prozent verheiratet bzw. fest verbandelt, Frauen in diesen Positionen jedoch zu 40 Prozent kinder- und beziehungslos sind.

"Der Versuch, mit materiellen Anreizen Bevölkerungspolitik zu betreiben statt Familienpolitik, muss erfolglos bleiben", spottet SPD-Familienpolitikerin Renate Schmidt, selbst frühe Karrierefrau und Mutter - und rennt dabei auch in der eigenen Partei keineswegs nur offene Türen ein.

Es hat lang gedauert, rund 20 Jahre, bis es den Politikern aller Fraktionen endlich dämmert, dass sie umdenken und Frauenpolitik machen müssen statt Bevölkerungspolitik.

Die Frauen sind unterdessen in einen stillen Gebärstreik getreten. Innerhalb einer einzigen Generation ist die Kinderfreudigkeit der deutschen Frauen auf weniger als die Hälfte gesunken. Inzwischen ist jede dritte 35-Jährige kinderlos - vor 20 Jahren war es nur jede achte. Und die Gründe sind eben nicht durch eine Verbesserung des Familienbudgets via Kindergeld zu beheben. Sie liegen tiefer.

Hauptgrund für die Gebärunlust der deutschen Frauen ist, dass die viel beschworene "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" nichts ist als eine Chimäre. Zumindest für die Mütter, die nicht länger bereit sind, auf ihre Hälfte der Welt zu verzichten, nur weil ihnen Väter und Vater Staat noch immer das ganze Haus aufbürden. Entweder Gesellschaft und Väter übernehmen endlich mit Verantwortung für die Kinder - oder aber sie müssen in Zukunft auf den Kindersegen verzichten.

Das erkennen inzwischen auch die Experten. Zähneknirschend. Ein vom Bundestag bei dem Politologen Dieter Oberndörfer in Auftrag gegebene Untersuchung über den "demographischen Wandel" schlug im April ein wie eine Bombe. Denn die Schlüsse, die der Forscher aus seiner Untersuchung zog, sind eindeutig: Er fordert die "innovative Geburtenförderung". Darunter versteht der Experte "massive Investitionen" zum Aufbau eines kostenlosen "ganztägigen Betreuungssystems" für die Kinder berufstätiger Eltern; also endlich ausreichend Krippen, Kindergärten und Ganztagsschulen. Sowie flexible Arbeitszeiten für Mütter und Väter.

Noch sind wir gerade in Deutschland weit entfernt von derart kinder- und frauen- freundlichen Verhältnissen. Deutschland ist das Kinder-Schlusslicht in Europa - und bezahlt jetzt den Preis dafür. Nur in Ostdeutschland gibt es partiell (und traditionell) ausreichend Krippen und Kindergärten. Dort hat jedes dritte Kind einen Krippenplatz, im Westen nur jedes 30. Und Ganztagsschulen, die in fast allen Nachbarländern die Norm sind, gibt es in Deutschland nur für jedeN 20. SchülerIn.

Was nicht nur ökonomische, sondern auch und wohl vor allem ideologische Gründe hat bzw. hatte. Denn die von den Konservativen einst als Teufelswerk abgelehnte Ganztagsschule erfreut sich inzwischen allgemeiner Akzeptanz. Selbst CSU-Chef Stoiber schickt seine Kinder auf eine solche. Lange jedoch war die gesellschaftliche Kinderbetreuung vor allem in Westdeutschland stark verpönt gewesen. Erst die Wiedervereinigung brachte, trotz aller Schwarzmalerei der roten Krippen und Horte, die Fronten so richtig ins Rutschen.

"Die Mutter gehört zum Kind." Dieses Gebot war hierzulande besonders tief verwurzelt und ein Erbe der Mutter-und-Kind-Ideologie der Nazis. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass "die deutsche Mutter" ihr Heil im Heim zu suchen hatte und ihre höchste Ehre das Mutterkreuz war. Obwohl die Frauengeneration in Kriegszeiten "ihren Mann" stehen musste, hat sie diese Prägung an ihre Töchter weitergegeben, als doppelte Botschaft: Stehe deinen Mann - und bleibe ganz Frau. Und es ist kein Zufall, dass es ihre Töchter sind, die irgendwann auf die Barrikaden gingen.

Als dann die Emanzipation so richtig hohe Wellen schlug, ließen sich die Konservativen die (kostenlose) "Wiederaufwertung von Familie und Mutterschaft" einfallen - und niemand widersprach, auch SPD und Grüne nicht. 1986 wurde dann das Gesetz verabschiedet, das zur ganz großen Frauenfalle wurde: der Erziehungsurlaub. Nach einer Gesetzesreform der rotgrünen Regierung in diesem Jahr ist dieser so genannte "Urlaub" wenigstens zur "Elternzeit" befördert worden.

Sage und schreibe 96 Prozent aller angestellten Frauen nahmen 1999 diesen Erziehungsurlaub. 99 Prozent dieser Erziehungsurlaubenden sind Mütter - und nur 3 Prozent Väter (2 Prozent teilen also mit den Müttern). Da hätte man den Erziehungsurlaub gleich Mütterurlaub nennen können.

Die Elternzeit, wie es jetzt fortschrittlich heißt, geht über drei Jahre. Das Erziehungsgeld beträgt ein Taschengeld von 600 DM im Monat. Neuerdings ist es so, dass Eltern in Deutschland das dritte Jahr auch später, bis spätestens zum achten Lebensjahr des Kindes, nehmen können. Oder statt drei Jahren zu monatlich 600 DM ein Jahr zu monatlich 900 DM. Auch können Eltern jetzt nebenher bis zu 30 Wochenstunden arbeiten. Es könnte also theoretisch auf eine einjährige Reduktion der Berufsarbeitszeit beider Eltern hinauslaufen, aufgestockt durch 900 Mark im Monat - was ideal wäre.

Es ist aber nicht so. 70 Prozent der Mütter in der Babypause pausieren beruflich für drei Jahre und länger. So manche unter ihnen flüchtet vermutlich auch ins Haus, weil sie sich den Kopf an der gläsernen Decke wund gestoßen hat - und nun hofft, nach der Kinderpause wieder frisch gestärkt einsteigen zu können. Nur rennt sie sich in der Zwischenzeit im Haus den Kopf an der gläsernen Wand ein - auf deren anderer Seite der eigene Mann steht.

Was sie noch mehr zermürbt und entmutigt als zuvor. Im Beruf hat sie den Anschluss verloren, und er hat Karriere gemacht. Untersuchungen ergeben: Verheiratete Männer machen den ersten Karrieresprung in der Babypause ihrer Frauen. Und seinen Sprung und ihren Knick können die Mütter lebenslang nicht mehr wettmachen.

Die Bereitschaft, im Haushalt mitzumachen, sinkt bei jungen Männern nach der Eheschließung abrupt auf die Hälfte (Allensbach 1999). Ist ein Kind da, teilt sich nur noch jeder zehnte Mann die Hausarbeit partnerschaftlich (Bamberger Ehepaar-Panel). Und die häufigsten Ehestreits und Scheidungen toben drei bis vier Jahre nach der Geburt des ersten Kindes (LBS-Studie 2000).

Kommt noch ein Kind, wird die Sache quasi ausweglos für die Mutter. Was zu-nächst nur ein Ausflug in die Familienwelt werden sollte, ist dann der Abschied von der Berufswelt. Das zweite Kind wird in den meisten Fällen zur endgültigen Frauenfalle. Hat bei einem Kind noch jeder zehnte Mann die Arbeit "partnerschaftlich" geteilt, so tut es bei zwei Kindern nur noch jeder 14. Und ab dem dritten müssen die meisten Frauen ganz passen.

Hinzu kommt, dass das Muttersein heute aufwendiger ist denn je zuvor. Der Backlash beschert uns einen beispiellosen Mutterkult. Auch das Stillen ist bezeichnenderweise wieder in Mode. Frauen dürfen zwar berufstätig sein, aber sie sollen auch Mütter sein, und zwar gute Mütter. Rund-um-die-Uhr-Mütter. Die moderne Mutter greift auch tagsüber im Büro oder abends im Restaurant jederzeit zum Handy, wenn die lieben Kleinen anrufen. Ihr chronisch schlechtes Gewissen treibt sie in die permanente Verfügbarkeit. Doch dieses Gewissen kann mit nichts beruhigt werden: Denn keine Frau kann eine so gute Mutter sein, wie sie es heutzutage sein soll.

Die moderne Rund-um-die-Uhr-Mutterschaft macht nicht nur die Frauen atemlos, sondern entmündigt auch die Väter - und sie verblödet die Kinder: Diese Kinder werden nicht selten durch die "Übermutterung" an eigenen Erfahrungen und lebendigem Lernen gehindert.

Und die Väter? Ist es wirklich so, wie die Frauenforscherinnen Cheryl Benard und Edit Schlaffer spotten: "Bei der Geburt atmen sie noch mit, aber dann geht ihnen schnell die Luft aus." Ja, es ist so. "Von Wandel keine Spur", konstatieren lakonisch die Soziologen Norbert F. Schneider und Harald Rost in einer Studie zu der Frage "Warum ist Erziehungsurlaub weiblich?".

Sie haben herausgefunden, dass es trotz Berufstätigkeit der Mütter bei den meisten Paaren noch nicht einmal eine Diskussion darüber gibt, wer den Erziehungsurlaub nimmt. Bei der Befragung von 555 Vätern stellten sie fest, dass sich "die meisten dieser Männer niemals ernst- haft mit der Frage auseinander gesetzt" hatten. Sie haben es offensichtlich auch nicht gemusst, weil die Frauen es nicht gefordert hatten. Rund jeder dritte Mann gab zu, er habe "nie einen Gedanken daran verschwendet".

Und die sympathische männliche Minderheit, die dennoch daran denkt, ja sogar handelt und sich manchmal gar auf einen Rollentausch einlässt (jeder 50.)? Diese Väter haben es nicht leicht. Der Freundeskreis, stellten die Soziologen fest, findet Väter im Babyurlaub meist gut, vor allem die Frauen. Widerstand kommt von den Familien sowie von Kollegen und Vorgesetzten. Dem setzt zum Beispiel Frauenministerin Christine Bergmann jetzt die Goodwill-Kampagne "Mehr Spielraum für Väter" entgegen. Und auch der Kanzler ist, so verlautet aus gewöhnlich gut informierten Kreisen, alles andere als glücklich über die Erhöhung des Kindergeldes um 30 DM. Auch er weiß, dass mehr geschehen muss.

Die Familienforscher Schneider und Rost ziehen den Schluss: "Solange die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit gesellschaftspolitisch als privat und nicht als strukturell zu lösendes Problem betrachtet wird, wird sich prinzipiell an der jetzigen Situation wenig ändern." Doch Vater Staat ist mindestens so unwillig wie Papa privat. Der löblichen Hoffnung einiger weniger Politikerinnen, die Elternzeit in Zukunft so zu gestalten, dass sie zwingend von Müttern und Vätern genommen werden muss (weil sie sonst verfällt), wurde die Spitze gebrochen. Wer die Elternzeit nimmt, das bleibt auch in Zukunft eine Frage des "gegenseitigen Einvernehmens". Resultat bekannt.

Jetzt aber kriegt Vater Staat nicht nur Dampf von den HüterInnen der Verfassung, sondern auch von den Herren des Geldes. Die Wirtschaft kann nicht länger auf die inzwischen gut ausgebildeten und hoch motivierten Frauen verzichten. Und wenn es schon sein muss, dann nehmen sie lieber deutsche Frauen statt Ausländer. Die Wirtschaft geht darum jetzt in die Offensive, um die gefürchtete Doppelbelastung für die umworbenen Frauen verkraftbarer zu machen.

Wir können "das Thema Familie heute nicht mehr außen vor lassen", weiß Barbara David, Projektmanagerin für Chancengleichheit bei der Commerzbank. "Um unseren Bedarf decken zu können, müssen wir für alle potenziellen Bewerber ein attraktiver Arbeitgeber sein", bestätigt auch der Beauftragte für Chancengleichheit der Lufthansa, Gerhard Weiß, dem "Spiegel". Weiß: "Wir ermuntern die Männer zur bekennenden Vaterschaft." Na denn.

Resultat: Betriebskindergärten wie "Ford Pänz" in Köln, Toleranz für Väter im Elternurlaub oder Teilzeitarbeit für beide Geschlechter. Das ist nur ein Anfang, aber immerhin.

Doch das genügt noch nicht. Auch Vater Staat ist gefragt. Doch der hat kein Geld, sagt er. Dabei liegen die Milliarden nur so rum. Zum Beispiel beim so genannten "Steuersplitting", mit dem nicht etwa die Kinder, sondern die Ehemänner von Hausfrauen subventioniert werden - unabhängig davon, ob sie Kinder zu ernähren haben. Alljährlich mit rund 40-50 Milliarden. Seit den 80er Jahren rütteln Steuer- und Familienexpertinnen aller Parteien vergeblich an diesen patriarchalen Geldsäcken! Vergebens.

Denn im neuen Berliner Parlament kriegen die meisten Abgeordneten noch immer wie zu Bonner Zeiten von Hausfrauen den Rücken freigehalten, zumindest bei den beiden Volksparteien. Da wird immer gejammert, es fehle Geld für Kinder - hier ist es. Ein verheirateter Spitzenverdiener spart, egal, ob Kinder in der Familie sind oder nicht, bei einem Jahresgehalt von 240.000 DM dank Steuersplitting jährlich 24.000 DM, also 2.000 DM im Monat. Da sind sie, die Summen, die Familien mit Kindern, Eltern wie Alleinerziehende, bestens gebrauchen könnten!

Frauen sind keine Gebärmaschinen. Sie bekommen zu Beginn des 3. Jahrtausends nur noch die Kinder, die sie auch wirklich wollen. Was gut ist für alle Beteiligten, nicht zuletzt für die Kinder. Die Frauen von heute werden sich den Schneid nicht abkaufen lassen mit 30 DM Taschengeld für die Familie. Entweder ändert sich wirklich etwas - oder die Deutschen schrumpfen weiter.

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