Seit der WM 2007 trägt die heute 32-Jährige den offiziellen Titel „Beste Torhüterin der FIFA Weltmeisterschaft“. Sie hatte einen sensationellen Rekord aufgestellt: Natze kassierte das gesamte Turnier lang kein einziges Gegentor! Im Finale hielt sie sogar den Elfmeter der brasilianischen Weltfußballerin Marta – und Deutschland wurde Weltmeisterin.
Ihre Fußballkarriere startete Nadine Angerer im zarten Alter von fünf Jahren im unterfränkischen Lohr am Main. Ihr Vater, von Beruf Hydrauliker, und ihre Mutter, die in jungen Jahren den Extrem-Triathlon Ironman machte, hatten nichts dagegen. Ab 21 spielte Angerer in der Bundesliga, zunächst beim FC Bayern München, dann sechs Jahre bei Turbine Potsdam und – nach einem Intermezzo beim schwedischen Djurgården Damfotboll in 2008 – seit 2009 beim 1. FFC Frankfurt. Mit dem gewann sie gerade das DFB-Pokalfinale und verpasste die Deutsche Meisterschaft nur knapp. Die gelernte Veranstaltungstechnikerin und Physiotherapeutin ist heute zweifache Weltmeisterin und vierfache Europameisterin – allerdings zunächst als Nummer 2 im Tor. Als dann Ex-Nummer 1, Silke Rottenberg, sich vor der WM 2007 verletzte, schlug Natzes große Stunde. Und weil „die null Gegentore von 2007 ja sowieso nicht mehr zu toppen sind“, ist die weltbeste Torfrau vor der Frauenfußball-WM 2011 wie immer total entspannt. Sagt sie. Und man glaubt es ihr sogar.
Nadine, kennst du die berühmte „Angst des Tormanns vorm Elfmeter“?
Den Spruch habe ich natürlich schon oft gehört, aber ich finde den völlig unpassend. Als Torwart braucht man doch vor dieser Situation keine Angst zu haben – man kann ja nur gewinnen.
Weil ein Elfmeter sowieso so gut wie sicher drin ist und eigentlich niemand damit rechnet, dass der Tormann bzw. Torfrau ihn hält?
Genau! Die Angst liegt eher beim Schützen (lacht). Aber klar: So ein Elfmeter wie der von Marta im WM-Finale 2007 kann ein Spiel stark beeinflussen. Das Spiel gegen Brasilien stand ja auf Messers Schneide. Wäre der Elfer reingegangen, hätte es 1:1 gestanden und das hätte Brasilien Auftrieb gegeben. Nun hab ich ihn aber gehalten. Und so haben wir halt noch mal einen Joker bekommen. Das ist ja generell so: Wenn man als Torfrau ein paar Bälle hält, die eigentlich aussichtslos waren, dann kann ein Ruck durch die Mannschaft gehen.
Woher nimmst du eigentlich diese Nervenstärke?
Tja, das ist eine gute Frage. Ich will immer gewinnen. Egal, ob beim Mensch-ärgere-dich-nicht oder beim Fußball. Gleichzeitig hat sich im Laufe der Jahre bei mir die Einstellung entwickelt: Wieso trainiere ich die ganze Woche, wenn ich dann beim Spiel Angst habe? Vor was soll ich überhaupt Angst haben? Was soll denn schief gehen? Und diese Mischung, also dieser absolute Siegeswille kombiniert mit der Haltung, mental locker zu bleiben – das macht einen stark.
Hast du diesen Siegeswillen sozusagen mit der Muttermilch eingesogen? Deine Mutter ist ja selbst eine erfolgreiche Triathletin gewesen.
Sie hat sogar den Ironman gemacht. Davor habe ich als Jugendliche natürlich den Hut gezogen. Und ich habe gesehen: Wenn man was tut, kann man auch was erreichen. Das hat mich sehr geprägt und beeinflusst.
Ich will gewinnen, auch beim Mensch-ärgere-ich-nicht!
Und dein Vater?
Mein Vater hat Handball gespielt. Nie hochklassig, aber er ist sportlich schon auch ambitioniert. Und ich wurde zu Hause nie unter Druck gesetzt, egal in welchem Bereich. Auch bei der Berufswahl wurde mir von zu Hause nichts vorgegeben. Ich durfte machen, was ich wollte. Und Dinge selber entscheiden zu dürfen, das gibt natürlich Selbstvertrauen und Gelassenheit.
Und als die kleine Natze mit fünf verkündet hat: „Ich spiele jetzt Fußball!“ …
… da war das überhaupt kein Problem. Und das, obwohl der Frauenfußball vor 27 Jahren noch absolut in den Kinderschuhen steckte. Ich weiß nicht, ob ich heute da wäre, wo ich bin, wenn meine Eltern damals gesagt hätten „Frauen spielen keinen Fußball!“ Aber sie haben mich nie in etwas gebremst.
Wie muss man sich deinen Alltag als Profi-Fußballerin vorstellen? Spielen deine gelernten Berufe – Veranstaltungstechnikerin und Physiotherapeutin – überhaupt noch eine Rolle?
Nein, damit habe ich nichts mehr am Hut. Ich hab es sehr genossen, als Veranstaltungstechnikerin zu arbeiten, aber dieser Beruf ist nicht kompatibel mit dem Profidasein als Fußballerin. Als Physiotherapeutin hatte ich nach meinem Wechsel zu Frankfurt noch gearbeitet, aber dann wollte ich mich voll und ganz auf mein Fußballerinnen-Dasein konzentrieren. Und das besteht nicht nur aus zweimal Training am Tag, sondern da gehört auch Pflege und Medienarbeit dazu. Und mein bisschen Freizeit wollte ich mir dann nicht noch mit Arbeit zupacken. Die Lebensqualität muss auch stimmen – und ich lebe ja auch sehr gerne.
Du machst Rucksackreisen durch Afrika und bist begeisterte Taucherin. Dafür bleibt dir also Zeit?
Diese Freiräume kann man sich nehmen. Und ich muss sie mir nehmen! Denn wenn bei mir das eine nicht stimmt, kann auch das andere nicht funktionieren. Ich bin zwar Profi, aber das heißt ja nicht, dass ich im Gefängnis lebe.
Sollen wir vielleicht im Röckchen auf dem Spielfeld auflaufen?
Es heißt, du gehst auch auf Demos. Warst Du schon bei einer Anti-Atom-Aktion?
Dazu hatte ich leider keine Zeit, weil die Demos immer am Wochenende waren, wenn ich ein Spiel hatte. Aber in Gedanken war ich dabei.
Eine Studie im Auftrag der FIFA hat ergeben, dass manche potenzielle Sponsoren darüber klagen, der Frauenfußball sei ihnen „zu wenig weiblich“. Gibt es demnächst ein Lederjackenverbot?
Das sind doch alles Klischees von vor 25 Jahren! Man muss sich unsere Mannschaft doch bloß mal angucken. Wir haben eine superattraktive Mannschaft. Wir sind eloquent, wir sind intelligent. Mehr können wir nicht tun. Sollen wir vielleicht im Röckchen auf dem Spielfeld auflaufen? Die Hauptsache ist doch, dass wir guten Sport machen. Und das tun wir.
Auf die Frage des Zeit-Magazins, was es denn mit den „Gerüchten“ mit den vielen Lesben im Fußball auf sich hätte, hast du geantwortet: „Ich persönlich bin da offen, weil ich der Meinung bin, dass es nette Männer und nette Frauen gibt, und weil ich eine Festlegung generell total albern finde.“
So ist es. Ich war immer offen dafür, das zu sagen. Mich hat nur nie jemand gefragt (lacht). Herlinde Koelbl, die das Interview geführt hat, kenne ich schon länger, und es hat sich eine gewisse Vertrautheit entwickelt. Sie hat mich als erste direkt gefragt. Und wer direkt fragt, kriegt auch eine direkte Antwort.
Ein 93-jähriger Opa fand es toll, dass ich auch Frauen liebe.
Warst du überrascht, dass du dann am nächsten Tag die Schlagzeile in Bild warst?
Nein, das hat mich natürlich nicht überrascht. Ich kann ja eins und eins zusammenzählen. Aber die Sache ist ja die: Wenn ich selbst kein Problem damit habe, warum sollte mich die Schlagzeile dann stören?
Was gab es denn sonst noch für Reaktionen?
Der Witz ist: Ich habe fast gar keine Reaktionen bekommen. Bis heute nicht. Ich schwöre, mich hat niemand darauf angesprochen. Aber eine total süße E-Mail von einem 93-jährigen Opa habe ich gekriegt. Der schrieb, er fände das total toll, dass ich auch Frauen liebe, und man müsse ja auch mit der Zeit gehen. Aber das war das einzige. Ansonsten habe ich weder im Fußballstadion eine negative Reaktion bekommen noch in meinem privaten Umfeld, in dem es ja sowieso kein Geheimnis war. Und auch vom DFB kam nichts. Warum auch?
Das sah ja vor einigen Jahren noch anders aus. Da soll es von Seiten des DFB schon einen gewissen Druck auf homosexuelle Spielerinnen gegeben haben.
Ich habe von diesem Druck nie was gespürt. Mir hat der DFB nie Vorgaben gemacht. Wir haben da absolut freie Hand. Und mir hat auch noch kein Sponsor gesagt: Wenn du dich outest, dann kriegst du bei uns keinen Vertrag. Von daher kann ich das nicht unterschreiben. Und ehrlich gesagt: Wenn das ein Sponsor täte, dann würde ich mich für den nicht hergeben, weil ich das nicht in Ordnung fände. Die grundsätzliche Frage ist doch immer: Will ich mich verstellen? Und ich habe keine Lust, mich zu verstellen. Und damit bin ich bisher ganz gut gefahren. Deshalb bin ich wahrscheinlich so entspannt.
Das Gespräch führte Chantal Louis, EMMA 3/2011