Mit Herzblut Kassiererin
Sie hängt jetzt ziemlich in der Luft. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin bestimmt, wie das Leben weitergeht für Barbara E. alias „Emmely“ aus Berlin-Hohenschönhausen. Ob sie wieder wie früher in einer flachen Supermarkthalle hinter einer Fleischtheke steht oder an einer Kasse sitzt. Die gedrungene 50-jährige Frau mit blondierten Haaren sagt: "Es wäre ein Sieg für die Gerechtigkeit."
Wenn das Gericht anders entscheidet, bleiben die Geldsorgen, die Arbeitslosigkeit und die verlorenen Vormittage auf den grauen Fluren des Jobcenters. Es ist eine Zukunft, die E. sich nicht bieten lassen will. Denn "unterbuttern lass ich mich nicht". Das ist ein angriffslustiger Satz und Barbara E. sagt ihn oft.
Die Sache mit den Pfandbons, die heute am Arbeitsgericht verhandelt wurde, ist Ende Januar vergangenen Jahres passiert. Barbara E. saß damals an der Kasse des Kaiser’s-Supermarktes im Einkaufszentrum in Berlin-Hohenschönhausen. 31 Jahre lang hatte sie als Verkäuferin gearbeitet. "Mein Traumjob." Aber an diesem Freitag bat der Filialleiter sie plötzlich in sein Büro. Er warf ihr vor, sie hätte zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst. Die Bons seien aber nicht ihre eigenen gewesen, ein Kunde hätte sie verloren und E. hätte sie verbotenerweise eingetauscht.
Womöglich sind ihr die Pfandbons untergeschoben worden. Eventuell waren 1,30 Euro nur das Werkzeug, um eine unlieb - same Mitarbeiterin aus dem Weg zu räumen mit Hilfe einer "Verdachtskündigung", wie diese Form der Kündigung juristisch heißt. So sieht es Barbara E. heute. Immerhin hatte sie bei den drei Streikwellen kurz vorher mitgemacht, sie hatte Schilder gemalt und Hütchen gebastelt, war bei allen Demos mitgelaufen. Schon damals hatte es zwischen ihr und den Vorgesetzten Gespräche gegeben, die nicht gerade freundlich verlaufen waren.
Barbara hat noch zu DDR-Zeiten als junges Mädchen bei einem Fleischer angefangen, dann in verschiedenen HO-Kaufhallen gearbeitet und nach der Wende dann bei Kaiser’s. Nebenbei hat sie drei Kinder alleine groß gezogen. Sie sieht nicht aus wie jemand, der 31 Jahre Berufserfahrung aufs Spiel setzt für 1,30 Euro. "Ich bin immer mit vollem Herzblut Kassiererin gewesen", sagt sie stolz. "Zwischen 250 und 450 Kunden kamen am Tag an meine Kasse, und ich glaube behaupten zu können, dass ich alle mit Namen kannte."
Nach der Kündigung nimmt sie sich einen Anwalt. Im Frühsommer beginnt die Sache dann über die Plattenbauten von Hohenschönhausen hinauszuwachsen. Es ist die alte Geschichte von David gegen Goliath, die kleine Kassiererin gegen den großen Konzern. Ein "Solidaritätskomitee" bildet sich. Ein paar alte Gewerkschaftshasen sind darunter, ein paar Aktivisten aus dem linksalternativen Milieu. Alle möglichen Leute hängen sich jetzt an den Protest an: Anarchosyndikalisten, kritische Gewerkschafter, die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, linke Gruppen, Erwerbsloseninitiativen, ein paar Abgeordnete der Grünen und der Linkspartei. "Ich kenn’ die alle nicht", sagt Emmely.
Es folgen Kundgebungen vor Supermärkten und Podiumsdiskussionen, eine Postkartenaktion und Boykottaufrufe gegen Kaiser’s. Im Internet steigt die gekündigte Kassiererin sogar zur Heldin im weltweiten Protest gegen den Kapitalismus auf. Sie taucht auf neben Schlagworten wie "neoliberale Globalisierung", "Repression" und "migrantische Landarbeiterinnen". In Ausbeutungsdiskursen erreicht Emmely aus Hohenschönhausen langsam einen ähnlichen Status wie die Kaffeebauern in Nicaragua.
Als sie im August vergangenen Jahres vor Gericht zog, musste sie ihre Unschuld beweisen. Das ist das übliche Verfahren bei Verdachtskündigungen. Das Gericht hielt den Verdacht von Kaiser’s für begründet. Natürlich ging Emmely sofort in Berufung. Sie hatte ja keine andere Wahl. Sie war beim Jobcenter gewesen. "Aber wer will schon eine Kassiererin, die so einen Verdacht an der Backe hat?" Längst ist sie aus allen alten Sicherheiten gefallen: Sie musste den geliebten Zeltplatz aufgeben, Hartz IV beantragen, in eine kleinere Wohnung ziehen, auch die Betriebsrente ist weg.
Inzwischen schöpft Emmely vorsichtig Hoffnung, es hat sich einiges getan. Bei der Berufungsverhandlung im Januar 2009 hat das Gericht noch einmal eine ehemalige Kollegin gehört, es gab ein paar Widersprüche in deren Aussage. In derselben Woche zeigte das Fernsehen eine "Tatort"-Folge mit einer Supermarktkassiererin, die dieselben Probleme hat wie Emmely. Anschließend erschien die Original-Emmely als Einspieler bei Anne Will, die an diesem Abend über den "Tatort Arbeitsplatz" diskutierte.
Aber Barbara E. muss aufpassen. Einmal sagt sie einen Satz, in dem viel Wahrheit steckt: "Es geht schon lange nicht mehr um mich." Das Solikomitee fordert, dass die Verdachtskündigung ganz abschafft wird. Denn darin sehen die Aktivisten eine Handhabe für Arbeitgeber, unbequeme Beschäftigte mit Langzeitarbeitsverträgen loszuwerden. Aber wenn Barbara E. wieder bei Kaiser’s arbeiten will, muss sie vorsichtig sein. Aus allem Möglichen kann ihr die Gegenseite vor Gericht einen Strick drehen. Sie darf auf keinen Fall in Zusammenhang mit den Boykottaufrufen gebracht werden. Sie muss auch vorsichtig mit den Journalisten sein. Ansonsten könnte es passieren, dass sie im Kampf der Kleinen gegen die Großen unter die Räder gerät.