Erdogan will von seiner Schwäche ablenken!

Necla Kelek in der Türkei.
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„Demokratie ist, was das Volk will“ sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Beerdigung von „Märtyrern“ zwei Tage nach der Niederschlagung des Putsches. Und das Volk wolle für die Verräter nun mal die Todesstrafe.

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Frauen ohne
Kopftuch werden
beschimpft:
Ihr seid unser
Verderben!

Was seit dem „Putsch“ in der Türkei vor sich geht, scheint wie eine lange vorbereitete „Nacht der langen Messer“. Erdogans Anhänger in Deutschland und selbst der deutsche Außenminister Steinmeier sprechen von dem „Mut der Demokraten“, sich den Putschisten entgegengestellt zu haben. Welch eine Verdrehung von Tatsachen. Erdogan hat in dieser Nacht die Menschen auf die Straße geholt. Dort regiert seither der Mob.

Täglich werden, von der Regierung initiiert und der Verwaltung gefördert, auf öffentlichen Plätzen „Zafer“, Siegesfeiern, abgehalten. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren kostenlos, um die Menschen zu den Versammlungen zu bringen. Auf dem Taksim-Platz, wo sich sonst die Säkularen und Demokraten  versammeln, rufen nun die Verschleierten „Allah Akbar“, den Schlachtruf der Islamisten und Terroristen.

Frauen, die sich öffentlich ohne Kopftuch zeigen, werden beschimpft. „Ihr seid unser Verderben“, ruft man ihnen zu. Sie wagen sich nicht mehr auf die Straße.  

Erdogans AKP hatte schon am 29. Mai Zehntausende mobilisiert, um die „563. Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen“ zu feiern. Selbst als Sieger über die Christen machte der „Sultan“, der wie ein moderner Prophet im Helikopter zur Veranstaltung einschwebte, sich und seine Glaubensbrüder noch zum Opfer: “Istanbul ist vor 563 Jahren erobert worden, aber man versucht immer noch damit abzurechnen“ rief er. „Solange der Muezzin ruft, werden sie versuchen, sich an uns zu rächen.“

Es ist eine fixe Idee des Islam, sich immer zum Opfer zu machen, und die islamische Bewegung glaubt, nur Gewalt würde ihr zu Anerkennung verhelfen.

Erdogans Botschaft in allen Reden ist eine dichotomische Weltsicht, die die Welt in Gläubige und Ungläubige teilt, in Anhänger und Gegner. Politik als der Kampf des guten Islam gegen die böse Welt. Und das Prinzip: “Wer mich nicht liebt, soll mich fürchten.“ Systematisch erklärt er alle zu Gegnern und zu Terroristen, die seinem Diktat nicht folgen.

Der „Putsch“
war für
Erdogan ein
Geschenk Allahs.

Der „Putsch“ war nach Erdogans eigenen Worten “ein Geschenk Allahs“. Aber nicht nur, weil er nun mit seinen Gegnern abrechnen kann, sondern weil er so auch kaschieren kann, dass seine Politik in Wahrheit am Ende ist. Der gescheiterte Versuch, Assad mithilfe des Islamischen Staates zu stürzen, der daraus resultierende Konflikt mit Russland sowie der Bürgerkrieg gegen die Kurden haben Folgen. Die Tourismusindustrie liegt darnieder und ein finanzieller Gau zeichnet sich ab. Die Türkei ist bis über die Ohren verschuldet und von internationalen Investoren abhängig. 

Erdogan sieht offenbar das bevorstehende wirtschaftliche Disaster und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Er schickte Versöhnungszeichen Richtung Israel und entschuldigte sich bei der Familie der russischen Piloten, die an der Grenze zu Syrien abgeschossen worden waren. Er hoffte, damit Putin umzustimmen, damit der wieder türkisches Gemüse ins Land und Touristen nach Antalya reisen lässt.  

Die Reaktion der Opposition war entlarvend. Der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu klagte: „Erdogan hat den Stolz des türkischen Volkes verspielt“. Und der Vorsitzende der nationalistischen Partei MHP, Bahceli, tönte: „Ich hätte Russland den Krieg erklärt!“ Die Sorgen des Volkes interessierten diese Opposition nicht. Sie sind dadurch mit ihren gestrigen Vorstellungen keine Gefahr für die AKP. Auch nach dem Putsch bleibt diese Opposition bedeutungslos.

Alles an den Ereignissen des 15. Juli spricht aus meiner Sicht dafür, dass der allgegenwärtige Geheimdienst angezettelt hat, dass einige Obristen den Aufstand planten. Der Putsch war entweder inszeniert oder von Beginn an verraten. Man hat die Aufständigen von Anbeginn an als schwach eingeschätzt und sie gewähren lassen - und in Kauf genommen, dass ahnungslose Soldaten und BürgerInnen dabei umkommen werden.

Erdogan hat
sehr große
wirtschaftliche
Probleme.

Nachdem die AKP die Kurden wieder zu Terroristen gemacht hatte und sich mit ihnen im Krieg befindet und die säkulare Opposition mundtot gemacht wurde, blieb als Gegner nur noch der unsichtbare Feind in den eigenen Reihen: die Fethullahcis.

Der in Amerika lebende Prediger Fethullah Gülen ist wie Erdogan ein Islamist. Seine Hizmet-Bewegung hat über Jahrzehnte konspirativ den „Marsch durch die Organisationen“ betrieben. Seine mehrheitlich gut ausgebildeten Anhänger – Gülen setzt auf dem Weg zur Macht auf Bildung – haben sich durch ihr Verhalten selbst in die Rolle der „Verräter“ manövriert. Seit Jahrzehnten arbeiten sie konspirativ wie ein islamischer „Opus Dei“, verleugnen ihre Zugehörigkeit zu Gülen, tarnen ihre Vereine und verfolgen eine unbekannte Agenda. Weil Gülens Bewegung sich nicht dem demokratischen und öffentlichen Disput gestellt hat, ist es jetzt umso leichter, sie als Putschisten zu diffamieren.

Dass Erdogan jetzt Gülens Auslieferung von den USA fordert, gehört zu den Irrationalitäten, die vermuten lassen, dass der türkische Präsident die Verbindung zur Realität verloren hat. Man wird die alten Verschwörungstheorien wieder aufleben lassen, wonach die USA der Gral alles Bösen ist. 

Erdogan verfolgt den Plan, nicht nur Gülen Gefolgsleute, sondern alle Gegner zu vernichten. Tausende Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Polizisten, Professoren und Verwaltungsbeamte wurden aufgrund von offensichtlich vorbereiteten Listen entlassen. Zehntausende bekamen Urlaubssperren verhängt, sie müssen sich an ihren Arbeitsplätzen einfinden oder stehen unter Hausarrest. Es wurde angekündigt, dass alle überprüft werden.

Was will man prüfen? Die Gesinnung der Menschen, ihr Verhältnis zum Präsidenten, ob sie in die Moschee gehen oder ob die Frauen Kopftuch tragen? Veranstaltet man einen landesweiten Muslimtest?

Offenbar ist der Plan, dass man mögliche Oppositionelle nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch ruinieren will, in dem man sie in die Arbeitslosigkeit treibt.

Für Europäer ist dies schwer nachvollziehbar, weil sie nicht so rachsüchtig sind.

Die Türkei wird
die Flüchtlinge
integrieren –
als gute Wähler

Die Europäer treibt verständlicherweise auch um, ob die Türkei den Flüchtlingsdeal einhalten wird. Vielleicht schickt Erdogan aus Rache ein paar Zehntausend Syrer nach Norden. Im Prinzip wird er aber die fast drei Millionen Syrer, die zurzeit in der Türkei sind, einbürgern. Denn diese Flüchtlinge sind mehrheitlich strenggläubige sunnitische Muslime, also potentielle Wähler seiner AKP. Und Europa wird das finanzieren – und die gesäuberte türkische Armee die Ansiedlung und die Wahlen bewachen. 

Um Kritik aus Europa werden Erdogan und seine Mannen sich nicht kümmern. Der Junge aus dem Hafenviertel, der Straßenfußballer und fanatische Islamist, der es zu Palästen in Ankara und Istanbul gebracht hat, ist offenbar bereit, „das Königsopfer seiner Seele“ zu bringen (Machiavelli). Er ist bereit, böse zu handeln.

Necla Kelek

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Cigdem Toprak: Wir wollten frei sein!

© Ebru Tavli
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Als wir blutjung waren, wollten wir nur eins: frei sein. Wir liebten unsere türkische, arabische, kurdische Kultur, unsere islamische, alevitische Reli­gion, unsere maghrebinischen, afghanischen und anatolischen Traditionen – aber wir wollten sie so ausleben, wie wir es wollten.

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Jeden Sommer wollten wir im Freibad schwimmen, wir wollten in Clubs feiern gehen, in die wir mit 16 Jahren eigentlich gar nicht hinein durften, wir wollten mit Jungs oder Mädels ins Kino, wir wollten mit unserem Schwarm oder unserer Angebeteten telefonieren, wir wollten eine feste Beziehung haben und sie oder ihn Zuhause unseren Eltern vorstellen – so wie es unsere deutschen Freunde taten. Wir wollten jung sein, wir wollten frei sein.

Wir haben nie darüber geredet, wer eine „schlechte Muslima“ war

Während heute viele junge Muslime in Shisha-Cafés bei einem Minztee und einer Shisha mit Beere und Traube-Geschmack vorwiegend geschlechtergetrennt sitzen und sich gegenseitig oder ihr Handy anstarren, trafen wir uns in Jugendclubs mit unseren deutschen und ausländischen Sozialarbeitern – Jungs und Mädchen zusammen – und wollten das machen, was junge Menschen gerne machen, wenn sie jung sind: Quatschen, lachen und feiern.

Da wir strenge Eltern hatten – unabhängig davon, ob wir alevitisch, sunnitisch, arabisch oder kurdisch waren – mussten wir, gerade wir Mädels, viel von unserem Leben verheimlichen. Und das war nicht einfach. Wir haben uns im Zimmer eingeschlossen, wenn wir Liebeskummer hatten, und konnten oft unseren Eltern nichts davon erzählen. An Liebe hat es uns nie ­gefehlt, aber an Freiheit sehr oft. Wir haben nach Wegen gesucht, wie wir abends aus dem Haus kamen. Wir haben unsere Eltern für jede weitere Stunde außerhalb unseres Zuhauses angebettelt.

In den Zeiten vor dem Handy hatten die Jungs immer Münzen in der Hand, um uns aus einer Telefonzelle Zuhause anzurufen, in der Hoffnung, dass nicht unsere Väter oder unsere Mütter, sondern wir drangehen, und sie unsere Stimme hö­ren können. Wir haben Liebesbriefe geschrieben und sie Zuhause akribisch versteckt. Und wir Mädels haben uns überlegt, wie es wäre, wenn wir lesbisch wären. Wir hätten mit unserer festen Freundin so viel Zeit verbringen können, wie wir nur wollten. Sie könnte bei uns Zuhause abhängen, mit uns in den Urlaub fahren und mit ihr hätten wir nach dem Abitur sogar eine WG gründen können. Wir haben sehr viel geträumt. Auch davon, wie das Leben für die nächsten Generationen werden wird.

Wir haben gehofft, dass wir so frei sein können wie unsere „deutschen“ Freunde – so frei, dass wir auf der Straße Händchen halten könnten, ohne Angst zu haben, dass ein Onkel oder ein Freund unserer Väter uns dabei erwischen würde. Wir wollten einfach nur jung sein. Und wir haben dafür gekämpft.

Wir wollten einfach nur jung sein - und wir haben dafür gekämpft

Wir wurden stets als „Ausländer“ bezeichnet, die Fronten waren klar. Das, was für die Deutschen galt, galt eben nicht für uns. Wir haben uns darüber geärgert, dass die Deutschen mit ihren Freiheiten so wenig anfangen konnten. Wir, wir hätten das Beste rausgeholt.

Dann merkten einige von uns, dass es keinen Lichtblick gab, dass sie nur bestraft wurden, wenn sie die herrschenden sozialen Normen in den muslimischen Communities brechen. Als die hübschesten, selbstbewusstesten und coolsten marokkanischen Mädels mit 16 Jahren verheiratet wurden; als die freiheitsliebende und aufmüpfige Freundin nach dem Abitur ihren Cousin heiraten musste und sich anschließend das Leben nahm; als nur wenige es schafften, ein selbstbestimmtes, freies und offenes Leben zu haben – ohne mit den ­Eltern zu brechen, oder eine „falsche Muslima“ oder „unehrenhaft“ zu sein. Da fingen wir an, konform zu leben. Konform gegenüber den Erwartungen der Eltern. Und unsere Jugend war dahin.

Wir waren in diesem Land geboren, aber für uns galten – so selbstverständlich war das für alle, auch für „die Deutschen“ – andere Normen, andere Regeln, andere Erwartungen. Wir waren überfordert: nicht nur mit Hausaufgaben und den Besuchen unserer liebevollen Verwandten; nicht nur mit den Sommerurlauben in unserer mittelöstlichen Heimat, wo wir auch stigmatisiert und bedrängt wurden; sondern auch mit den Übersetzungen für unsere Eltern bei deutschen Behörden. Wir waren überfordert mit Erklären, mit Rechtfertigen, mit Entschuldigen. Wir mussten uns stets entschuldigen, dafür, wer wir waren und wie wir sein wollten.

Wir wurden als „Ausländer“ bezeichnet,
die Fronten waren klar

Am meisten tat diese Ungerechtigkeit weh. In unserem Herzen spürten wir jedes Mal einen Stich, wenn wir merkten, dass unsere Grenzen viel zu nah an unseren Träumen waren. Und wir haben mit Angst gelebt. Angst, erwischt zu werden. Angst, bestraft zu werden. Angst, mit welchen Vorwürfen wir diesmal konfrontiert würden. Dabei wollten wir nur jung sein. Wir wollten frei sein.

„Wir Ausländer“ haben uns zusammengetan, wir haben Solidarität dort gezeigt, wo es unseren deutschen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht gelang. Wir hatten uns unsere eigene Welt erschaffen. Wir waren befreundet aufgrund unserer kulturellen Identität, gerade auf dem Gymna­sium, wo wir auf das deutsche bürgerliche Leben trafen und die mit unserer kosmopolitischen und transnationalen Identität nicht viel anfangen konnten. Und es war nicht unsere Religion, die identitätsstiftend für uns war. Es war unser gemeinsames Verlangen, unser Streben nach Freiheit, nach Akzeptanz, nach Anerkennung. Sowohl von unserer ­eigenen Gemeinschaft, als auch von der deutschen Welt da draußen.

Und wenn unser Lehrer uns fragte, welchen Beruf unsere Großväter ausübten, waren wir drei „Türken“ die einzigen, deren Großeltern nicht einmal einen Schulabschluss hatten. Doch nicht nur in Mathe oder Physik, sondern auch in Ethik, Geschichte oder Deutsch waren unsere Noten um einiges besser als derjenigen, deren Großväter Ärzte oder Lehrer waren. Wir waren Aufsteiger. Wir hatten nur keine Ahnung, welchen Preis wir dafür bezahlen mussten.

Wir hörten Hiphop, liebten Pharrel Williams – bevor es die bürgerlichen Studenten taten. Wir trauerten um Tupac und Aaliyah. Wir kannten den amerikanischen Slang und hatten deshalb den Englisch-Leistungskurs gewählt. Das war unsere Jugend.

Wir hatten kaum Vorbilder in den deutschen Medien oder in der Öffentlichkeit, die uns einen Weg aufzeigen konnten, wie wir die Erwartungen unserer Eltern, unserer Gemeinschaft mit den Erwartungen da draußen vereinbaren konnten. Wir haben uns nicht als Opfer gefühlt, aber wir wurden ausgegrenzt und irgendwann wurden wir zu Opfern gemacht.

Dabei haben wir uns nicht mit dem Islam oder dem Koran auseinandergesetzt – das haben unsere Eltern vielleicht gemacht. Wir haben im Ramadan gefastet, wir haben unsere religiösen Feste zusammen gefeiert. Mit einem richtig miesen Gewissen haben wir uns in der Schule frei genommen – denn ­unsere Eltern wollten nicht, dass wir am ­Zucker- und Opferfest von der Schule fernblieben. Sie wollten nicht, dass wir vorrangig religiös waren, sondern anständig.

Mit dem Koran haben sich
eher unsere Eltern aus-
einandergesetzt

Wir haben immer auf den Sommer gewartet. Die Jungs haben trainiert, die Mädchen haben Diäten gemacht, weil wir wussten, dass wir uns in Bikinis und Badehosen im Schwimmbad treffen würden. Und wenn wir es schafften, wollten wir Abitur machen, wir wollten studieren, wir wollten raus in die Welt. Und wir hofften, dass die nächste Generation noch offener, noch freier und noch moderner leben würde. „Dass sie mehr dürfen.“ Dürfen – das war eines der Verben, die wir am häufigsten verwendeten.

Wir wollten nicht nur modern konsumieren, mit unseren Reebook-Schuhen, Nokia-Handys und Nike-Hosen. Wir wollten auch all das andere, was noch dazu gehörte. Wir haben versucht, Jennifer Lopez nachzuahmen. Ihren Kleidungsstil, ihre Haare – ihre Welt aus „Jenny From the Block“ sollte zu unserer Welt werden. Und während Lil Jon und Ludacris im Autoradio „Move Bitch“ rappten, lächelten wir dankbar, dass unsere Eltern kein Englisch verstanden.

Die Namen unserer männlichen Freunde waren in unseren Handys als deutsche Frauennamen gespeichert: Tarek wurde zu Tatjana. Mit einem Julian oder Christopher waren wir offiziell befreundet, mit einem Milad oder Cem durften wir uns nicht blicken lassen. Unsere Eltern haben den deutschen Jungs stets mehr vertraut als den Jungs ihrer Freunde und Bekannten.

Wir haben nie darüber geredet, wer eine „schlechte Muslima“ war – sondern immer darüber gesprochen, welche Bekannte, Cousine oder Freundin nun von „Zuhause abgehauen war“. Sie sind einfach ausgebrochen, verschwunden, weil sie die strengen Regeln der Eltern und der Brüder nicht mehr aushielten. Und wenn das unsere eigenen Eltern mitbekamen, bekamen sie Panik. Und engten uns mit ihrer Liebe und ihren Ängsten noch stärker ein.

Wir haben gemerkt, dass uns die Mehrheitsgesellschaft nicht so akzeptieren wird, wie wir eben sind, so komplex unsere Identitäten auch sind. Und wir begriffen, dass auch unsere eigene Community uns nur schwer so hinnehmen wird, wie wir sein wollten, so frei und offen und kritisch und selbstbestimmt.

Unser Kampf für Freiheit wurde nicht erkannt und nicht belohnt

Wir wollten niemals konform leben. Aber man hat unseren Kampf für Freiheit nicht gesehen, nicht erkannt, nicht belohnt. Man fing irgendwann an, uns in Kategorien zu betrachten. Wir mussten mit Stereotypen kämpfen. Jahre später musste ich meinen altbekannten Klassenkame­raden erklären, weshalb ich nicht in die Moschee gehe, weshalb ich kein Kopftuch trage. Wir mussten erklären, was wir vom 11. September hielten. Wir wurden hin und her gezerrt. Nicht zwischen Tradition und Moderne – denn wir hatten uns längst für die Moderne entschieden – sondern zwischen Etiketten, die man uns gab. Wir seien von nun an deutsche Muslime. Wir hätten einen Migrationshintergrund. Man müsse uns verstehen. Man müsse uns tolerieren.

Kaum jemand hat uns gefragt, wer oder was wir sein wollen. Dabei wollten wir einfach nur jung sein. Wir wollten frei sein.

Cigdem Toprak

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