Die Kult-Kassiererin aus Rennes
Wie oft am Tag sie einen Kunden als "Arsch" beschimpft hat (nur in Gedanken, versteht sich), weil er sie mal wieder behandelt hat "wie einen Gummibaum oder den Dorfdeppen", das hat Anna Sam nicht gezählt. Dafür hat sie ausgerechnet, dass sie 15 bis 20 Artikel pro Minute eingescannt hat, macht 700 bis 800 Artikel pro Stunde und 6.400 pro Tag. Sie hat im Tagesdurchschnitt 250 mal "Guten Tag" und "Einen schönen Tag noch" gesagt, 500 mal "Danke" und 200 mal "Haben Sie eine Kundenkarte?" Wie oft sich das nervtötende "Biep!" ihres Scanners und der Scanner der Nachbarkassen in Annas Ohr gefräst hat, sprengt den Rahmen des Bezifferbaren. "Während sich dieser Ton in mein Gehirn fraß, kam ich mir am Ende selbst wie ein Roboter vor."
Acht Jahre lang hat die 29-Jährige an einer Supermarkt-Kasse im bretonischen Rennes gesessen. Zunächst, um sich das Studium zu finanzieren; dann, weil sie nach dem Abschluss keinen Job fand. Irgendwann, zwischen Millionen Bonjours und Bieps, entdeckte die Literaturwissenschaftlerin ein Ventil für ihren Frust: Sie schrieb ihn sich in einem Blog von der Seele. Innerhalb kürzester Zeit wurde caissierenofutur.overblog.com (Kassiererin ohne Zukunft) zum Kult: Rund 600.000 LeserInnen klickten auf ihre Geschichten über die meistgestellten Kundenfragen ("Haben Sie keine Plastiktüten?"), die fiesesten Vordrängelstrategien (den leeren Einkaufswagen schon mal an die Kasse stellen) und die perfidesten Überwachungsmethoden (eine Kasse, die in Echtzeit das Scan-Tempo der Kassiererin verfolgt).
2008 erschien Anna Sams Best of Blog als Buch. "Die Leiden einer jungen Kassiererin" schnellten mit 100.000 verkauften Exemplaren innerhalb weniger Wochen auf die Bestsellerlisten. Jetzt ist Anna Sams Kundenkunde auch auf Deutsch zu lesen.
"Es gibt die Kampfshopper, die morgens bei der Öffnung schon füßescharrend vor den Pforten warten, und die Superlässigen, die sich grundsätzlich Zeit lassen, bis der Markt schon schließt. Kunden, die uns anmachen, andere, die uns beleidigen." Am schlimmsten allerdings sind diejenigen, "für die man gar nicht existiert, als wäre man unsichtbar". Die, denen weder ein "Guten Tag" noch ein "Danke" über die Lippen kommt oder die es nicht für nötig halten, ihr Handy-Telefonat zu unterbrechen, während sie der Frau an der Kasse ihre Kreditkarte zuschieben.
Auch die Supermarktleitung lässt durchblicken, dass sie die zukünftige Mitarbeiterin eher als sprechende Verlängerung der Kassenelektronik, denn als zurechnungsfähigen Menschen betrachtet. So dauert das Vorstellungsgespräch nur wenige Minuten: "Psychotests? Kopfrechnen? Was für ein Unsinn! Warum nicht auch noch gleich ein graphologisches Gutachten? Sie bewerben sich als Kassiererin, nicht als Notar!". Die Einarbeitungszeit immerhin eine Viertelstunde: "Sie möchten wissen, welche Artikel Ihr Supermarkt führt? Das hat Zeit. Sie können die Geschäftsräume schließlich in der Pause besichtigen."
Und so geht es weiter. "Sie möchten eine Kollegin am anderen Ende des Ladens begrüßen? Während der Arbeitszeit? Kommt gar nicht in Frage. – Sie müssen mal? Haben Sie auch um Erlaubnis gefragt? – Es ist 13 Uhr. Sie werden hungrig und haben erst die Hälfte der für eine Pause nötigen Stunden Arbeit hinter sich? Haben Sie gefragt, ob Sie eine Pause machen dürfen? Das scheint Ihnen eines Erwachsenen nicht würdig, vielleicht gar frustrierend? Daran werden Sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen."
Glücklicherweise ist der Kassiererin, pardon: der "Servicemitarbeiterin Kasse" ihr Humor zwischen Laufband und Scanner nicht abhanden gekommen, weshalb ihre Schilderungen für die geneigten LeserInnen ein durchaus vergnügliches Erlebnis sind – nicht zuletzt, weil mann und frau sich möglicherweise in der einen oder anderen Kunden-Typologisierung wieder erkennt. Wie gehen Sie zum Beispiel mit so genannten "Problemartikeln" um? Wie Toilettenpapier ("Für bestimmte Kunden schon vor seinem Gebrauch ein anrüchiger Artikel."). Oder Monatsbinden ("Offensichtlich gilt die Regel für manche Mädchen, und nicht einmal die allerjüngsten, immer noch als eine Art unaussprechliche Krankheit: Manche Kundinnen erröten wie die Pfingstrosen, während sie ein schüchternes 'Guten Tag' stammeln."). Und natürlich Kondome, Anna Sams "Lieblingsproblemartikel".
Hier gibt es den verschämten Käufer, der viel Energie auf seine Tarnversuche verwendet: "Manche suchen sogar andere Artikel aus, die in Größe und Farbe der Kondomverpackung ähneln." Oder auch den Typus "Angeber": "Mit testosterongeladenem Blick knallen sie drei oder vier Päckchen Gummis Größe XXL aufs Band. Dann warten sie ungeduldig darauf, dass alle umstehenden Kunden auch wirklich sehen, was sie da gerade erwerben. Sie werden sauer, wenn Sie die Ware zu schnell über das Band schieben."
Der Typus Angeber, und nicht nur der, ist auch ein Kandidat für Kassen-Dialoge wie diesen: "Kassiererin: '65,78 Euro, bitte. Haben Sie eine Kundenkarte? 'Kunde: 'Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?‘" Oder diesen: "Kassiererin: 'Diese Kasse ist bereits geschlossen, meine Herren. Würden Sie sich bitte an die Kasse nebenan begeben? 'Kunde 1: 'Ich geb dir nen Euro, wenn du die Flaschen machst.' Kassiererin: 'Nein danke. Die Kasse ist geschlossen.' Kunde 2: 'Ach komm schon. Ihr Kassiererinnen seid doch sowieso alle Schlampen! Ihr sagt immer ja, wenn ihr ein Trinkgeld bekommt. Jetzt nimm schon unsere Flasche, du Nutte!‘"
Ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Kunden ist für die Kassiererin das Laufband. Zu ihm entwickelt Anna ein regelrecht freundschaftliches Verhältnis. Es straft den eiligen Käufer, indem es durch sein Ruckeln Eierkarton und Rotweinflasche auf dem Boden zerschellen lässt; es schluckt die Kreditkarte des ignoranten Handy-Telefonierers; es klemmt dem plärrenden Gör, das ihr die Zunge rausgestreckt und mit Keksen nach ihr geworfen hat, die Finger ein.
Und schließlich stellt Anna Sam die Gretchenfrage. Frauen und Männer seien erwiesenermaßen gleich. "Warum also müssen wir uns Folgendes gefallen lassen? Wenn es gilt, Ware einzuräumen oder nachzubestellen, machen dies (fast) ausschließlich die männlichen Angestellten. Warum gibt es die 'Servicemitarbeiterin Kasse‘, aber nicht den 'Servicemitarbeiter Kasse‘? Warum sitzen überhaupt viel mehr Frauen als Männer hinter der Kasse?" Und, finalement: "Warum ist die ganze Gesellschaft so ein Machospiel?"
Nach acht Jahren und einer halben Million begeisterten Blog-LeserInnen, die Anna Sam in Frankreich zur "Jeanne d’Arc der Kassiererinnen" gemacht haben, macht sie zum letzten Mal Kassensturz. Leider kommt das Pärchen, das stets erst um 20.55 Uhr den Laden zu betreten und dann in aller Ruhe einzukaufen pflegte, an diesem Abend nicht. "Ich hätte sie platt gemacht." Etliche KundInnen, die in der Presse über Anna Sams Blog gelesen haben, wünschen ihrer Kassiererin alles Gute und "versprechen mir, Kassiererinnen künftig wie Menschen zu behandeln".
Ein Abschiedsgläschen der Filialleitung mit der Mitarbeiterin nach acht Jahren? Nö. Dafür verabschiedet sich Anna von ihrem Laufband: "Danke, dass du mir so oft geholfen hast!" Und die Kassen sagen ihr mit einem letzten Biep! adieu. Die Bestsellerautorin hört es bis heute in ihren Träumen.
Zum Weiterlesen:
Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin (Riemann, 12.50 €)