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In Leupoldsgrün, einer 1.200-Seelen-Gemeinde in Oberfranken, ticken die Uhren anders. Die Mehrheit der Mütter des Ortes an der Landesgrenze zu Thüringen sind berufstätig, schon ab dem ersten Lebensjahr des Kindes. Damit liegen sie weit über dem deutschen Durchschnitt. In Westdeutschland sind gerade mal 19 Prozent aller Mütter mit Kindern unter drei Jahren vollbeschäftigt, im Osten heute immerhin 39 Prozent.
Wie kommt das zusammen? Die Bayerinnen haben ihren Avantgarde-Status einer Frau aus dem Osten zu verdanken: Manuela Lenz. Vor 30 Jahren floh die Sächsin aus dem Vogtland mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter über Ungarn in die Bundesrepublik. Damals war Manuela 24 Jahre alt. Sie landete im Auffanglager in Passau, 1990 hatte sie ihre erste Stelle in einer Kita in Oberbayern und traf dort auf gewaltige Widerstände. Lenz: „Die Eltern in Oberbayern waren ganz schön verbohrt, die Frauen sehr hausfraulich orientiert. Die Kinder wurden direkt nach dem Mittagessen abgeholt, kaum eine Frau arbeitete.“
Manuela Lenz bekommt ein zweites Kind, zieht 1997 in die Nähe von Leupoldsgrün, ins ehemalige Grenzgebiet. Zur Betreuung bringt sie ihr Kind über die Grenze nach Thüringen, weil es in Bayern keine Betreuung für Kleinkinder gibt. „Damit muss Schluss sein!“, sagt sie sich. Sie überredet den damaligen Bürgermeister zu einer Bedarfsanalyse. Und siehe da: Viele der Mütter dachten nur deshalb nicht darüber nach, in den Job zurück zu kehren, weil es keine Betreuung für unter Dreijährige gab. Die Ostdeutsche handelte, 2009 war die erste Kleinkindgruppe ausgebucht. Seitdem ist sie die Leiterin der Kita.
Die Nachfrage stieg, die bayrischen Mütter gingen mit gutem Gewissen arbeiten. Kulturwandel.
„Frau Lenz ist das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Annika Popp, die ihren einjährigen Sohn demnächst unter Frau Lenz’ Fittiche geben wird. Sie ist die Tochter eines bayerischen Grenzpolizisten und war zwei Jahre alt, als die Mauer fiel. Der Osten war für sie jedoch nie ein blinder Fleck. „Mein Vater hat sich für den Osten interessiert, für die Sportler der UDSSR zum Beispiel. Im Kindergarten haben wir Luftballons wie eine Art Flaschenpost über die Grenze fliegen lassen. So haben ich und meine Familie dort enge Brieffreunde gefunden. Nach der Grenzöffnung gab es die ersten Kontakte. Es war toll“, erzählt sie.
Der Osteinfluss hat abgefärbt. Heute ist die Bayerin genau wie die Kita-Leiterin Lenz eine Ausnahmefrau. Die 32-jährige CSU-Politikerin ist bayernweit nicht nur die jüngste Oberbürgermeisterin (sie wurde es mit 27), sondern auch die erste Bürgermeisterin, die in ihrer Amtszeit ein Kind bekommen hat. Acht Wochen nach der Geburt wollte Annika Popp wieder ins Rathaus: „Ich liebe den Job und wollte nicht länger aussetzen. Manchmal nehme ich meinen Sohn auch mit. Mittlerweile gehört er zur Attraktion des Hauses.“
Annika Popp hat von Anfang an mit offenen Karten gespielt. „Ich will eine Familie gründen, ich will Kinder. Und wenn ihr mich für den Job haben wollt, dann müsst ihr damit klarkommen“, hat sie im Wahlkampf immer wieder klargestellt. Kind und Karriere – in Leupoldsgrün kein Widerspruch mehr. Manuela Lenz sei Dank.
„Wir bekommen ein Baby“ hieß es im Ort, als die Bürgermeisterin schwanger war. Natürlich werde sie manchmal – wenn sie allein unterwegs ist – darauf angesprochen, wo das Kind sei. „Beim Papa natürlich!“ antwortet sie dann. „Ich leiste da gerne Entwicklungsarbeit.“
Für die junge Frau und studierte Lehrerin war schnell klar, dass sie sich für ihre Gemeinde engagieren will. Die Großeltern, die Eltern – alle waren aktiv in den Vereinen des Ortes. Die Freizeit gehört dem Gesangverein, der Kirchengemeinde oder der Landjugend. Aber Popp wollte mehr als ein Hobby. Sie trat der Jungen Union bei, schaffte es mit gerade einmal 20 Jahren in den Gemeinderat.
In Bayern wird das Amt als BürgermeisterIn in kleinen Gemeinden ehrenamtlich betrieben, die Aufwandsentschädigung ist aber im Vergleich zu anderen Bundesländern recht hoch. Trotzdem plädiert Popp dafür, alle BürgermeisterInnen-Ämter in ganz Deutschland hauptamtlich zu machen. „Vor Ort kann man richtig was bewegen. Es kostet aber auch viel Zeit und Nerven, das muss gewürdigt werden.“ Für ihr geliebtes Leupoldsgrün hat sie schon einiges erreicht. 15 Jahre lang hatte die Gemeinde im Landkreis Hof keinen eigenen Hausarzt. Dann kam Annika Popp ins Amt und schaffte es, einen Landarzt zu organisieren.
Vor vier Jahren wurde Popp in Berlin mit dem Helene-Weber-Preis ausgezeichnet, der das Engagement von Frauen in der Kommunalpolitik würdigt.
In nur etwa acht Prozent der bayerischen Rathäuser gibt es heute eine Chefin. In Leupoldsgrün arbeitet mittlerweile ein Großteil der Frauen in verantwortungsvollen Berufen. Und die Frauen setzen ihre Männer mit ins Erziehungsboot. Fast alle nehmen die Vätermonate. „Luft nach oben ist natürlich immer! Auch die Arbeitgeber müssen sich umstellen. Aber daran arbeiten wir!“, lacht Annika Popp.
Wie gut das gehen kann, hat der Osten ja bereits vor Jahrzehnten gezeigt.
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