Forensic Nurses klären Vergewaltigungen auf
Die 16-jährige Sina ist von einem Klassenkameraden vergewaltigt worden. Er hat sie nach einer Party nach Hause gebracht, gefragt, ob er noch eben auf die Toilette gehen dürfte. Sinas Eltern waren über das Wochenende weg. Als er aus dem Badezimmer kam, hat er sie geküsst, er wollte mehr. Sina nicht. Sie hat versucht, ihn wegzuschieben, hat ihn gekratzt, sich mit Tritten gewehrt. Aber der Junge war stärker.
Danach hat Sina ihre Freundin angerufen. Die ist mit ihr mit dem Fahrrad in die Notaufnahme eines Kölner Klinikums gefahren. Dort haben die beiden Mädchen drei Stunden gewartet, bis sie auf die Gynäkologische Abteilung gebracht wurden. Die Ärztin, die Sina untersuchte, wurde nach 20 Minuten in den Kreißsaal gerufen. Auch der Arzt, der dann kam, wurde nach wenigen Minuten im Kreißsaal gebraucht. Dann kam ein Assistenzarzt, der Sina mit den Worten begrüßte: „Dumm gelaufen, was?“ Er konnte keine Verletzungen feststellen und sagte nach fünf Minuten: „Eine Anzeige bringt wohl eh nichts. Man muss sich halt gut überlegen, wen man mit ins Haus nimmt.“
Sinas Freundin fragte nach der „Pille danach“. „Die gibt es bei uns nicht, das ist ein katholisches Krankenhaus“, entgegnete der Arzt und verschwand.
Drei Wochen später wollte Sina Anzeige gegen ihren Vergewaltiger erstatten. Der Rechtsanwalt der Eltern riet der Familie davon ab: Keine Spuren, kein Untersuchungs-Protokoll, noch dazu sei es im eigenen Haus passiert. Für Sina ist seitdem nichts mehr, wie es war.
Eine Ausnahme? Nein, wohl eher die Regel. Wer glaubt, nach einer Vergewaltigung oder einem anderen Sexualverbrechen „den Umständen entsprechend“ in einer Notaufnahme betreut zu werden, irrt.
„Ich habe schon dutzende aufgebrachte Eltern erlebt, deren Tochter vergewaltigt wurde, und die nicht glauben konnten, wie das in den Notaufnahmen läuft“, erzählt eine Kölner Klinik-Gynäkologin. Das Hauptproblem seien die fehlende rechtsmedizinische Schulung der ÄrztInnen und der riesige Personalmangel, der alle anderen Probleme überlagert. „Kaum ein Arzt hat Zeit, ein Opfer von Gewalt, sei es Häusliche Gewalt oder Vergewaltigung, adäquat zu behandeln, oft weiß er auch gar nicht, worauf er achten muss“, so die Ärztin.
Dabei gibt es sowohl in Köln (seit 2011) als auch in mehreren deutschen Großstädten „ASS-Dienste“, die „Anonyme Spurensicherung nach Sexualstraftaten“. ÄrztInnen der Gynäkologischen Abteilung holen – wenn die Betroffene es wünscht – ein „Spurensicherungsset“, entnehmen Spuren von Sperma, Blut, Urin oder Speichel und sichern sie im Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln.
Die Kölner Gynäkologin verbittert: „Jeder Meniskus wird in Deutschland besser behandelt als eine geschlagene oder vergewaltigte Frau. Was fehlt, ist ein System, das bundesweit greift. Es gibt hier und da Dienste, verstreute Fortbildungen oder Vereine, die Leitfäden herausgeben. All das reicht aber nicht. Und wir Ärzte haben zu viel Spielraum. Viele bieten einer vergewaltigten Frau eine Spurensicherung gar nicht erst an, wenn an dem Abend noch vier bis fünf Geburten anstehen. Und Häusliche Gewalt wird immer noch zu oft als Privatsache abgetan. Das darf doch nicht wahr sein!“
Das findet auch Prof. Sibylle Banaschak vom Kölner Institut für Rechtsmedizin. Auch sie sieht die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens und den daraus resultierenden Zeitmangel als Hauptproblem im Klinikalltag. „Die Rechtsmedizin ist ein Teil der medizinischen Ausbildung, aber inwieweit ÄrztInnen es zu ihrem Thema machen, Spuren bei Vergewaltigungen zu finden, Opfer von Häuslicher Gewalt als solche zu erkennen und gerichtsverwertbare Spurensicherung zu betreiben, das kommt letzten Endes auf jeden Einzelnen an.“
In der Schweiz wäre Sina vermutlich besser geholfen worden. Denn dort gibt es „Forensic Nurses“. Das sind Krankenschwestern, die eine Zusatzausbildung in den Grundlagen der Rechtsmedizin, aber auch Opferhilfe haben. Sie sind speziell geschult für Gewaltopfer – es sind zu 90 Prozent Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen und Männergewalt werden – und deren psychologische und physiologische Erstbetreuung. Die genitale Untersuchung bei Sexualdelikten machen zwar immer GynäkologInnen, aber die Forensic Nurse hat den forensischen Blick. Sie assistiert, sichert Proben von Blut, Urin, Haaren oder Partikeln, die unter Fingernägeln gefunden werden. Sie zeichnet die Verletzungen in Körperschemen, macht Fotos und Abstriche für etwaige spätere DNA-Abgleiche. Soll heißen: Sie sichert gerichtsfeste Beweise, damit Opfer zu ihrem Recht kommen können.
2013 hat das „Institut für Rechtsmedizin“ in Zürich den ersten Pilotkurs für Pflegefachpersonen in „Forensic Nursing“ ins Leben gerufen. „Dort wurde erkannt, dass Opfer von Gewalt nicht ausreichend behandelt werden, dass Pflegkräfte viel näher an PatientInnen dran sind als Ärzte, aber im hierarchisch strukturierten Klinikbetrieb trotz guter fachlicher Ausbildung kein Standing haben“, erzählt Valeria Kägi. Sie ist die Präsidentin des Vereins „Swiss Association Forensic Nursing“, der 2017 gegründet wurde und die erste diplomierte „Forensic Nurse“ im deutschsprachigen europäischen Raum, die direkt an einem rechtsmedizinischen Institut angestellt ist.
Zehn Jahre hatte Kägi als Pflegefachfrau in der Traumatologie gearbeitet, bevor sie 2015 „Forensic Nurse“ wurde. „Wir alle sind schon immer Zeuginnen der Gewalt gegen Frauen und Kinder gewesen. Oft beginnt es mit diesem komischen Gefühl im Bauch, dass etwas nicht stimmt. Dass die Verletzungen, die wir sehen, nicht von einem Unfall stammen. Dass es seltsam ist, wenn der Ehemann für die Frau antwortet. Aber mit einem ‚komischen Gefühl im Bauch‘ braucht man einem Arzt nicht zu kommen. Und das entspricht auch nicht unserem Berufsethos. Wir wollen professionell behandeln und begleiten. Dafür brauchen wir Tools und Skills. Es gibt eine Still-Beratung, eine Diabetes-Beratung, eine Wundberatung. In nahezu allen medizinischen Bereichen geht es voran – warum nicht auch eine „Beratung bei Sexualgewalt?“, empört sich Valeria Kägi.
Zumal es so viele Frauen betrifft. Statistiken zeigen, dass in der Schweiz mindestens jede fünfte Frau einmal in ihrem Leben Männergewalt erlebt, oft verknüpft mit Sexualgewalt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist bedeutend höher.
Seit 2015 können PflegerInnen sich in der Schweiz deshalb in Zusammenarbeit mit dem Institut für Rechtsmedizin und der Universität Zürich in „Forensic Nursing“ ausbilden lassen. Sie sind quasi der verlängerte Arm der Rechtsmedizin, der so bis in die Krankenhäuser reicht. Und sie spielen eine Schlüsselrolle bei Verbrechen, bei denen Opfer aus Scham oder Angst nicht die Wahrheit sagen.
Kägi: „Als Krankenschwester merkt man sehr schnell, dass etwas nicht stimmt und man will das abklären. Genau wie ein Arzt, der wissen will, warum die Entzündungswerte erhöht sind. Wenn ich aber nicht weiß, wonach ich suchen muss, finde ich auch nichts. Wie zum Beispiel kleinste punktförmige Einblutungen in den Bindehäuten, die auf eine Strangulation hindeuten. Anhand der Spuren kann ich verbindlich argumentieren, zudem für die Frau eine bessere, interdisziplinäre Hilfe in Gang setzen. Der Arzt schaut dann genauer hin, psychologische Hilfe wird auf den Weg gebracht, die Proben der Spuren werden gesichert, ohne dass das Wort Anzeige überhaupt gefallen ist. Diese Frauen befinden sich oft in absoluten Notsituationen, besonders wenn der eigene Mann der Täter ist und Kinder im Spiel sind, da braucht es auch menschliches Feingefühl.“
Die Proben werden mit Einverständnis der Patientin gesichert und in einer Box versiegelt, ans Institut für Rechtsmedizin geschickt und ein Jahr lang dort aufbewahrt. Das Opfer kann also auch noch später Anzeige erstatten, wenn der erste Schock vorbei ist. Große Spitäler haben mittlerweile fünf bis sechs Forensic Nurses, die im Schichtbetrieb arbeiten können.
Valeria Kägis Verein setzt sich für mehr Anerkennung auf politischer Ebene und ein engmaschigeres Betreuungsnetz ein. Das große Ziel ist, nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Alters- und Pflegeheime für Behinderte und mobile Sanitäts- und Rettungsdienste einzubinden. „Gerade Menschen, die sich nicht gut artikulieren können, sind oft Opfer von Gewalt, egal ob in Pflegeheimen oder zuhause. Wenn dort in regelmäßigen Abständen ‚Flying Forensic Nurses‘ zur Kontrolle vorbeikämen, hätte das auch die Botschaft: Gewalt wird nicht toleriert. Täter müssen mit Sanktionen rechnen“, sagt die erfahrene Krankenschwester. „Oder nehmen Sie die Situation auf dem Land: Geht eine Frau, die in der Ehe vergewaltigt und geschlagen wird, zum Hausarzt, der mit dem halben Ort, inklusive ihrem Mann verbändelt ist?“
Das Vorbild sind die USA. Dort sind Forensic Nurses strukturell etabliert und hochanerkannt. Zu verdanken haben sie es der heute 79-jährigen Texanerin Virginia Lynch. Sie ist die Pionierin des Forensic Nursings. Die Gewalt gegen Frauen und Kinder hatte ihr im Texas der 70er Jahre als Krankenschwester schwer zugesetzt, vor allem das Gefühl, nichts dagegen tun zu können. Oft war sie die Einzige im Krankenhaus, die überhaupt wusste, wie man mit dem „Rape Kit“, einer Art Erste-Hilfe-Set bei Vergewaltigungen, umging. „Vergewaltigte Frauen wurden nicht ernst genommen. Das Thema hat bis in die 1980er einfach niemanden interessiert“, erzählte Lynch auf der Sommertagung der „Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin“ in Zürich, deren Ehrengast sie 2019 war.
Virginia Lynch ließ sich Ende der 1980er Jahre als „Medical Investor“ ausbilden. „Nur wenige Vergewaltigungsopfer brauchen eine operative Behandlung durch einen Arzt“, berichtet sie. „In erster Linie geht es um eine einfühlsame Betreuung und eine einwandfreie forensische Untersuchung, um Spuren zu sichern.“ Lynch richtete in Texas ein sogenanntes „Rape Crisis Programm“ ein, das erste weltweit. Seit Anfang der 1990er Jahre bildet sie nicht nur Forensic Nurses an Hochschulen in den USA aus, sondern reist um die Welt, um zu unterrichten, Vorträge zu halten und den neuen Beruf bekannt zu machen. Inzwischen ist die akademische Ausbildung zur Forensic Nurse in allen 50 US-Staaten anerkannt. Ihre „globale Mission“ führte Lynch bis jetzt in 35 Länder, darunter Japan, Indien, Südafrika und Kosovo.
Auch in Großbritannien und Australien hat sie das System des Forensic Nursings etabliert. Und Deutschland? „Hier ist die Zeit dafür wohl noch nicht reif“, sagt Beate Blättner, die in an der Hochschule Fulda eine Professur für Gesundheitsförderung innehat und 2007 das Forschungsprojekt „Forensic Nursing in Deutschland?“ startete.
Anlass für das Projekt waren erschreckende Zahlen des Vereins S.I.G.N.A.L., der sich seit 2000 für die Dokumentation von Gewaltspuren, insbesondere bei Häuslicher Gewalt, einsetzt. Über Modellprojekte ist Deutschland aber nie hinausgekommen. Aus zwei Gründen: das Geld und das Gesetz.
„In unserer Strafprozessordnung steht, dass ärztliche Atteste über Körperverletzungen verlesen werden dürfen, für Dokumentationen von Pflegekräften gilt dies nicht“, erklärt Professor Blättner. Und: Vor Gericht zählt die Aussage von ÄrztInnen ganz anders als die von Pflegekräften. „Wenn ein Arzt oder eine Ärztin die Dokumentation nur unterschreibt, die an eine Pflegeperson delegiert wurde, ohne sich selbst ein genaues Bild gemacht zu haben, kann sich das vor Gericht nachteilig auswirken. Die Qualifizierung von Pflegekräften als Forensic Nurses ergibt also keinen Sinn, solange sich unsere rechtliche Lage nicht ändert. Und die wiederum könnte sich erst ändern, wenn sich die Ausbildung und Stellung der Pflegepersonen ändern würde“, sagt Blättner.
Bislang werde die Istanbul-Konvention in Deutschland nicht flächendeckend umgesetzt, die besagt, dass alle staatlichen Ebenen alles dafür zu tun haben, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, Betroffenen Schutz und Unterstützung zu bieten und Gewalt zu verhindern.
Betroffene gingen an den Schnittstellen von Rechtsmedizin, medizinischer und psychosozialer Versorgung verloren. „Wir brauchen Zentren, die niedrigschwellig zugänglich sind, zum Beispiel an den Notaufnahmen, und die die komplette Dokumentation und Versorgung anbieten“, so Blättner.
Die Rechtsmedizinerin Sibylle Banaschak in Köln sieht die Probleme vor allem in der Finanzierung. „Klar, zuerst müsste der Gesetzestext angepasst werden. Dann ginge es an die Finanzierung – und die sehe ich einfach nicht.“ Und nach Corona dürfte das wohl noch schwieriger werden. Und generell findet sie: „Die Notaufnahmen müssen das Thema präsenter haben, wer dort arbeitet, darf keinen Bogen um forensische Fragen machen dürfen. Das gilt auch für die Gynäkologie. Dafür braucht es ein politisches Signal!“
In Deutschland wird durchschnittlich an mindestens jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Ehemann oder Freund getötet. 40 Prozent aller Frauen haben seit ihrem 16. Lebensjahr bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Nur jeder 100. mutmaßliche Vergewaltiger wird auch verurteilt. Das könnte anders werden – mit den Forensic Nurses.