Das Gehirn verändert sich lebenslang

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Es ist die alte Geschichte im neuen Gewand: Die Frau sei natürlicherweise sozial, kommunikativ, emotional, immer bemüht in ihrem privaten Umfeld, andere zu versorgen und zu bemuttern. Den Mann dränge es hinaus in die Welt, um sich im öffentlichen Wettbewerb und Kampf mit seinen Geschlechtsgenossen zu beweisen. Populärwissenschaftliche Bücher geben mit Verweis auf angebliche naturwissenschaftliche ‚Wahrheiten‘ hierzu einfache Erklärungen. Geschlechterunterschiede hätten sich in der Evolution entwickelt, sie seien körperlich festgelegt oder zumindest vorbestimmt: im Gehirn, in den Hormonen, in den Genen. Die Biologie wird ­benutzt, um Geschlechterdifferenzen und Geschlech­terordnungen in der Gesellschaft als naturgegeben zu legitimieren.

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Mit der Trennung der Kategorien Sex und Gender machen GenderforscherInnen seit mehr als drei Jahrzehnten deutlich, dass Weiblichkeit und Männlichkeit eben keine rein natürlichen Bestimmungen sind. Geschlechterzuschreibungen und Geschlechter­rollen, ihre Bewertungen und Hierarchien werden durch gesellschaftliche Mechanismen gestaltet. Wir wachsen gewissermaßen in unsere Geschlechterrolle (mehr oder weniger) hinein.

Über die biologische Kategorie des Sex, also über die körperlichen Facetten der Geschlechtlichkeit zu forschen, war innerhalb der sozialwissenschaftlich geprägten Genderforschung lange Zeit verpönt, roch es doch nach Biologismus. Damit haben wir uns aber Probleme eingehandelt. Denn biologische Erklärungen von Geschlechterdifferenzen erleben eine Renaissance. Stehen wir diesen Naturalisierungen nun ohne Argumente gegenüber? Keineswegs!

In den letzten 30 Jahren haben eine Reihe von WissenschaftlerInnen entsprechende Genderanalysen zur Verhaltensforschung, zur Evolutions- und Soziobiologie, zur Entwicklungsbiologie und Hormonforschung, zur Genetik und zu anderen naturwissenschaftlichen Feldern vorgelegt. Unter dem Überbegriff ‚Science of Gender‘ decken wir unreflektierte Naturalisierungen von Geschlecht auf, hinterfragen die Methodik und die Ergebnisinterpretation, kritisieren unzulässige Verallgemeinerungen von Tieren auf den Menschen sowie von Einzelbeispielen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Mit dem Ansatz ‚Gender in Science‘ analysieren wir genereller die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen und den Konstellationen, unter denen Wissenschaft betrieben wird.

Naturwissenschaften sind, ebenso wie alle anderen Wissenschaftszweige, gesellschaftliche Unternehmen. Jedes Experiment ist abgeleitet aus einer bestimmten Theorie und das beeinflusst die Datenauswahl, deren Auswertung und Präsentation sowie die Interpretation der Befunde. Und die Theorien sind nie wertfrei, sondern immer geprägt von den gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen ihrer Zeit.

Die Debatten über die biologische Fundie­rung von Geschlechterunterschieden ­machen die enge Verwobenheit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft besonders deut­lich. Ging es im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend darum, mit biologischen Argumenten die generelle Minderwertigkeit der Frau oder ihre Defi­zite in rationalen Fähigkeiten festzuschreiben, um sie von Bildungsinstitutionen und politischem Handeln auszuschließen, so ist die Argumentation in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts subtiler geworden. Männer und Frauen hätten je spezifische Fähigkeiten und Präferenzen ausgebildet, die Männer zur räumlichen Orientierung, zum Kampf und Wettstreit oder zur Aggression; die Frauen dagegen für emotionale und kommunikative Bereiche, zur Vermittlung und Versorgung.

Diese Postulierung partikulärer Vorteile der Geschlechter, eingebettet in ihre Natur, ist aber in Wahrheit nur ein weiterer Mechanismus der Zuweisung gesellschaftlicher Rollen und Räume, die unsere Gesellschaft angeblich zum Überleben brauche. Es ist nicht zu übersehen: biologische Postulate bekommen wieder Aufwind, wenn Arbeitsplätze knapp werden und soziale Versorgungssysteme angeblich nicht mehr finanziert werden können. Egal wie unsauber und methodisch angreifbar populäre Bestseller gestrickt sind: Sie verkaufen sich hervorragend mit den Argumenten, die natürliche Begabung der Frau zur Emotions- und Versorgungsarbeit prädestiniere sie dafür, diese Arbeit unter- bis unbezahlt, aber glücklich zu erfüllen – während der Mann sich in den öffentlichen Kampf auf dem Arbeitsmarkt stürzt – weil es ja seinen biologischen Präferenzen entspricht.

Das Argumentieren gegen solche Ste­reotype ist langwierig und zäh, und es muss auf verschiedenen Ebenen stattfinden. In Deutschland haben sich Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen im Verein ‚Frauen in Naturwissenschaft und Technik‘ (NuT e.V.) zusammengeschlossen. Seit 1977 treffen sich jährlich 300–400 Studentinnen, Praktikerinnen und Wissenschaftlerinnen auf dem ‚Kongress Frauen in Naturwissenschaft und Technik‘ in wechselnden Städten und diskutieren neue Forschungsergebnisse, Entwicklungen und politische Strategien.

Der Legitimationsbezug für biologische Geschlechterstereotype ist die Wissenschaft. Daher müssen Genderansätze in die universitäre Forschung und Ausbildung hinein getra­gen werden. Auch wenn sich inzwischen an einigen Universitäten Zentren für Geschlechterforschung institutionalisiert ha­ben, sind diese vorwiegend in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften angesiedelt. Viele GenderforscherInnen der Natur- und Technikwissenschaften sind in ihren Disziplinen immer noch vereinzelt und die Institutionalisierung von Gender Studies in diesen Fächern ist bis heute marginal.

Also haben wir uns in einem ‚Netzwerk Gender Studies (TechnoMedSciences)‘ zusammengeschlossen, um gemeinsam Forschungsinitiativen und Lehrkonzepte zu entwickeln, eine Fachzeitschrift ist geplant. Dabei ist die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Gesellschaftswissenschaften zentral, denn nur so lassen sich die gegenseitigen Einflüsse zwischen naturwissenschaftlichen Theorien und gesellschaftlichen Geschlechterordnungen sichtbar machen und aufbrechen.

An der Universität Freiburg haben wir eine solche Vernetzung in den letzten Jahren erfolgreich umgesetzt. Das ‚Kompetenzforum Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften‘ (gin), das ich zusammen mit Britta Schinzel am Institut für Informatik und Gesellschaft aufgebaut habe, arbeitet eng mit dem ‚Zentrum für Anthropologie und Gender Studies‘ (ZAG) zusammen. Konsequent haben wir gemeinsam im Nebenfachstudiengang Gender Studies Inhalte der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Technik-, Naturwissenschaften und der Medizin angeboten und diese beiden Säulen transdisziplinär verknüpft. Wir entwickeln ein entsprechendes Master-Studienprogramm, ko­ope­rieren in Forschungsprojekten und haben mit der Arbeitsgruppe TechnoScience einen Raum geschaffen, in dem etablierte und angehende WissenschaftlerInnen sowie Studierende aller Diszi­plinen diskutieren und neue Ideen entwickeln. Grenzüberschreitend arbeiten wir auch mit den Zentrum Gender Studies der Universität Basel zusammen. Vertiefende Informationen zu An­sätzen, Ergebnisse und Zentren der Gen­derforschung liefert das gerade eröffnete Internetportal ‚Gender@Wiki‘.

Am Beispiel des Gehirns zeige ich exemplarisch die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Körper und Umwelt, zwischen Natur und Kultur auf. Das Gehirn der Frau sei von Geburt an anders verdrahtet als das des Mannes und bleibe das zeitlebens, heißt es immer wieder. Diese Strukturunterschiede und die damit verbundenen Funktionsunterschiede seien die Grundlage für Verhaltens- und Leistungsunterschieden der Geschlechter. Frauengehirne würden stärker mit beiden Hirnhälften gleichzeitig arbeiten und das führe zu ihren besseren Sprachleistungen, ja generell zu ihrem ganzheitlichen Denken. Männergehirne seien asymmetrischer organisiert, sie würden vorwiegend die eine oder die andere Hirnhälfte nutzen und könnten deshalb besser räumliche Aufgaben lösen oder sich stärker auf eine Aufgabe konzentrieren.

Die aktuelle Forschungslage widerlegt diese einfachen Zuschreibungen. Im Bereich der Sprachanalysen sind die Befunde enorm widersprüchlich. Publikationen, die bei Frauen beidseitige und bei Männern einseitige Sprachverarbeitung im Gehirn präsentieren, stehen Arbeiten gegenüber, die keine Unterschiede finden.
So haben Iris Sommer und KollegInnen 2004 die neurowissenschaftlichen Sprachanalysen der letzten 10 Jahre einer übergreifenden Analyse unterzogen und konnten keine generellen Geschlechterunterschiede bestätigen. Die jewei­ligen Befunde sind abhängig von der Anzahl untersuchter Personen oder von den Auf­gabenstellungen, die Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen sind größer als die Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Es gibt also bei der Sprachverarbeitung weder das typische Frauengehirn, noch das typische Männergehirn.

Ähnliches gilt für Geschlechterunterschiede bei der räumlichen Orientierung. Während eine Forschungsgruppe um Georg Grön 2000 unterschiedlich aktivierte Hirn­areale bei Frauen und Männern in einer computersimulierten Raumaufgabe präsentierte, fand eine Nachfolgestudie von Richard Blanch und KollegInnen 2004 keine entsprechenden Unterschiede.

Durch den so genannten Balken verbinden Nervenfasern die beiden Hirnhälften und vermitteln die Informationsübertragung zwischen ihnen. Wenn, so die Hypothese, Frauen mit beiden Hirnhälften stärker zusammen arbeiten, sollte auch ihr Corpus Callosum, oder zumindest Teile davon, größer sein. Mit einer Metaanalyse über 40 Studien der letzten 25 Jahre mit mehr als 1.000 Versuchspersonen fanden Katherine Bishop und Douglas Wahlstein 1997 jedoch heraus, dass auch im Corpus Callosum die Variabilität innerhalb der Geschlechter weitaus größer ist als die Differenzen zwischen ihnen.

Die Analyse der Forschungslage deckt noch Weiteres auf. Arbeiten, die einen Unterschied präsentieren, werden weitaus häufiger zitiert als solche, die keine Unterschiede finden. Die Naturwissenschaft ist nicht neutral, wenn es um die Erkenntnisproduktion und Wissensverbreitung geht. Auch sie ist geprägt von der grundsätzlichen Vorstellung zweier getrennter Kategorien Frau und Mann, zwischen denen Unterscheide gesucht werden. Entsprechende Ergebnisse stehen im Vordergrund, wohingegen Überschneidungen und Variabilitäten in den Hintergrund treten.

Die Theorie eines festgelegten und zeitlebens unveränderten Gehirns wird heute vom Konzept der Hirnplastizität abgelöst. Die Entwicklung der Netzwerke im Gehirn ist ständig abhängig von äußeren Einflüssen. Die Knotenpunkte zwischen den Nervenzellen, die so genannten Synapsen, verändern sowohl ihre Effektivität der Informationsübertragung als auch ihre Anzahl und Vernetzung, je nachdem was und wie gelernt wird. Die Hirnplastizität beginnt schon vorgeburtlich, hat ihre höchste Dynamik in Kindheit und Jugend und ist zeitlebens für unsere Lernfähigkeit verantwortlich. Hirnstrukturen und -funktionen entwickeln und verändern sich in ständiger Wechselwirkung zwischen Biologie und Erfahrung.

Nach Studien, die der Plastizitätstheorie ­folgen, differenzieren sich Sprachareale im Gehirn unterschiedlich aus, je nachdem wann und wie mehrere Sprachen erlernt wurden, so die Forschungsgruppe von Cordula Nitsch 2001. Eleanor Maguire und ihr Team zeigten 2000, dass sich Areale der räumlichen Verarbeitung (zum Beispiel im Hippocampus) bei Taxifahrern mit intensiver Navigationserfahrung stärker vernetzten. MusikerInnen, die vom Kindesalter an intensiv beidhändig trainierten, entwickelten ein dickeres Corpus Callosum in den Bereichen, welche die Hirn­areale für Motorik verbinden, so die Befunde von Gottfried Schlaug und Kollegen 1995. Selbst in kürzeren Zeitabschnitten verändert sich nach einer Studie von Bogdan Draganski und Kollegen 2004 die Vernetzungsdichte in bestimmten Gehirnzentren: Ungeübte Studierende wiesen nach zweimonatigem Jonglier-Training eine erhöhte Synapsendichte auf, die wieder abnahm nach Beendigung des Trainings.

Das Konzept der Hirnplastizität erklärt die Variabilität unserer Gehirne aus unseren unterschiedlichen Erfahrungen. Dieses faszinierende Netzwerk in unserem Kopf will einfach nicht stillhalten, es überschreitet ständig die Grenze zwischen Natur und Kultur und lässt sich nicht in ein einfaches Geschlechterkorsett zwängen. Es gibt weder das männliche noch das weibliche Gehirn, es gibt auch kein Unisex-Gehirn. Jedes Gehirn ist einzigartig. Es verändert sich ständig, bindet das, was wir erfahren und lernen, in seine Strukturen und Verarbeitungsmuster ein und wirkt gleichzeitig auf unser Denken und Handeln ein. All diese Prozesse finden unter bestimmten sozialen und kulturellen Bedingungen statt, die allerdings immer noch durch geschlechtliche Zuschreibungen gekennzeichnet sind. Das Gehirn wird so lange auch ‚doing gender‘ verkörpern, bis Erfahrungsräume für alle geöffnet werden und in einem vielfältigen Spektrum von Lernmöglichkeiten Geschlecht unbedeutend wird.

Körper und Kultur, Sex und Gender sind untrennbar miteinander verwoben, sie bedin­gen und beeinflussen sich gegenseitig. Wir können das eine nicht ohne das ande­re verstehen.

Sigrid Schmitz

Die Autorin ist Hochschuldozentin zur „Mediatisierung der Naturwissenschaften und Genderforschung“ an der Universität Freiburg.

Weiterlesen
Dossier Biologismus: "Aus zwei mach eins" (4/07)

 

www.finut.net
http://gs-tms.de
http://gin.iig.uni-freiburg.de
www.zag.uni-freiburg.de
www.genderstudies.unibas.ch
www.erzwiss.uni-hamburg.de/degendering _science 
www.genderwiki.de

 

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