Alice Schwarzer schreibt

Frankreich: Republik in Gefahr?

Die Franzosen demonstrieren auf dem Place de la République für Meinungsfreiheit (Bertrand Guay/AFP/Getty Images)
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Am 16. Oktober 2020 enthauptete der 18-jährige Tschetschene Abdoulakh Azorov den Geschichtslehrer Samuel Paty. Grund: Der beliebte Lehrer hatte am 5. Oktober im Staatsbürgerkunde-Unterricht Karikaturen von Mohamed aus Charlie Hebdo behandelt, um an diesen Beispielen über das „Recht auf Meinungsfreiheit“ zu sprechen. Minuten nach seiner Tat postete Azorov ein Foto des Ermordeten und diese Nachricht: „Von Abdoulakh, Allahs Diener, an Macron, den Chef der Ungläubigen“: „Ich habe einen eurer Höllenhunde exekutiert, der gewagt hat, Mohamed zu erniedrigen.“

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Zwei Tage später gingen die Franzosen auf die Straße: für die Meinungsfreiheit und für die Republik! Auf dem Pariser Place de la République sangen Tausende die Marseillaise. Der Innenminister kündigte 231 Ausweisungen von Islamisten an sowie die Zerschlagung einschlägiger Organisationen. Präsident Macron versprach „harte Maßnahmen“. Es ist nach hunderten Opfern in den vergangenen Jahren allein in Frankreich der eine Tote zu viel.

Dem Mord an dem Geschichtslehrer war eine neuntägige Hetze im Netz vorausgegangen

Samuel Paty, selber Vater eines Sohnes, war als besonders engagierter Geschichtslehrer bekannt, der sich intensiv um seine SchülerInnen kümmerte. Aber wer war sein Mörder?

Der 18-jährige Azorov war extra aus seinem über 90 Kilometer entfernten Wohnort Evreux in den Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine gereist, um den ihm unbekannten Lehrer abzufangen. Er fragte Schüler nach dem Richtigen, folgte Paty und schlug wenig später zu. Er enthauptete den Lehrer mit zwei Schlachtermessern. Auf der Flucht attackierte er die Polizisten und wurde erschossen.

Dem vorausgegangen war eine neuntägige Hetze im Netz. Der Vater einer Schülerin von Paty, Brahim Chnina, hatte behauptet, der Lehrer würde systematisch muslimische Kinder verunglimpfen und hätte alle muslimischen Kinder in dieser Unterrichtsstunde rausgeschickt. Was falsch ist. Paty hatte lediglich die muslimischen Kinder informiert, dass er etwas zeigen wolle, was manche von ihnen vielleicht verletzen könnte – sie also die Augen schließen oder solange rausgehen könnten.

Seit Chninas Denunzierung - dessen Halbschwester 2018 zum IS gegangen war - ging es rund im Netz. Der bereits einschlägig bekannte Imam Abdelhakim Sefrioui, der inzwischen in Haft sitzt, behauptete, Paty habe zum „Hass gegen alle Muslime“ aufgerufen und erließ eine Art Fatwa gegen den Lehrer. Die erreichte den 18-jährigen Azorov, der seit seinem sechsten Lebensjahr mit seinen Eltern in Frankreich lebt und seit Frühling Asyl in dem Land hat.

Wie aber konnte der Jugendliche so fanatisiert werden und wer sind seine Eltern? Es sind Tschetschenen, die vor zwölf Jahren aus Moskau nach Frankreich gekommen sind und dort Asyl beantragt haben. Sie leben in einer tschetschenischen Community von etwa 60 Großfamilien, aus deren Mitte 2018 schon ein Mann in der Nähe der Pariser Oper jemanden umgebracht und mehrere Menschen verletzt hat, aus „islamistischen Motiven“, wie es heißt.

In Tschetschenien gilt seit 1993 die Scharia, inklusive Hinrichtung "untreuer" Ehefrauen

Warum sind Abdoulakhs Eltern eigentlich aus Russland geflohen? Weil sie unterdrückt bzw. verfolgt wurden?

Die innerhalb der russischen Föderation autonome Republik Tschetschenien kämpft seit fast dreißig Jahren nicht nur um ihre Unabhängigkeit, sondern auch für den Gottesstaat. Bereits 1993(!) führte Tschetschenien die Scharia ein, Zwangsverschleierung inklusive, und richtet seither u.a. „untreue“ Ehefrauen hin.

Im ersten Tschetschenien-Krieg ging es noch um die Unabhängigkeit von Moskau, im zweiten, gut munitioniert mit Petrodollars aus Saudi-Arabien, ging es bereits um die Etablierung eines islamischen „Gottesstaates“.

Es folgte eine Terrorwelle in ganz Russland, die Hunderte von Toten kostete und die damals von so manchem im Westen zynischerweise Putin zugeschrieben wurde. In dieser Zeit gingen die Eltern des Täters nach Frankreich. Waren sie schon in Moskau aktive Islamisten gewesen? Seit der Zeit sind die tschetschenischen Brigaden ganz vornean bei der Ausbildung der „heiligen Krieger“ des „Islamischen Staates“. Diese mafiös organisierten Söldner sind als besonders brutal und enthemmt berüchtigt.

Tschetschenen, die aus Russland fliehen, können also eigentlich nur Islamisten oder Sympathisanten sein – so wie der 18-jährige Abdoulakh Azorov, der sich noch im friedlichen Evreux radikalisierte. Vermutlich dank seiner Familie und via Internet.

„Die Tschetschenen waren für uns bisher im toten Winkel“, sagt nun der französische Geheimdienst. Erstaunlich. Er könnte es schließlich seit 25 Jahren besser wissen. In dem von mir herausgegebenen Buch „Die Gotteskrieger – und die falsche Toleranz“ hatte ich schon 2002 einen Text des FAZ-Korrespondenten Lerch veröffentlicht, Titel: „Die Islamisierung Tschetscheniens“. Was müssen da erst die Geheimdienste gewusst haben! Auch in Deutschland rückten die Tschetschenen erst 2016 in den Fokus der Geheimdienste, auch hier gelten sie als häufig radikalisiert und gewaltbereit. 

Bei der Unterwanderung des Rechtsstaates durch Islamisten wurde untätig zugesehen

Droht jetzt eine Talibanisierung Frankreichs? Die Vergiftung der Gehirne von Kindern und Jugendlichen durch den politischen Islam? Seit über 20 Jahren hat das Land der Agitation des politischen Islam auch in den Schulen tatenlos zugesehen.

„Die Republik ist in Gefahr! Samuel Paty wollte Kinder mit einem freien Geist erziehen“, schreibt Caroline Fourest, eine der wenigen streitbaren JournalistInnen gegen den Islamismus, und warnt: „Journalisten können warnen, Polizisten können verhaften – aber wir werden uns niemals von diesem Alptraum befreien, solange Lehrer nicht die nächste Generation gegen diese Art von Propaganda immun machen können.“

Gestern mailte mir meine über die Tat entsetzte algerische Kollegin Djamila, die in den 90er Jahren vor den Islamisten geflohen und fünf Jahre im Kölner Exil war, aus Algier: „Hier sind alle entsetzt. Aber wir wundern uns nicht. Jahrzehnte lang hat der Westen alles getan, um es diesen Fanatikern recht zu machen: Das Kopftuch ist in der Schule erlaubt, Frauentage werden in Badeanstalten eingerichtet, 'Beträume' an den Universitäten eröffnet, bei der Unterwanderung der Sitten und des Rechtstaates durch diese Islamisten sah man untätig zu. Jetzt machen diese Fanatiker bei euch ihr Gesetz.“

Genauso ist es.

Alice Schwarzer

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„Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“, Hrsg. Alice Schwarzer (KiWi, vergriffen – im FrauenMediaTurm)

 

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Die Islamisierung Tschetscheniens

Studentinnen bei einem "Schönheitsmarsch" in Grozny. - Foto: Itar Tass/imago images
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Der jüngste Krieg in und um Afghanistan, bei dem es darum ging, die radikal-islamischen Taliban von der Macht zu vertreiben und den Weg für eine neue politische Ordnung zu ebnen, hat auch ein neues Licht auf die kriegerischen Ereignisse in Tschetschenien geworfen.

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Im Zusammenhang mit den Kämpfen um Mazar-i Sharif und Kundus im Norden des Landes am Hindukusch wurde erstmals einer breiten Öffentlichkeit klar, dass neben den einheimischen oder aus Pakistan stammenden Taliban auch viele tausend Kämpfer islamistischer „Brigaden“ in Afghanistan die Bataillone der afghanischen „Gotteskrieger“ um Mullah Muhammad Omar und Osama bin Laden verstärkten. Darunter waren – neben Angehörigen arabischer Länder – auch nicht wenige Tschetschenen. Sie fielen, wie man hörte, durch besondere Härte und Grausamkeit auf.

Haben sie am Hindukusch ihre Heimat gegen die Russen verteidigt? Oder ging es nicht einfach darum, im Rahmen jener von den Islamisten eingeforderten „islamischen Solidarität“ sich am Aufbau des Taliban-Staates und daran anschließend an der Expansion von dessen radikal-islamistischer Ideologie nach Mittelasien hinein zu beteiligen – mit dem Fernziel Russland? Zu den Hintergründen des Afghanistan-Krieges gehört neben dem Kampf gegen die Organisation al-Qaida, die mit Mullah Omar und dem Taliban-Regime eng verschränkt war, auch die Beseitigung neuer Bedrohungspotentiale, wie sie sich für die zentralasiatischen Anrainerstaaten an Afghanistans Nordgrenze abzeichneten: in Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan. In diesen Staaten hatte man dem Treiben der Taliban, aber auch den Kämpfen in Kaukasien schon seit geraumer Zeit mit großer Sorge zugesehen. Diese Sorge wird nicht dadurch obsolet, dass auch diese Regime alles andere als lupenreine Demokratien sind, sondern postkommunistische Autokratien.

Zwar ist die Region Mittelasien durch das Kaspische Meer vom Kaukasus getrennt, doch was in früheren Zeiten ein geografisches Hindernis für die Ausbreitung militanter Bewegungen und deren Propaganda gewesen sein mag, ist es heute, im Informations- und Mobilitäts-Zeitalter, schon lange nicht mehr. Die Bedrohung der mittelasiatischen Länder, die allesamt Mitglieder der GUS sind, war etwas, das – unabhängig von den Ereignissen in Tschetschenien – auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht unbeeindruckt lassen konnte. Dieser saugt denn auch aus der Afghanistan-Krise am meisten politischen Honig; im Kampf gegen den Terrorismus im eigenen Lande – sprich: gegen die Tschetschenen – bekam er endgültig „carte blanche“, wenn nicht ausdrücklich, dann wenigstens unausgesprochen. Unter seinen russischen Landsleuten ist die Religion des Islams heute weitgehend diskreditiert, dazu haben die Tschetschenen nicht wenig beigetragen. Die Anschläge vom 11. September in den Vereinigten Staaten verstärkten, wie überall, diese Aversionen.

Um eines vorwegzunehmen: Wie alle Völker, so haben auch die Tschetschenen das Recht auf politische und kulturelle Selbstbestimmung. Sie »gehören« seit nun annähernd 200 Jahren zu Russland, erst zum Russischen Reich der Zaren, dann zur Sowjetunion, jetzt zur Russischen Föderation, ohne dass man sie jemals gefragt hätte, ob sie das überhaupt wollen. Stalin ließ sie, zusammen mit den stammesverwandten Inguschen, unter pauschalen Vorwänden 1944 aus ihren Siedlungsgebieten vorübergehend nach Mittelasien deportieren. Nicht allein aus ihrer Sicht leisten sie seit dem Untergang der Sowjetunion Widerstand gegen ungeliebte Besatzer und gegen Fremdherrschaft. Auch das neue Russland hat sich seit 1991 zahlreicher Verbrechen in Tschetschenien schuldig gemacht, nicht nur im ersten Krieg, der von 1991 bis 1996 dauerte, sondern auch im zweiten, der 1999 begann und noch anhält.

Doch der tschetschenische Prozess einer religiösen und kulturellen Selbstbesinnung, der ein Anknüpfen an islamische Traditionen sein sollte, geriet mehr und mehr in die Hände von Fanatikern. Der Aufbau einer islamischen Gesellschaft in Tschetschenien entwickelte sich, um es gelinde auszudrücken, zu einem Desaster. Die zehnjährige Geschichte der „Republik Itschkeria“ – so der einheimische Name Tschetscheniens – wurde eine einzige militärische, menschliche und politische Katastrophe. Und längst nicht alle Tschetschenen, die im Prinzip die freiheitlichen Aspirationen ihres Volkes begrüßen, sind mit der terroristischen Art und Weise einverstanden, in der auch auf ihrer Seite der Krieg geführt worden ist, von dem radikal-islamischen, islamistischen Eifer der wichtigsten „Feldkommandeure“, wie Schamil Bassajew oder Salman Radujew, gar nicht zu reden.

Dieser mehr und mehr terroristische Charakter des tschetschenischen Kampfes hat es den Russen leicht gemacht, alle Tschetschenen pauschal als „Terroristen“ und „Banditen“ abzustempeln. Schon in sowjetischer Zeit hatten die Kaukasier keinen guten Ruf in Moskau oder Leningrad (heute St. Petersburg), hatte man doch mit ihnen und mit den Aserbaidschanern Begriff e wie „Rauschgift-Mafia“ oder „kaukasische Mafia“ assoziiert. Im letzten Jahrzehnt verstärkte sich das. Sehr bald wurde auch im gerade wiedervereinigten Berlin von der Tschetschenen-Mafia geraunt – nicht zu Unrecht.

Das tschetschenische Desaster begann im Winter des Jahres 1991. Das konnte damals freilich noch niemand ahnen. Die Sowjetunion zerfiel, ihre bis dahin gleichgeschalteten und unterdrückten Völker nutzten die Chance, die sich seit Gorbatschows Perestroika abgezeichnet hatte und nun Wirklichkeit wurde. Am 27. Oktober wählen die Tschetschenen bei allgemeinen Parlamentswahlen auch einen Präsidenten: Dschochar Dudajew, einen ehemaligen Fliegergeneral der Sowjetarmee; er erhält 85 Prozent der Wählerstimmen. Am 2. November erklärt Dudajew, der in der Folge immer wieder mafioser Machenschaften beschuldigt werden wird, einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Davon werden auch all jene Kräfte ermutigt, die dem islamischen Tschetschenien eine islamische Ordnung geben wollen.

„Zurück zum Scheriat“ (Scharia) lautet die Devise. In den Auls, den Dörfern der Tschetschenen, tanzen die Männer wieder den Zikr, jenen Ritus, der an den alten kaukasischen Derwischorden der Muriden, einen Kampfbund mystischer Prägung, anknüpft. Aus seinen Traditionen und aus der islamischen Ordnung soll das unabhängige Tschetschenien entstehen. Doch die Entwicklung gerät aus den Fugen, je länger der Prozess der Abnabelung von Moskau, in Verbindung mit dem Krieg, andauert.

Doch im Unterschied etwa zu dem benachbarten Dagestan, das schon vor tausend Jahren anerkannte islamische Schriftgelehrte hervorbrachte, ist der Islam in Tschetschenien ein relativ junges Phänomen. Er ist ungelehrt, ohne bedeutende Traditionen der Theologie oder islamischen Rechtskunde (fiqh). Die letzten Dörfer der Tschetschenen und auch der Inguschen wurden erst im 19. Jahrhundert zum Islam bekehrt. Es war zudem ein Islam, der stark von der Bruderschaft der Muriden beeinflusst war. In ihm mischten sich Vorstellungen einer populären Mystik mit Elementen des religiösen Gesetzes (Scharia) und kaukasischem Gewohnheitsrecht der Stämme (adet).

Den größten Einfluss erlangten die Muriden zwischen 1829 und 1859 unter ihrem dritten Imam, dem berühmten Schamil, einem Fürsten des Volkes der Awaren, dessen Name heute wieder in aller Munde ist im Kaukasus. Schamil leitete 30 Jahre lang den Widerstand der Tschetschenen und anderer Kaukasier des Nordens gegen die herandrängenden russischen Truppen, bis er schließlich mit seinen Kämpfern, die alle dem Muriden-Orden angehörten, kapitulieren musste. Die Russen nahmen ihn gefangen und schickten ihn anschließend ins Exil. Dort starb er 1871 in der heiligen Stadt Medina. Tschetschenien wurde zaristisch, schließlich kommunistisch.

Unter Schamil, dessen Wort Gesetz gewesen war, bestand für etwa eine Generation eine Art Kryptostaat im Nordkaukasus, in dem sich eine islamische Ordnung etablierte, die ganz seiner persönlichen Autorität als Führer der Muriden unterworfen war und sich nur zum Teil am religiösen Recht orientierte. Bevor sich dieser Staat strukturell ausgestalten konnte, brach er unter dem russischen Druck auch schon wieder zusammen. Der Kampf zwischen Russen und Tschetschenen vor eineinhalb Jahrhunderten war ungeheuer blutig, doch fiel immer wieder ein Element der Ritterlichkeit auf, das beide Seiten bewegte.

Nicht so in den beiden letzten der kaukasischen Kriege. Beide Tschetschenien-Kriege zeichnen sich durch ein seltenes Ausmaß von Brutalität aus. Die Russen, die am 11. Dezember 1994 nach jahrelangen Scharmützeln mit großer Heeresmacht einmarschierten, um dem Separatismus endlich ein Ende zu machen, unterschätzten die militärische Kampfkraft der Tschetschenen sträflich und waren auf deren Taktik kaum vorbereitet. Nicht vorbereitet waren sie außerdem darauf, dass sie unter den Kämpfern der Kaukasier auch auf Leute trafen, die aus aller Herren Länder der islamischen Hemisphäre kamen: aus Jordanien, Algerien, Ägypten, zunehmend auch aus Afghanistan.

Sie trugen um die Stirne das grüne, mit dem Glaubensbekenntnis geschmückte Band der Mujaheddin (Grün gilt traditionell als die „Farbe des Propheten“), jener zum „Martyrium“ bereiten „Gotteskrieger“, die man etliche Jahre zuvor schon auf den Straßen und Plätzen Teherans, ja auch im iranisch-irakischen Krieg gesehen hatte. Alarmiert waren davon nur wenige; besonders die professionellen Beobachter der Szene, die Journalisten, übersahen augenscheinlich die Gefahren, die von diesen Glaubenseiferern und ihrem Netzwerk ausgingen: Ihre Motivation war der „kompromisslose Djihad“ mit allen, auch terroristischen Mitteln. Der jordanische Feldkommandeur Chattab, ein Schützling Osama bin Ladens, war der bekannteste dieser „Gotteskrieger“ panislamischer, islamistischer Färbung. Er war bald ebenso berüchtigt wie die tschetschenischen Kommandeure Bassajew und Radujew.

Die russischen Quellen sprachen und sprechen immer von „Wahabiten“, wenn sie jene terroristischen panislamischen Elemente im Kaukasus meinen – ein Begriff, der freilich zweideutig war und ist. Die Russen meinen damit oft genug alle Muslime in ihrem Land, die sich für ihre Religion einsetzen; so wird der Begriff auch pejorativ gebraucht. Eigentlich ist der Wahabismus in Saudi-Arabien zu Hause, wo er die herrschende Lehre stellt. Doch mit Hilfe des saudischen Geldes, das auch an die Tschetschenen floss, wurde der Einfluss dieser strengen islamischen Auslegung in Tschetschenien in einer Weise spürbar, die dort früher unbekannt gewesen war.

Als es dann darum ging, die – theoretisch schon 1993 eingeführte – Scharia auszugestalten, war der Einfluss Saudi-Arabiens über die Kämpfer der internationalistischen „islamischen Brigade“ und über die Finanzmittel schon nicht mehr einzudämmen. Und die religiösen Kenntnisse im Lande waren gering, zumal nach Jahrzehnten der Fremdherrschaft, in denen Kundgebungen der Religion niedergehalten worden waren. Der Islam ist, nach einem berühmten Wort von Ernest Gellner, der Entwurf einer Gesellschaftsordnung. Die Scharia ist ihre Form. Große Teile dieses religiösen „Gesetzes“, etwa all jene, die nur das Glaubensbekenntnis und den Ritus betreffen, sind unproblematisch. Als schwierig und mit modernen Rechtsvorstellungen gänzlich unvereinbar erweisen sich hingegen alle Teile, die – neben der auf dem Vergeltungs-Prinzip beruhenden islamischen Strafjustiz – den Konzeptionen moderner Freiheitsrechte zuwiderlaufen, etwa dem Prinzip des religiösen Pluralismus, der Glaubens- und Gedankenfreiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Die in Kaukasien weit verbreitete Blutrache (kanly) konnte zwar durch das islamische Recht ein wenig eingedämmt werden, da die „Rache“ etwa für einen Mord, der Vergeltung erheischt, durch den Staat vollzogen wurde, doch ändert dies nichts daran, dass die schweren Körperstrafen der Scharia und auch das Vergeltungsprinzip in der Strafjustiz als Rückfälle in vormoderne Zeiten zu bewerten sind. Dies gilt ja selbst für den Fall, dass sie nicht vollstreckt werden.

Vollstreckt wurden jedoch Todesurteile an Frauen, denen man „Ehebruch“ vorgeworfen hatte – Urteile einer Terrorjustiz mit oft mehr als fragwürdigen „Beweismethoden“ und juristischen „Verfahren“, wie man sie zur selben Zeit meistens aus jenen Ländern mit islamistischer Staatsform, wie Iran, Sudan oder Saudi-Arabien, auch Pakistan, beobachten konnte und kann. Auch dieses Treiben gab nur wenigen im Westen zu denken, war es hier und da doch sogar Mode geworden, Kritiker solcher Entwicklungen pauschal als „Feinde des Islams“ oder Fabrikanten eines „Feindbildes Islam“ zu denunzieren. Berichte, unter dem Druck tschetschenischer Mujaheddin komme es zu Enthauptungen von „Verrätern“ oder „Abtrünnigen“, wurden als russische Gräuel-Propaganda bezeichnet. In der Sowjetzeit mochten die Tschetschenen religiös und kulturell unterdrückt worden sein, doch die Frauen hatten einen großen Teil ihres traditionellen Gehorsams und des Sich-Fügens in die alten Sitten mit dem Schleier abgelegt.

Wenn der Kommunismus unter den Kaukasiern bei aller Entfremdung von den eigenen Wurzeln überhaupt etwas Positives bewirkt hatte, dann waren es deutlich sichtbare Zeichen einer Emanzipation der Frauen gegen die alten patriarchalischen, unter anderem durch die Scharia sanktionierten Praktiken. Dies alles kam nun wieder. Wieder kam auch, obschon nicht als durchgängige Regel, der Baschmet, der traditionelle Gesichtsschleier, und – was den Einfluss radikalislamischer Eiferer am deutlichsten zeigte – der Versuch, eine Verhüllung des gesamten Körpers der Frau durchzusetzen, wie sie in Iran unter den Mullahs (als Tschador oder Hedschab) und in Afghanistan unter den Taliban (als Burka) unter Strafandrohung angeordnet wurde.

Doch berechtigt uns dies, von einer „Talibanisierung“ Tschetscheniens zu sprechen? Der amerikanische Reporter Peter Arnett, bekannt geworden durch seine exklusiven Berichte während des Golfkrieges aus dem Raschid-Hotel in Bagdad, erfuhr schon im Jahre 1998 in einem Gespräch mit dem aus Saudi-Arabien stammenden „Erzterroristen“ Osama bin Laden, dass nicht allein Mujaheddin aus etlichen Ländern, sondern speziell Kämpfer der Terrororganisation al-Qaida an der Seite der Tschetschenen in den Krieg eingegriffen hätten, eine Nachricht, die damals kein großes Aufsehen in der westlichen Öffentlichkeit erregte, auch nicht in der amerikanischen.

Beide Regime erkannten sich auch wechselseitig diplomatisch an, obwohl vor allem die Taliban um eine Anerkennung durch die übrigen Glaubensbrüder schwer zu ringen hatten. Nur Pakistan, das die Taliban geschaffen hatte, Saudi-Arabien, das sie finanzierte, und die Vereinigten Arabischen Emirate tauschten Botschaft er mit ihnen aus.

In Tschetschenien selbst endete der erste Krieg 1996 mit dem Abkommen zwischen dem als gemäßigt geltenden Aslan Maschadow und Alexander Lebed. Es regelte den Abzug der russischen Truppen und gewährte Tschetschenien eine faktische Autonomie bei Verbleib in der Russländischen Föderation. Der endgültige völkerrechtliche Status blieb jedoch ungeklärt.

Manches spricht dafür, dass am Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges der Einfluss der Taliban wie der al-Qaida-Kämpfer im Kaukasus nicht unbeteiligt war. Hatten tschetschenische Kommandos schon im ersten Krieg vor terroristischen Übergriff en wie Geiselnahmen schon nicht zurückgeschreckt, so verstärkte sich diese Taktik in der folgenden Zeit radikal. Besonders das Eindringen tschetschenischer (und anderer) Kämpfer in Dagestan am 10. August 1999, das als Auslöser des zweiten Krieges angesehen werden kann, trägt die Handschrift des islamischen Internationalismus im Stile von al-Qaida. Solche bewaffneten Vorstöße kleiner Guerillagruppen mit dem Ziel, das angegriffene Gebiet oder den betreffenden Staat zu verunsichern, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, gehören zur Taktik islamistischer Banden auch in Zentralasien, etwa in Usbekistan, Tadschikistan oder Kirgisistan. Deren Bezug zu den Taliban war deutlich.

Auffällig ist auch, wie sehr die Auseinandersetzung Ende der 90er Jahre mit Sprengstoff geführt wurde, gerade zu einer Zeit, da die al-Qaida nachweislich schwere Anschläge in anderen Teilen der Welt unternahm. Im Sommer 1998 waren die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam in die Luft geflogen, am 31. August

1999 beginnt nach der Explosion einer Bombe im Zentrum von Moskau eine Serie von Anschlägen in verschiedenen russischen Städten, bei denen fast 300 Menschen getötet werden. Die russischen Behörden beschuldigen tschetschenische Terroristen, die Bomben gelegt zu haben.

Bis heute herrscht Unklarheit über die Hintergründe dieser grauenhaft en Terrorwelle. Bisweilen schrieb man sie auch russischen „Agents Provocateurs“ zu. Ausgeschlossen ist das nicht. Indessen machen der Zeitpunkt und unsere gründlicher gewordene Kenntnis der al-Qaida immer wahrscheinlicher, dass tschetschenische „Hardliner“, denen der nach dem ersten Krieg errungene Status ihrer Republik nicht ausreichte, die Anschläge ausgeführt haben, um die Russen zu Gegenreaktionen zu veranlassen.

Diese kamen. Am 23. September 1999 begannen die Russen mit einer Serie von Bombenangriff en auf Ziele in Tschetschenien, eine Woche später marschierten russische Bodentruppen ein und stießen auf erbitterten Widerstand tschetschenischer Krieger. Heute ist die Hauptstadt Grosnyj ein einziges Trümmerfeld, 30.000 Menschen haben ihr Leben verloren und der Krieg dauert fort.

Das tschetschenische Desaster hat einen Scheinsieger hervorgebracht und viele Verlierer. Die Russen haben zwar, oberflächlich betrachtet, militärisch gesiegt, doch können sie die Tschetschenen in den südlichen Bergen niemals in die Knie zwingen. Die Städte des Landes sind zerstört, viele seiner Menschen auf der Flucht. Die Wirtschaft ist zerrüttet, die Erdölfelder im Norden, im Terek-Gebiet, wurden von den Tschetschenen selbst unbrauchbar gemacht. Eine funktionierende islamische Gesellschaft wurde nicht aufgebaut, sondern ist nicht zuletzt durch den Fanatismus und Terrorismus der „Hardliner“ gescheitert. Junge Tschetschenen, die zwar den Widerstand gegen die Russen unterstützen, beklagen den Despotismus islamistischer Eiferer, welcher der Unterdrückung durch die Russen nicht nachstehe.

Umgekehrt kann auch Russland seines so genannten Sieges in Grosnyj nicht recht froh werden. Die Gefahr des Terrorismus ist nicht gebannt, der Krieg nicht wirklich beendet. Präsident Putin fasst den internationalen, von den Amerikanern angeführten Kampf gegen islamistische Terroristen als eine Art Freibrief auf, der ihn zum Gebrauch aller Mittel gegen die Kaukasier berechtige.

So bleiben nicht nur auf der Seite islamistischer Eiferer, sondern auch bei den Russen die Menschenrechte auf der Strecke. Russland muss, gerade wenn es mit seinen Millionen Muslimen auf Dauer in Frieden leben will, einen Weg finden, um den politischen und kulturellen Pluralismus seiner Minderheiten zu garantieren. Das ist nicht einfach, und bis heute kennt niemand den Weg.

Die russischen Muslime, die Tschetschenen eingeschlossen, haben nur eine Zukunft, wenn sie sich auf eine Modernisierung und Demokratisierung einlassen, die auch dem übermächtigen Russland noch bevorsteht. Allerdings muss Russland sie daran auch teilhaben lassen. So ist heute – trotz des Endes der Taliban – ein Ende des tschetschenischen Desasters noch nicht abzusehen.

Wolfgang Günter Lerch

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Alice Schwarzer (Hrsg.): "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (KiWi, 2002, vergriffen - im  FrauenMediaTurm)

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