Alice Schwarzer schreibt

Neue Frauen hat die DDR

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In demselben Tempo handeln jetzt auch die Frauen! Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als würden sie den Anschluss verpassen, als würde die neue Politik wirklich nur von den "neuen Männern" gemacht. Nicht ein einziges öffentliches Wort über die Frauen in diesen ersten Wochen des Aufbruchs; auch nicht auf der Kundgebung vom 4. November, nicht aus dem Munde einer der wenigen Rednerinnen, ja noch nicht einmal aus dem von Christa Wolf ...

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Doch schon wenige Tage später fangen sie an, sich zu regen. Ein Treffen hier, ein Transparent da. Die ersten überregionalen Begegnungen mit hitzigen Diskussionen, das erste Frauenfest. Und schon wenig später, am 3. Dezember, wird der autonome feministische "Dachverband" ins Leben gerufen, von dessen Planung auf den folgenden Seiten die Rede ist.

Über 1000 Frauen waren dabei. "Wir bestehen darauf, dass Frauenfragen keine gesellschaftlichen Randprobleme sind, sondern existentielle Grundfragen", erklärte programmatisch einer der beiden neu gewählten Sprecherinnen, die Kunstwissenschaftlerin Ina Merkel, in ihrem "Manifest für eine autonome Frauenbewegung". Die Sorge so mancher Westlerinnen war also verfrüht: die Frauen in der DDR mischen sich ein. Und das mit Macht!

Was lehrreich werden kann, auch für uns im Westen. Denn wir BRD-Frauen sind zwar die gestandeneren Feministinnen, aber die DDR-Frauen sind die gestandeneren Bürgerinnen: sie sind berufstätiger, sie sind qualifizierter und sie sind politisierter zumindest, was die allgemeine Gesellschaftspolitik angeht. Und in Sachen Frauenpolitik scheinen sie justament die Siebenmeilenstiefel angezogen zu haben.

Noch Anfang November konnte die FAZ süffisant über "typische Heiratsannoncen" in der DDR berichten, in denen 30jährige, meist schon einmal geschiedene Frauen einen "lieben Partner, bei dem ich mich anlehnen kann" suchen. "Selbständig und anpassungsbereit", laute die mausgraue Devise, so spottete die Berichterstatterin aus dem goldenen Westen.

Und sie hatte gar nicht einmal so unrecht damit. Denn genau das war in der Tat bisher das Dilemma der Frauen in der DDR: In Beruf und Gesellschaft standen sie ihren Mann, zumindest auf den unteren Sprossen der Karriereleiter. In der Familie und mit den Kindern aber blieben sie ganz Frau; DDR-Frauen sind quasi alleinzuständig für Hege und Pflege, sie schieben nach der ersten (bezahlten) die zweite und dritte (unbezahlte) Schicht.

Doch diese Doppelbelastung war bisher in der DDR sowenig Thema wie die ganze strukturelle Benachteiligung der Frauen (auch) in den Ostblock-Ländern. Schlimmer noch: Die "Mutti-Politik" wurde in den letzten Jahren in der DDR auch noch gesetzlich festgeschrieben durch "Babyjahr" und "Haushaltstag". Hausund Kinderarbeit sollte auch in Zukunft im "real existierenden Sozialismus" keine Menschenarbeit sein, sie sollte Frauenarbeit bleiben. In der Tat: die Ideologie wog schwerer als die Realität. Müde Mütter an harten Arbeitsplätzen und in langen Schlangen.

Resultat: der "Störfall Frau" im Beruf und eine eigenartige Schizophrenität im Kopf: Die Frauen in der DDR waren selbstbewusst, aber unbewusst. Ihr Protest artikulierte sich nicht politisch, sondern privat. Immer mehr Scheidungen, immer weniger Kinder. Die DDR-Frauen waren in der Sackgasse gelandet. Vor ihnen türmte sich unüberwindlich die diktatorisch-staatliche Behauptung, die Gleichberechtigung der Frauen sei ein längst erfülltes Soll in der DDR. Unter diesen Umständen war die Entwicklung eines Problembewusstseins, gar eines Wir-Gefühls von Frauen scheinbar kaum möglich.

In den Jahren des weltweiten westlichen Aufstands der Frauen herrschte tiefes Schweigen in der DDR. Nur eine Stimme erhob sich: die der Schriftstellerinnen. Wohl nicht zufällig sind die DDR-Autorinnen seit Jahren die interessantesten unter den deutschsprachigen. Formal wie inhaltlich. Sie hatten und haben etwas zu sagen. Im Rückblick allerdings scheint es, als hätten sie, die Schriftstellerinnen, den Rahm von einer Milch geschöpft, die jetzt überkocht.

Jetzt reden die Frauen in der DDR! Und sie reden selbstbewusst. Und bewusst. Und fordernd. "Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!", verkündeten über 1000 am 3. Dezember in der Ostberliner Volksbühne. Und sie scheinen genau zu wissen, was sie wollen. Auf keinen Fall die Herrschaft der "mittelmäßigen Männer". In Ost sowenig wie in West.

Das erste Elf-Punkte-"Sofort-Programm" der neuen Frauen hat Hand und Fuß, Sie fordern den Zugang zu allen Informationen und Konzepten der Regierung, die Frauen betreffen. Sie fordern die Einrichtung eines "Frauenförderfonds" beim Ministerrat und von "Frauenausschüssen" in den Volkskammern. Sie fordern eine frauenfreundliche Preispolitik und Quoten in allen Bereichen (Was nun, Jungs? Es gibt sie nämlich in der DDR, die qualifizierten Frauen in allen Bereichen!).

Ja, sie fordern "autonome Publikationsmöglichkeiten" und "regelmäßige Sendezeiten in Fernsehen und Rundfunk". Sie wollen "Frauenberatungsstellen und Frauenzentren", in den und mit den "bereits vorhandenen räumlichen und finanziellen Möglichkeiten" (für den parteihörigen Mutti-Verband DFD heißt das: Leine ziehen). Und sie streben ein konkretes "Gleichstellungsgesetz" an, also ein Anti-Diskriminierungs-Gesetz.

Diese neuen Frauen lassen sich auch von den alten Herren in der BRD nichts vormachen: "Wiedervereinigung hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück", erklärte selbstbewusst Sprecherin Ina Merkel. "Es hieße: wieder kämpfen um das Recht auf Arbeit, kämpfen um einen Platz für den Kindergarten, um die Schulspeisung. Es hieße, vieles mühsam Errungene aufzugeben, statt es auf eine neue qualitative Stufe zu heben."

Der in diesen Wochen wiedererwachten, bierseligen Nationalstaatlichkeit unseres deutsch-deutschen Einig-Volk-von-Brüdern setzen die neuen Frauen in der DDR einen stolzen Satz entgegen. Er lautet: "Wir Frauen haben kein Vaterland zu verlieren, sondern eine Welt zu gewinnen."

In diesem Sinne, Schwestern.

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