Fukushima: Wie ist die Lage im Jahr 2021?
Frauen in Laborkitteln, Masken und Handschuhen pressen zerkleinerte Lebensmittel in Behälter und setzen sie in Messsäulen ein. Ein paar Stunden später wird sich zeigen, ob der Inhalt radioaktiv belastet ist. „Bald ist meine ältere Tochter volljährig – ich kann kaum glauben, wie die Zeit vergangen ist“, sagt Laborleiterin Ai Kimura.
Ihre Töchter gingen noch zur Grundschule, als am 11. März 2011 ein Beben der Stärke 9,0 haushohe Tsunamis auslöste. Sie kosteten über 18.400 Menschen das Leben. Die Wassermassen verwüsteten das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi so schwer, dass der Kühlkreislauf ausfiel. Es kam zu Kernschmelzen, große Mengen an radioaktiven Partikeln entwichen – rund 50 Kilometer entfernt in der Hafenstadt Iwaki in Fukushima.
Die Angst um ihre Kinder ließ die damalige Zahnarzthelferin Kimura zur Aktivistin werden. Sie schloss sich Frauen an, die unter dem Namen „NPO Mothers‘ Radiation Lab Fukushima“ ein Strahlenmesslabor aufbauten. Den Zahlen von Staat und Behörden, die eng mit der Atomindustrie verflochten waren (und sind), trauten sie nicht. Sie kämpften sich durch englische Bedienungsanleitungen, konsultierten ExpertInnen und entnahmen Proben, etwa an Schulen, in Parks, am Strand.
Heute bedienen sie dank Spenden aus dem In- und Ausland Apparate, über die häufig sonst nur Hochschulen verfügen. Es waren damals in Japan vor allem Mütter mit kleinen Kindern, die ihre Stärke und Stimme entdeckten, Kampagnen initiierten und für niedrigere Grenzwerte kämpften. So beeinflussten sie auch die Lebensmittelindustrie, die Tests durchführte.
Zehn Jahre später ziehen Kimura und ihre Kolleginnen bei einer Online-Konferenz ein Zwischenfazit: Das Limit von 100 Becquerel pro Kilogramm – sehr viel niedriger als in Europa, wo 600 Becquerel gelten – wurde bei fast allen Lebensmitteln deutlich unterschritten, nur bei Wildprodukten fanden sich Ausreißer nach oben. Abgesehen von Hotspots in einigen Gegenden seien die radioaktive Belastungen von Luft, Erdreich und Sand heute in Fukushima auf Werte vergleichbar mit Europa gesunken.
Bis heute kommen BürgerInnen im Labor der Mütter vorbei oder schicken Proben ein, um sie messen zu lassen. In der angeschlossenen Arztpraxis werden Ganzkörpermessungen, Schilddrüsenuntersuchungen sowie Urintests durchgeführt. „Und wenn irgendwo auf der Welt ein ähnlicher AKW-Unfall passieren sollte, hoffen wir, dass unsere Daten nützlich sein werden“, sagt Kimura.
Die Regierung schätzt, dass die Stilllegung des AKWs bis mindestens in die 2040er Jahre dauern wird – Kritiker gehen eher vom Ende des Jahrhunderts aus. Allein dieses Jahr kam es zu drei schweren Erdbeben in der Region.
Während sich die Mütter der Organisation in Iwaki täglich mit Radioaktivität auseinandersetzen, hat das Thema für die meisten JapanerInnen kaum noch Bedeutung. Alle wollten möglichst schnell zum „normalen“ Alltag zurück. Und so verstummte die Debatte über Messungen, Grenzwerte und Dekontaminierung nach wenigen Jahren, wurde zum Tabu.
Auch die Hoffnung auf eine Abkehr von der Kernenergie hat sich nicht erfüllt. Ende 2012 kamen die atomkraftfreundlichen Liberaldemokraten wieder an die Regierung. Im April 2021 kündigte Ministerpräsident Yoshihide Suga an, den Anteil der Atomkraft für die Stromerzeugung von derzeit wenigen Prozent auf etwa 20 Prozent bringen zu wollen, um Klimaziele zu erreichen.
2,4 Prozent des Gebietes von Fukushima gelten weiter als „Difficult-to-return“-Zone, 37.000 Menschen können nicht mehr zurück. Dort scheint die Zeit stillzustehen – wie die Uhren in den verlassenen Häusern. Aber auch in den „nur“ von den Tsunamis betroffenen Provinzen Miyagi und Iwate dauerte es acht Jahre, bis die meisten Betroffenen die containerartigen Übergangswohnungen verlassen konnten. Das lag an der isolierten Lage der strukturschwachen Region fernab wichtiger Verkehrswege wie am bürokratischen Filz – und an der männerdominierten Macht.
Mio Kamitani, die in der 11.500-Seelen-Gemeinde Otsuchi in Iwate eine Nichtregierungsorganisation leitet, kann ein Lied davon singen. „Die größten Hürden für den Wiederaufbau sind im Kopf“, sagt die frühere Krankenschwester. Als sie damals zur Nothilfe herkam, fand sie über 4.000 Häuser ganz oder teilweise zerstört vor, fast alle Gewerbeflächen überflutet. 1.286 Menschen waren tot, auch der Bürgermeister und viele Rathausangestellte.
Man wolle auf keinen Fall nur zurückbauen, sondern besser, hieß es anfangs in vielen zerstörten Orten. Doch meist kam es anders. „Denn die Entscheidungen werden immer noch von alten Männern getroffen“, sagt Kamitani heute. Erst nach mehreren Jahren sei sie als Auswärtige und Frau allmählich anerkannt und um Rat gefragt worden. Wohl aus gutem Grund vertrat erst ein Mann ihre NGO nach außen. Ob sie wohl warten müssten, „bis die alten Herren weg sind“, frage sie sich manchmal.
Die Auswirkungen sind sichtbar: Über 29 Prozent der früheren Bewohner kamen nicht zurück, so viele wie kaum anderswo. Außer Landwirtschaft, Fischfang und Arbeit im Stahlwerk gibt es wenig Perspektiven. Vor allem junge Frauen wanderten ab, beobachtete Kamitani. Dies gilt als Indikator dafür, dass ein Ort „stirbt“. Sie ist überzeugt: „Die Wurzel vieler Probleme liegt in Gleichstellungsfragen.“
Bis auf die Schutzmauer zum Meer ist die Infrastruktur zwar endlich wiederhergestellt. Aber es wurde nicht an die Bedürfnisse junger Familien gedacht. Die Kinder seien „Spielplatznomaden“ in den Nachbarorten geworden. Von Müttern werde auf dem Land erwartet, den Job aufzugeben, sagt Kamitani. Sie selbst stammt aus der Großstadt Nagoya und hatte lange in den USA gelebt. Viele Firmen in der Provinz hätten nicht einmal Regelungen für den Mutterschutz. Die IT-begeisterte Kamitani will daher Frauen, die in ihrer Organisation arbeiten, fit machen: „Damit sie ein aktiver Teil der Gesellschaft sein können – und nicht nur einfach mit irgendeinem Typen verheiratet sind!“
SONJA BLASCHKE
IM NETZ: Tarachine – Mothers’ Radiation Lab Fukushima