Der neue (Klins)Mann!

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Sie haben das Freuden-Bier schon kalt gestellt und die Nachrufe vorformuliert. „Klinsi nix mehr Grinsi“ oder so ähnlich dürften sie lästern – sollte die deutsche Elf bei der Weltmeisterschaft nicht mindestens ins Finale kommen. Und dann werden die Sportreporter nach einem neuen Bundestrainer rufen. Einer, der ihre geplagten Männerseelen

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streichelt, der „auf den Tisch haut“, die Spieler „Gras fressen“ lässt und einen „Titan“ ins Tor stellt – statt einen, der in London spielt. Nix mehr mit neumodischem Fitness-Kram aus Amerika, mit Powerpoint, Trainingsplänen via E-Mail, Psychologie oder gar Yoga; eingeführt von einem, der ständig lächelt, von „wir“ redet und so seltsame Dinge sagt wie „Ich lerne jeden Tag dazu“ oder „Das berate ich mit meiner Frau“.

Sie haben Jürgen Klinsmann nie gemocht, die Patriarchen des deutschen Fußballs. Die greisen DFB-Präsiden hatte er in einer seiner ersten Amtshandlungen vom Mannschaftsessen verbannt. „Die Spieler sind lieber unter sich.“ Auch mit der Kumpanei zwischen Fußballern und Boulevardjournalisten war Schluss. Interna sollten in der „Familie“ bleiben, wie Klinsmann die Nationalmannschaft gern nennt.

Überhaupt Familie: Bei der WM-Vorbereitung auf Sardinien krabbelten auch Babys durch das Mannschaftshotel. Erstmals hatte ein deutscher Bundestrainer die Familien und Freundinnen der Spieler mit eingeladen. Für die Väter im Team gehörte der Strandburgenbau mit den Kindern genauso dazu wie der morgendliche Dauerlauf.

Jürgen Klinsmann war schon immer etwas anders. Ein Stürmer mit begrenztem Talent, aber unbändigem Fleiß. Zu seinen Stuttgarter Zeiten bezahlte der Torjäger einen Leichtathletiktrainer aus eigener Tasche, um seine Ausdauer und Schnelligkeit zu verbessern. Er wurde Welt- und Europameister, Uefa-Cup-Sieger, Deutscher Meister, Fußballer des Jahres in England und Deutschland. Bei seinen Stationen in Monaco, Mailand oder London lernte der Bäckersohn die Landessprachen in Rekordzeit. Heute spricht Klinsmann besser Italienisch oder Französisch als Lothar Matthäus Deutsch.

Mit den üblichen Macho-Ritualen des Fußballgewerbes konnte Klinsmann noch nie etwas anfangen. Demonstrativ fuhr er mit einem Käfer Cabrio auf die mit teuren Limousinen gesäumten Vereinsparkplätze, trat Greenpeace bei und reiste – trotz seines Millioneneinkommens – low budget mit dem Rucksack durch Amerika. Sein Geld legt der klischeegerecht sparsame Schwabe gut an – und spendet reichlich. Seine 1995 mit zwei Freunden gegründete Stiftung Agapedia verhalf bis heute über 2000 Straßen- und Waisenkindern aus Bulgarien, Rumänien oder Moldawien zu einem neuen Zuhause (www.agapedia.de).

Das Publikum liebt den „Deutschen ohne Grenzen“ (Sports), egal, wo er spielt. Ein unprätentiöser Star, der jeden Autogrammwunsch erfüllt, aber für die Medien enge Grenzen um sein Privatleben zieht. Während andere Spieler sich mit ihrer neuesten Eroberung fotografieren ließen, verriet Klinsmann Reportern jahrelang nicht mal, ob er überhaupt eine Freundin hat. So einer konnte nur schwul sein. Hartnäckig hielten sich die Gerüchte – befeuert unter anderem vom pathologisch homophoben ARD-Großhumoristen Harald Schmidt, der ihn als „Schwabenschwuchtel“ schmähte. Doch der schönste Bundestrainer, den wir – abgesehen vielleicht von Erich Ribbeck – je hatten, ist begeisterter Familienvater, auch wenn sich bis heute ein Magazin wie Cicero mit der Titelzeile „Klinsmanns Doppelleben“ in muffigen Andeutungen gefällt.

Als 1997 während seiner Zeit bei Bayern München die Schwangerschaft seiner amerikanischen Freundin Debbie nicht mehr zu übersehen war, erzählte Jürgen Klinsmann den Journalisten, sie sei im sechsten Monat. Tatsächlich war sie bereits im achten und brachte das Baby in aller Ruhe und ohne Exklusivmeldungen auf die Welt. Boulevardreporter verzeihen so etwas nie.

Vor allem nicht, wenn so einer nach dem Ende der aktiven Laufbahn einfach verschwindet, statt als prominenter „Experte“ am großen Fußballstammtisch Deutschland sitzen zu bleiben. Vor acht Jahren zog Klinsmann nach Huntington Beach, Kalifornien, „weil mein Sohn hier nicht als Sohn des Fußballers Jürgen Klinsmann groß wird“. Jonathan sei für ihn jetzt „die größte Herausforderung“, verriet Klinsmann der FAZ nach seinem letzten Spiel. „Es ist mein Wunsch, ein guter Familienmensch und ein guter Vater zu sein.“ Wenn der deutsche Bundestrainer daheim in Kalifornien ist, bringt er den Neunjährigen jeden Morgen in die Schule und die vierjährige Tochter Laila in den Kindergarten. Die meisten Nachmittage hält er sich für die beiden frei. Dass er in Kalifornien wohnen bleiben kann, ließ sich Klinsmann im Vertrag festschreiben, als er 2004 Bundestrainer wurde. Er müsse nicht jedes Wochenende in Deutschland sein, zur Spielerbeobachtung habe er ein exzellentes Team.

Nichts entlarvte den dumpfen Geist des Männerbundes Fußball so wie die Dauerdiskussion um Klinsmanns Wohnsitz. Angeführt vom deutschen Ersatzkaiser Franz Beckenbauer meldeten sich täglich die Möchtegernbundestrainer zu Wort, die sich traditionell eher in einen hineinversetzen können, der – wie der Franz – bei der Weihnachtsfeier mal eben die Vereinssekretärin schwängert als in einen, dem seine Familie über alles geht. Und dann hatte Jürgen Klinsmann es auch noch gewagt, den ersten Todestag seines Vaters lieber mit seiner Mutter zu verbringen, als einen Repräsentationstermin des DFB wahrzunehmen – und das ohne sich vorher bei der Bild-Zeitung abzumelden.

Mit seinem Trainerteam wirke Klinsmann „innerhalb des urmännlichen Fußballbundes wie ein Fremdkörper“, analysierte die Zeit. Dass der frühe und begeisterte Anhänger des Frauenfußballs 1999 seinen Trainerlehrgang zusammen mit den Nationalspielerinnen Doris Fitschen und Bettina Wiegmann absolviert hatte, passt irgendwie ins Bild. „Ist der Fußball unter Klinsmann weiblicher geworden?“, fragte die Zeit den Verteidiger Christoph Metzelder. Der antwortete: „Ich glaube, das liegt insgesamt im Trend: als Mann mal Schwäche zeigen dürfen. Sich auch für andere Dinge interessieren. In der Gesellschaft macht sich darüber kaum noch jemand lustig, nur im Fußball gibt es da noch Nachholbedarf.“

Tatsächlich demonstriert der Trainer Klinsmann beinahe eins zu eins das, was die Sozialforschung als „weiblichen Führungsstil“ qualifiziert: partnerschaftliche Beziehungen am Arbeitsplatz statt Hierarchien; Macht als Verantwortung statt Herrschaft; Aufhebung der Trennung zwischen Familie und Beruf etc.

Die Beispiele lesen sich wie das Regierungsprogramm der „Bundesrepublik Klinsmann“ (Bild). Statusdenken ist Klinsmann fremd. „Wenn Joachim Löw besser darin ist als ich, ein falsches Positionsspiel zu erkennen, dann kann es nicht sein, dass ich ihm ins Wort falle, nur weil ich meine, ich sei der Cheftrainer“, erzählte er den staunenden Jungs vom Spiegel, bei denen andere Führungsprinzipien gelten. Auch der Teamgedanke geht Jürgen Klinsmann über alles. „Ich bin der Überzeugung, dass eine Mannschaft, die sich untereinander gut versteht, mehr aus sich herausholen kann als eine, die aus lauter Egoisten besteht“, erklärte er der Bild am Sonntag.

Fragen stellen? Dazulernen wollen? Neue Wege gehen? „Der Sportpsychologe coacht auch mich“, verrät Klinsmann furchtlos, wohl wissend, dass er mit solchen Aussagen für viele deutsche Fußball-„Experten“ kurz vor der Klapsmühle steht.

Wie das Modell Klinsmann in der Praxis funktioniert, erlebten wir kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft bei der Entscheidung der „Torwartfrage“. Klinsmann benannte Jens Lehmann – übrigens der erste deutsche Nationalspieler, der sich der WM-Kampagne gegen Zwangsprostitution anschloss. Und Lehmann zeigte bei einem Interview der Zeit auch gleich, wo’s lang geht. Angesprochen auf ein Paparazzi-Foto, das ihn beim Einkaufen mit der Familie zeigte, äußerte der Torwart sein „Unbehagen“. Nicht wegen des Fotos, sondern wegen des Motivs. „Ich telefoniere, ist ihnen das aufgefallen? Mir ist es schon so immer peinlich, wenn ich mit meiner Frau durch die Stadt gehe und telefonieren muss. Das sieht schlecht aus. Ignorant, machomäßig. Nach Chefgehabe innerhalb einer Beziehung, einer Familie.“

Mag sein, dass es die deutsche Mannschaft bei der WM nicht so weit schafft wie erhofft. Den Champagner sollten wir trotzdem kalt stellen. Denn ein Glas zu ihren Ehren hat sich Klinsmanns Anti-Macho-Elf bereits jetzt verdient.

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