EM-Start: Kleine Typologie des Fans
Der Historiker
Er ist eines der nervigsten Kaliber. Er ist deshalb so unangenehm, weil er Fußball nicht als das betrachtet, was es ist, nämlich schlicht eine banale Sportart, sondern als hoch komplexe Wissenschaft. Der Historiker kennt sämtliche Zahlen und Fakten auswendig: Egal welche Minute des Spiels gerade läuft, egal welche Mannschaften auf dem Platz stehen, er hält Vergleichswerte parat; Stil: „Damals 1982 hatten wir in Minute 34 gegen England schon drei eigene Tore gesehen.“ Tore sind ja schließlich auch einschneidende Ereignisse in einem Fußballspiel, sagen Sie, dass er sich die merken kann, meinen Sie, sei kein Kunststück. Geschenkt. Aber sein Wissen ist auch damit noch lange nicht erschöpft. Sogar einzelne Dribblings eines Felix Magath bei der WM 1982 hat er abgespeichert. „Ball vorm linken Fuß, Magath stoppt, täuscht mit Rechts, spielt mit Links ab“, referiert er aus dem Sessel und keucht, als habe er den Ballzauber nicht nur beschrieben, sondern vorgeführt.
Der Emotionale
Er lebt beinahe ebenso gefährlich wie der gutmütige Trainer-Typ. Er brüllt zu wenig, er ist nicht unerschütterlich davon überzeugt, dass er alles besser weiß und, ganz übel, er kann seine Nervosität nur sehr schlecht verbergen. Er steht auf, wenn er ein Tor erwartet, er sinkt nieder, wenn es nicht geklappt hat. Sobald es spannend wird, weil Deutschland zwei zu null hinten liegt, beginnt für ihn der Horrortrip. Er nippt ständig an seinem Bier herum, er reibt sich die Schläfen, juckt sich an den Augen und am Mund und zupft an seinem Hemdkragen herum. In der Nachspielzeit geht er immer auf Toilette. Elfmeterschießen bedeutet das Aus für seine Fingernägel.
Der Schleimer
Er ist für Frauen der gefährlichste unter den Fußballfans. Denn zeichnet sich der Fußballmann eigentlich durch entspannendes Desinteresse an Frauen aus – zumindest während des Spiels – so bildet der Schleimer die Ausnahme. Permanent beugt er sich in den weiblichen Luftraum, um flüsternd Geschichten zu erzählen, von denen er glaubt, dass Frauen sie witzig finden. Selbstredend geht er davon aus, dass diese an dem laufenden Fußballspiel sowieso überhaupt kein Interesse haben und versucht sich mit ihnen über „ihre“ Themen zu unterhalten, oder solche, die er dafür hält. Er fragt nach ihrer Arbeit, ihren Interessen und ihrem Lieblingswein, während rund herum alle Bier trinken.
Der Deutschlehrer
Der sprechende Fußballer ist dem Intellektuellen sein liebstes Opfer. Sein großer Augenblick ist dann gekommen, wenn die wehrlosen Spieler vors Mikrofon gezerrt werden. Höhnisch kommentiert er jeden verbalen Stellungsfehler. Ein grammatikalischer Fehlschuss oder ein in Gänze sinnfreier Satz versetzen ihn in Entzückung. Um sich auch in den zitatfreien Momenten eines Fußballspiels – immerhin 90 Minuten der Zeit – zu Wort melden zu können, hält er ein großes Repertoire an historischen Spielerzitaten parat. Hier seine Klassiker: „Ich lerne nicht extra französisch für Spieler, wo diese Sprache nicht mächtig sind.“ „Ich weiß auch nicht, woran es liegt, dass wir immer, wenn wir führen oder zurückliegen, doch noch verlieren.“ Und: „Darüber muss sich jeder Einzelne ein Urteil machen. Ich mache das jedenfalls nicht.“
Der Trainer-Typ
Er ist ein echter Kumpel. Er hat bloß ein Problem: Er ist häufig zu sachlich. Sie müssen wissen, Sachlichkeit ist beim Fußball gucken unter Männern beinah verpönt. Ein Stellungsfehler der Abwehr, ein Pass ins Leere – das ist für ihn alles kein Kreuzbandriss. „Schade das war nichts“, sagt er, um dann sofort hinzuzufügen: „Weiter jetzt, lasst euch bloß nicht entmutigen“. Diese Motivationsphrasen unterlegt er gerne mal mit einem kräftigen Klatschen. Es kam sogar schon vor, dass er so fair war, in der Kneipe die Hände zum Appaus zu heben – obwohl der Gegner ein Tor erzielt hat. „Toller Schuss“, sagt er dann anerkennend. Manchmal bringt ihm dieses, von den übrigen Fans als Provokation wahrgenommene Verhalten großen Ärger ein. Sogar Prügel wurde ihm schon angedroht, wenn er mal wieder ohne nationale Legitimation Gefühlsregungen gezeigt hat.
Der Fast-Profi
Er wäre beinahe selbst Fußballprofi geworden. Er hat früher in der Regionalliga gekickt und war „echt richtig gut“. Den Profivertrag von Bayer Leverkusen hatte er schon zu Hause liegen, als er sich eine furchtbar schlimme Knieverletzung zuzog, die seine Karriere jäh beendete. Wie auch immer. Der Fast-Profi jedenfalls hat dieses harte Schicksal nie überwunden und missgönnt jedem, der mehr Talent hat als er, seinen Erfolg. Je höher der Alkoholpegel, desto unrealistischer seine Selbstwahrnehmung. Sätze wie „wenn ich mich nicht verletzt hätte damals, wäre ich heute ganz oben,“ gehören zu ihm wie sein O-beiniger Gang, den er erst beim Betreten der Fußballkneipe aktiviert.
Der Hooligan
Das Exemplar ist einfach nur unangenehm. Das, was er während des Fußballspiels so von sich gibt, verdient beim besten Willen nicht die Bezeichnung „Satz“. Er stöhnt, gröhlt, rülpst, brüllt, plärrt und rotzt. Je besser sein Favorit spielt, desto unangenehmer ist er für die anderen. Denn dann versucht er, anderswo nützlich zu sein. Kurzerhand ernennt er sich zum Anwalt der Kleinwüchsigen und fordert jeden, der sich zum Klogang erhebt und kurzfristig die Sicht auf die Großbildleinwand versperrt, in rüdem Ton zum sofortigen Hinsetzen auf. Spielt sein Verein schlecht, lässt er die Leute in Ruhe und kümmert sich statt dessen um die Leute auf dem Platz. Trifft ein Spieler nur die Latte oder sinkt permanent im Strafraum zu Boden, ist der Hooligan ausgelastet. „Brille kaufen“, röhrt er dann oder „Steh auf, du Mädchen“.
Na, denn, Mädels.