Was wird aus den Quelle-Frauen?
Das Aus erwischt sie in der Kirche. Pia Girstl ist auf Kurzurlaub in England, mal raus aus dem ganzen Insolvenz-Hickhack um Quelle, das sich schon Monate schleppt. Sie steht in der Westminster Abbey, am Grabstein von Richard II., als sie die SMS ihrer Chefin liest: „Du brauchst Montag nicht mehr zu kommen, tut mir leid.“ Es ist bereits die dritte Kündigung innerhalb weniger Wochen und wohl auch so ist der Sarkasmus der Quelle-Mitarbeiterin an diesem 30. Oktober zu erklären. Sie sagt: „Das Grab des Königs von England ist doch ein würdiger Ort für eine Kündigung.“ Wenn es nichts zu lachen gibt, hilft nur noch schwarzer Humor.
Pia Girstl, 51, hat 20 Jahre lang bei Quelle gearbeitet, lange bevor Middelhoff den Konzern umbenannte und mit seiner Politik den Anfang vom Ende einleitete. Sie war lange Zeit Sekretärin der Geschäftsleitung; hat später, als die Chefs wechselten wie der Wind, die Quelle-Shops und deren Verkäufer betreut. Ihr erster Chef war wie ein Vater und dank Grete Schickedanz glaubte die gebürtige Fränkin an eine „saubere, soziale Familiensache“. „Quelle“, so dachte nicht nur sie lange Zeit, „ist eine Lebensversicherung.“
Im September 2009 hat Pia Girstl ihre erste Kündigung bekommen. 20 Jahre Betriebszugehörigkeit sind bei Quelle, wo viele über 30 Jahre arbeiten, keine lange Zeit. Sozialauswahl also und drei Monate Lohnfortzahlung für Girstl. Die nächste Kündigung kommt einen Monat später, weil es für sie nichts mehr zu tun gibt. Und kurz darauf die SMS, dass sie gleich zu Hause bleiben kann.
Ein Sterben auf Raten.
Seit Oktober hat die Chefsekretärin 70 Bewerbungen geschrieben. Sie weiß: Es gibt „Sachbearbeiterinnen wie Schweinefutter“, und in den Stellenausschreibungen steht als Anforderungsprofil an erster Stelle „jung und attraktiv“. Dennoch: „Ich geb nicht auf“, sagt Pia Girstl. Da schwingt viel Wut mit. Eine gehörige Portion Trotz. Und eine kleine Prise fränkische Zuversicht. Dieser Satz ist Pia Girstls ganz persönliches Mantra.
Der Lärmpegel im Cafe am Nürnberger Hauptbahnhof ist hoch. Doch die arbeitslose Quelle-Frau stört das nicht. Mit energischen Schritten stürmt sie herein, kaum, dass sie sitzt, sprudelt sie los. Heute hat sie in der Fürtherstraße ihre Firmenkarte abgegeben, danach war sie beim Arbeitsamt. Und schon ist sie mitten in ihrer ganz persönlichen Quelle-Geschichte. „I red wie a Buch“, sagt sie und lacht.
Hier am Bahnhof hing bis vor kurzem das Plakat der fünf arbeitslosen Vorstandssekretärinnen von Quelle. Wie Models machten die Frauen für sich Werbung. Zwei Chefs haben sich schon gemeldet auf diese glänzende Bewerbung an exponierter Stelle. Sowas imponiert Pia Girstl. Eine originelle Aktion. Eigeninitiative. Sich nicht fressen lassen von der Angst und der Traurigkeit. „Vielleicht hätten wir uns mehr wehren müssen“, sagt sie nachdenklich.
Große KämpferInnen waren die Quelleaner noch nie, nur etwa zehn Prozent von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert. Die da oben werden’s schon richten. Und so haben sie sich in den letzten Monaten eingerichtet zwischen Hoffen und Bangen. Sie haben gehofft, als Insovenzverwalter Klaus Hubert Görg sich auf die Suche nach einem zahlungskräftigen Käufer machte. Sie haben weitergehofft, als Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer mit einem 50-Millionen-Kredit den Druck des letzten Quelle-Katalogs ermöglichte. Sie haben stillgehalten, als der damalige Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg eine geordnete Insolvenz forderte. „Wir wollten doch die Verhandlungen nicht gefährden“, sagt Horst Rieger, stellvertretender Gesamtbetriebsratschef, entschuldigend.
Erst als das endgültige Aus kam, sind rund 1.000 Menschen in Fürth auf die Straße gegangen. Doch da konnte längst nichts mehr gefordert werden, wie das vor drei Jahren die kämpferischen AEG-Kollegen schräg gegenüber vorgemacht hatten. Die erste Quelle-Demonstration war bereits ein Trauermarsch. Sie marschierten durch die Fürther Straße, wo Nürnberg und Fürth zusammenfließen. Der Versandhausriese war mal der zweitgrößte Arbeitgeber am Ort. Nach der AEG-Pleite vor drei Jahren hat es nun auch die Nr. 2 erwischt, seit 1927 in Fürth beheimatet.
Das Familienunternehmen war einst der Inbegriff des Wirtschaftswunders. Jeder Haushalt hatte den Katalog auf dem Nierentisch liegen. Doch nun war das Undenkbare wirklich geworden. Die Abwicklung von Quelle bedeutet den Verlust von 4.000 Arbeitsplätzen, vor allem von Frauen. Fürth wird, wenn am Jahresende alles von Quelle verramscht ist, einen traurigen bayerischen Rekord aufstellen: Es ist die erste bayerische Stadt mit einer zweistelligen Arbeitslosenquote.
Bürgermeister Thomas Jung rechnet mit zwölf Prozent, der bayerische Schnitt liegt bei acht Prozent. Schon wird laut überlegt, das statistische Landesamt von München hierher zu verlagern, um wenigstens 500 Arbeitsplätze in die Stadt zu bringen.
„Meine Damen, nehmen Sie sechs Ketten und Sie bekommen eine gratis. Heute eine Kette geschenkt!“ Die mikroverstärkte Verkaufsstimme schwebt durch das Erdgeschoss des Quelle-Kaufhauses in der Fürtherstraße wie billiges Parfüm. Früher war hier die Kosmetikabteilung, davon zeugen noch die Schriftzüge von Schwarzkopf und L’Oréal an den kahlen Wänden. Heute wird hier der Schlussverkauf organisiert. Frauen drängen sich um den Mann mit der rosa Krawatte, der das Mikro nur aus der Hand legt, um zu kassieren. Ein Herd wird durch das Gedränge zur Kasse geschoben, ein Hauch von billiger Jakob liegt in der Luft. Es riecht nach Leichenfledderei.
Eine Verkäuferin packt Armbanduhren aus, klebt den roten Verkaufspreis drauf, 49 Euro, wie am Fließband geht das. Müde wirkt sie, vor ihr liegt schon ein großer Stapel Uhren mit den roten Preisschildern. „Was soll ich denn noch sagen?“, fragt die junge Frau mit einem matten Lächeln, „ist doch alles schon gesagt.“ Sie hat hier gelernt, seit sechs Jahren ist sie Verkäuferin bei Quelle, Ende Dezember ist auch für sie Schluss. Sie gehört zu denen, die noch bis Jahresende arbeiten, damit die Gläubiger möglichst viel Geld bekommen.
„Mir tun die Verkäuferinnen leid“, sagt Pia Girstl. Auch ihr Arbeitsplatz war hier. Auf diesem Riesenareal, das von dem Turm mit dem blauen Quelle-Logo überragt wird, war auch ihre Abteilung, der Flächenvertrieb. Eine Treppe führt 22 Stufen nach unten zum Personaleingang, Stufen, die sie jahrzehntelang täglich hinunter gegangen ist. An der Backsteinwand dahinter steht weiß auf Quelle-Blau ein Spruch von Grete Schickedanz: „Der Pfennig ist die Seele der Milliarde.“ Heute sieht sie ihn zum ersten Mal bewusst und ist erstaunt. „Wenn sich nur die Manager daran gehalten hätten“, sagt Pia Girstl.
Die Milliarden sind weg und von Seele spricht hier schon lange keiner mehr. So endet eine 82-jährige Firmengeschichte. Selten gab es eine solche Identifikation der MitarbeiterInnen mit einem Unternehmen. Die QuelleanerInnen glaubten an die soziale Marktwirtschaft, Angestellte wie BetriebsrätInnen und AbteilungsleiterInnen. Die Atmosphäre war freundlich, die Erinnerung an Grete Schickedanz und ihr soziales Engagement wurden gepflegt.
Und so ignorierten sie die schlechten Zahlen, die Managerwechsel und die Tatsache, dass in Zeiten des Internets manche Entwicklung verschlafen wurde. Noch vor sieben Jahren, beim 75sten Firmenjubiläum, sangen sie im Fürther Stadtpark: „We are the Champions.“
Barbara März, 47, hat diese Mischung aus Naivität, Hoffnung und tiefer Depression hautnah miterlebt. Die Betriebsseelsorgerin hat mit ihrer rollenden Kirche, einem bunten Bauwagen, immer dort gestanden, wo es gebrannt hat. Auch unter dem Quelle-Turm in der Fürtherstraße. Sie hat mit ihren KollegInnen Kaffee und Tee ausgeschenkt, Muffins verteilt und zugehört. „Die Leute waren ja nicht wütend, die waren tief unglücklich, für die meisten war Quelle eine Familie“, sagt die Seelsorgerin.
An diesem Novembertag sitzt sie zu Hause und ist etwas blass um die Nase, ein Magen-Darm-Virus hat sie außer Gefecht gesetzt. Die vergangenen Wochen haben die Mutter zweier Kinder, die eigentlich nur acht Stunden wöchentlich in der Betriebsseelsorge arbeitet, nicht nur körperlich angestrengt. Barbara März ist gelernte Industriekauffrau, war selbst lange Betriebsrätin („Nein, nicht bei Quelle.“) und in der katholischen Jugendarbeit engagiert. Als Betriebsseelsorgerin hat sie beides vereint, sie liebt diese Arbeit. Doch die Geschichten, die sie in den vergangenen Wochen gehört hat, haben sie mitgenommen.
Vor allem Frauen haben der Betriebsseelsorgerin ihr Herz ausgeschüttet. Oder ihre Zettel voller Ängste an das von der evangelischen und der katholischen Kirche aufgestellte Quelle-Kreuz geheftet. Da ist die Angestellte, die einen Nervenzusammenbruch erlitt und von ihren Kolleginnen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Noch am Vorabend hatte sie einen Anruf ihrer Chefin erhalten, dass sie nicht auf der Liste stehe. Am nächsten Morgen dann, nur zwölf Stunden später, der knappe Anruf: „Sie sind entlassen.“ Auf der Achterbahn der Gefühle wurde so manche aus der Kurve getragen.
Viele sind im Quelle-Betriebskindergarten groß geworden, haben sich mit 15 Jahren hier beworben. Beim Bewerbungsgespräch fragte der Chef: „Wo willst du denn hin? In den Verkauf?“ „Nein, lieber ins Büro.“ „Ist das dein größter Wunsch?“ „Ja.“ „Dann erfüll ich dir deinen größten Wunsch.“ Barbara März kennt viele solcher Biographien aus der scheinbar heilen Quelle-Familie. Wünsche werden hier schon lange nicht mehr erfüllt.
Doch nicht einmal über Madeleine Schickedanz hört man ein schlechtes Wort. Dabei hat die Frau, von Beruf Tochter der Unternehmensgründerin und wohnhaft in Fürth und St. Moritz, noch vor wenigen Wochen weinerlich in der Presse verkündet, dass sie es sich bald nicht mehr leisten kann, bei ihrem Lieblingsitaliener um die Ecke Essen zu gehen und mit 600 Euro im Monat auskommen müsse. Nun muss sich sicher umstellen, wer bis vor kurzem zu den 20 reichsten Frauen der Welt gehörte und von Forbes noch 2007 auf 3,85 Milliarden Euro geschätzt wurde.
Doch alle ihre Angestellten, die im Gegensatz zur Gründer-Tochter ihr Leben lang gearbeitet haben, erwartet ein deutlich härteres Los: nämlich Arbeitslosigkeit, Hartz IV und, gerade für die älteren Frauen, ein frühzeitiges berufliches Ende.
Gisberta Pirner ist sauer. Sie ist Betriebsratsvorsitzende von Profectis, einer 100-prozentigen Quelle-Tochter, deren Zentrale in Nürnberg sitzt, in der Duisburger Straße im Industriegebiet am Hafen. „Wir lassen uns nicht so leicht abspeisen“, sagt die 46-Jährige in ihrem Betriebsratszimmer und streicht sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Knapp 1.000 Menschen arbeiten hier, 500 Menschen in Nürnberg. Sie organisieren den technischen Kundendienst, die Aufträge kamen zu 40 Prozent von Quelle. Auch hier in der Duisburger Straße müssen bis zum Jahresende 115 Beschäftigte gehen. Doch Pirner, die auch im Wirtschaftsausschuss von Profectis sitzt, ist zuversichtlich, dass sich noch ein Käufer für die Quelle-Tochter finden wird.
Bei Profectis enden Mitarbeiterversammlungen schon mal in einem Eklat: Als kürzlich auch die Presse anwesend war, weigerte sich der Insolvenzverwalter, vor der MitarbeiterInnenversammlung Rede und Antwort zu stehen. Er wolle sich nicht von der Meute hetzen lassen. „Und wir fordern mehr Transparenz bei der Käufersuche“, hält Pirner dagegen. Bei Profectis ist der Kampf noch nicht vorbei. Gewerkschaftsmitglied Pirner und ihre zehn MitstreiterInnen vom Betriebsrat sind entschlossen, ein Wörtchen mitzureden.
Auch eine prominente Ex-Quelleanerin macht aus ihrem Zorn keinen Hehl: Renate Schmidt. Sie begann in Fürth eine Ausbildung als Programmiererin, arbeitete anschließend in der Datenverarbeitung und war von 1973 bis 1980 freigestellte Arbeitnehmervertreterin bei Quelle. Dann wurde sie in den Bundestag gewählt.
Die ehemalige Bundesfamilienministerin (SPD) war „vollkommen perplex“ über das Ende ihres früheren Arbeitgebers. Management-Fehler macht sie dafür verantwortlich, kritisiert allen voran den langjährigen Manager Thomas Middelhoff, den früheren Arcandor-Chef, „der mit dem Verkauf jedweden Tafelsilbers Quelle den Todesstoß versetzt hat“. Und auch der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der eine „geordnete Insolvenz“ vorgeschlagen hatte, bekommt Schmidts Zorn zu spüren: „Herr zu Guttenberg musste befriedet werden, weil er bei Opel nachgegeben hatte.“ Die Rettung von Opel war ein Prestigeobjekt der Bundesregierung. Quelle war es offensichtlich nicht.
Für Pia Girstl fängt nun eine neue Zeit an. Die Zeit ohne Quelle und ohne einen festen Job. Die Leute schauen weg, wenn sie ihr auf der Straße begegnen, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Arbeitslosen umgehen sollen. „Ich bin doch nicht aussätzig“, sagt Girstl. Ihr Mann ist vor drei Jahren arbeitslos geworden, hat sich selbstständig gemacht und nun wieder Fuß gefasst, er kann von zu Hause aus arbeiten. Die beiden Kinder sind berufstätig, das macht sie freier. Für einen guten Job würde sie auch umziehen.
Die meisten ihrer arbeitslosen KollegInnen wollen nicht über ihre Situation reden. Manche schämen sich. Viele versinken in Trauer. Pia Girstl schüttelt die Schockstarre ab und redet dagegen an: „Vielleicht finde ich ja so einen neuen Job, wer weiß?“ sagt sie. Pia Girstl wünscht sich ein Leben nach Quelle.