Vorwort aus "Es reicht!"

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Ich schluckte. Mal was zusammenstellen …? Aber dann  konnte ich der Versuchung doch nicht widerstehen, die so aufschlussreiche wie hilfreiche Geschichte zusammenzutragen – und gleichzeitig die klarsichtigsten AutorInnen und mutigsten Protagonistinnen von heute in diesen Sammelband mit aufzunehmen. Hier also sind sie: von der Bloggerin über die Putzfrau und das Zimmermädchen bis hin zu den Polizistinnen und Soldatinnen bzw. der Gewerkschafterin und Ministerin; von Deutschland und Amerika bis Schweden; von 1972 bis zum Jahr 2013.

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Bei der Lektüre wird rasch klar: Das Problem sind nicht individuelle Ausrutscher einzelner Unverbesserlicher, das Problem ist struktureller Natur. Denn es geht hier nicht um Sex, es geht um Macht. Um Machterhalt. In einer weiterhin männerdominierten Gesellschaft gibt es gerade in Zeiten des Umbruchs noch zu viele Männer, die sich mit der zunehmenden Präsenz von Frauen auch im Beruf und in der Öffentlichkeit nur schwer abfinden können. Sie bekämpfen diese Frauen – Kolleginnen, Untergebene, Chefinnen –, indem sie versuchen, sie durch sexuelle Belästigung als Objekt zu stigmatisieren und als Subjekt zu ignorieren. Auffallend ist, was bereits Studien vor zehn Jahren belegten: 60 Prozent aller Frauen waren in Deutschland schon Opfer sexueller Belästigung, wo auch immer. Und die Übergriffigkeit im Beruf und durch gleichrangige Kollegen scheint zuzunehmen. Was nicht verwunderlich wäre. Sind doch sie die ersten, die von der weiblichen Konkurrenz bedroht werden.

Wobei der deutsche Begriff "sexuelle Belästigung" verharmlosend ist, das amerikanische "sexual harassment" (sexuelle Bedrohung) trifft es präziser. So eine Belästigung könnte frau ja noch wegstecken, aber das Bedrängen, Beleidigen, Erniedrigen, Betatschen bis hin zum körperlichen Überfall, ja zur Vergewaltigung – das ist mehr als eine "Belästigung". Sehr viel mehr.

In der deutschen Debatte wurden nach dem Fall Brüderle – dem im Stern veröffentlichten Porträt des Spitzenpolitikers, das alles ausgelöst hat – wieder Stimmen laut, die eine Moralisierung und Hysterie der Debatte beklagten. Da dürfe man ja als Mann wohl keine Frau mehr ansehen, geschweige denn ihr ein Kompliment machen, hieß es. Bundespräsident Gauck klagte gar über einen "Tugendfuror". Und der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki verstieg sich dazu zu verkünden, er werde von nun an keinem weiblichen Journalisten mehr ein Interview an heiklem Ort geben (wie im Auto oder an der Bar), denn sonst könnte man ja gleich wieder behaupten … Berufsverbot für politische Journalistinnen, damit die Brüderles dieser Welt nicht ausrasten?

Natürlich wissen in Wahrheit alle, worum es geht. Ein Flirt ist etwas eindeutig anderes als sexuelle Belästigung. Das weiß jede Frau. Und das könnte auch jeder Mann wissen, so er nur will. Ein Flirt ist gegenseitig und auf Augenhöhe. Die sexuelle Belästigung ist einseitig und herablassend. Doch sollte es tatsächlich immer noch diesen oder jenen Mann geben, dem es schwerfällt zu unterscheiden, habe ich einen ganz einfachen Tipp: Stellen Sie sich die Situation einfach mal umgekehrt vor. Dass zum Beispiel eine ältere Politikerin mit einem jungen Journalisten über Slipgrößen und Jeansmarken scherzt und darüber, was er wohl wie alles so ausfüllen könnte (so wie Brüderle mit Himmelreich über Körbchengrößen). Schockierend? Aber klar doch.

Kurzum: Sexuelle Belästigung hat rein gar nichts mit einem echten erotischen Interesse zu tun, sondern ist ausschließlich eine herablassende Machtdemonstration. Sie will dem Gegenüber zeigen, dass es eben keines ist, sondern ein Darunter.

Auch internationale Statistiken belegen, dass zwei von drei Frauen solcherlei Erfahrungen schon am eigenen Leibe machen mussten. Was nicht wirklich überrascht. Denn Sexualität und Gewalt waren über Jahrtausende untrennbar miteinander verbunden. Frauen waren Besitz von Männern und hatten zur Verfügung zu stehen, in jeder Beziehung. Das begann sich erst in den 1970er Jahren zu ändern. Dank der Frauenbewegung. Das Gesetz, das endlich auch in Deutschland sexuelle Gewalt gegen die eigene Ehefrau unter Strafe gestellt hat, ist erst 16 Jahre alt. Zur Verabschiedung war, nach jahrzehntelangen vergeblichen Debatten, ein Schulterschluss der Politikerinnen aller Parteien nötig, von rechts bis links.

Die sexuelle Belästigung im Beruf wird in Deutschland juristisch seit 1994 geahndet. Theoretisch zumindest. Übrigens dank einer Initiative der damaligen Frauenministerin – namens Angela Merkel. Sie hatte mit viel Engagement das "Beschäftigtenschutzgesetz" eingebracht und dafür so richtig Dresche gekriegt von den Medien. Ein Kübel von Hohn und Spott wurde über "Kohls Mädchen" ausgegossen (Bild: "Würden Sie diese Frau anstellen?" – mit einem sie lächerlich machenden Foto). Hat Merkel damals die Lektion begriffen und schweigt sich deshalb als Kanzlerin so aus zu Frauenfragen? (Auch das noch … Das hätte ihr gerade noch gefehlt!)

Eine weder von direkter Gewalt noch von gönnerhafter Galanterie geprägte nicht-hierarchische Sexualität, also das einvernehmliche Begehren, ist eine relativ neue Erfindung. Erotik auf Augenhöhe wird von SexualforscherInnen auf breiter Basis erst seit etwa einem Vierteljahrhundert registriert – also seit die Impulse der Gleichheit der Geschlechter in den Herzen und Betten angekommen sind.

Das ist neu. Und gewöhnungsbedürftig. Und noch lange kein gesichertes Terrain. Genauso wenig wie die Präsenz von Frauen im Beruf. Doch jetzt sind sie angekommen, die Frauen. In den Schulen schreiben sie bessere Noten und an den Universitäten machen sie bessere Abschlüsse; sie drängen in Aufsichtsräte und Kabinette, ja, sind in Deutschland sogar Kanzlerin. Das ist nicht immer nur schön für die Männer. Die müssen lieb gewordene Privilegien aufgeben und Posten räumen.

Eine zum Glück stetig wachsende Minderheit von Männern allerdings macht das Beste draus und erobert nun ihrerseits das Familienterrain. Auffallend ist in der aktuellen Sexismus-Debatte, wie viele Männer inzwischen aufseiten der empörten Frauen stehen.

Gleichzeitig aber wächst der Widerstand. Denn wo Fortschritt ist, ist immer auch Rückschritt. Und dieser Widerstand scheint innerhalb der westlichen Welt eine Zentrale in Deutschland zu haben. Ich behaupte mal: Außer in Italien hätte man - oder auch frau – in keinem anderen aufgeklärten Land ungestraft öffentlich so joviale Herrenwitze reißen können, wie wir sie in den vergangenen Monaten zu hören bekamen. Deutschland ist im Jahr 2013 nicht nur die europäische Drehscheibe für Prostitution und Frauenhandel, sondern auch das Land des Herrenwitzes. Vielleicht hängt das ja auch irgendwie zusammen?

70 Prozent aller Frauen in Deutschland sind heute berufstätig (davon knapp jede zweite allerdings in Teilzeit). Diese Frauen arbeiten in drei Sparten: 1. in den sogenannten Lächelberufen (von der Verkäuferin über das Zimmermädchen bis zur Stewardess), 2. in den Malocherberufen (von der Kantinenmitarbeiterin bis zur Putzfrau), 3. in den Männerberufen (von der Polizistin bis zur Journalistin).

Die Frauen in den Malocherberufen riskieren vermutlich noch die relativ geringsten Belästigungen. Sie sind in der Regel nicht »nett« genug. Die Frauen in den Lächelberufen sind zur Anmache prädestiniert, ja, werden in den Augen mancher Männer doch dafür bezahlt. Und die Frauen in den Männerberufen? Die sind das wohl härteste Kapitel.

Nicht nur aus Studien im amerikanischen Militär wissen wir, dass sexuelle Demütigung und Gewalt in den Kasernen zum klassischen Macho-Repertoire gehören. Ziel: das Eindringen von Frauen in Männerdomänen bzw. das Aufweichen der homophilen Männerbünde und die weibliche Konkurrenz zu verhindern. Das kann weit gehen. Im Extremfall bis zur Vergewaltigung oder gar Mord.

Wie aber sieht es in den Medien aus? Das Besondere an diesem Beruf ist, dass wir Journalistinnen einerseits in ein männerdominiertes Terrain eingedrungen sind, andererseits aber gleichzeitig gerade unsere sozial so gut trainierten sogenannten weiblichen Fähigkeiten – wie Einfühlungsvermögen in Menschen, Diskretion bei der Recherche etc. – bestens gebrauchen können. Ebenfalls ist es keineswegs immer auszuschließen, dass eine Journalistin selbst auf die Karte "weibliche Attraktivität" setzt, wenn sie mehr rauskriegen will als der Kollege.

Und genau dieser Widerspruch ist heute auch die Krux der so gerne zitierten "jungen Frauen". Man hat ihnen weisgemacht, es gäbe keine Probleme mehr. Hauptsache, sie seien so qualifiziert wie die Männer – aber, Achtung: blieben dabei dennoch ganz Frau. Was immer das heißen mag. Auf jeden Fall heißt es: nicht so eine frustrierte, männerhassende Emanze sein wie Muttern, sondern trotz IQ und Diplom einen kurzen Rock tragen, High Heels und immer ein Lächeln auf den Lippen. Wir neuen Frauen sind so frei. Zu schön, wenn es wahr gewesen wäre. So aber wagten die neuen Frauen diese Gratwanderung – und fielen in den Augen gewisser Männer prompt wieder ins alte Raster: weiblich gleich gefügig.

Die 19-jährige amerikanische Bloggerin Julie Zeilinger, die noch aufs College geht, erklärte gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger: "Meine Generation ist mit der Idee aufgewachsen, Sexismus gäbe es seit Jahrzehnten nicht mehr. In den Medien und in der Popkultur heißt es: Wir befinden uns im Post-Feminismus. Aber der Sexismus existiert doch! Als sexuelle Belästigung auf der Straße oder als erniedrigender Kommentar wie der des deutschen Politikers" (Anm. d. Autorin: Brüderle).

Stern-Autorin Himmelreich sah das genau so und hat etwas Ungeheuerliches getan: Sie hat die Anmache weder belächelt noch weggesteckt, sondern ernst genommen; hat nicht schon vor Jahresfrist einen spitzen Schrei ausgestoßen und sich beklagt, dieser Herr Brüderle habe sie obszön angebaggert. Im Gegenteil: Sie hat einfach weiterrecherchiert, beobachtet und im passenden Moment – als Brüderle aktuell wurde – die Erfahrung, dass dieser Mann anscheinend ein notorischer Frauenanbaggerer auf Stammtischniveau ist, als einen Faktor von mehreren in ihrem Porträt verarbeitet. Und genau das war der Skandal! Dass ein Mann eine herablassende, sexistische Umgangsweise mit Frauen hat, das zählt plötzlich als Negativkriterium in einem Politikerporträt. Seit Veröffentlichung des Stern-Artikels "Der Herrenwitz" ist klar: Dieser neue alte Spitzenkandidat der FDP ist ein Mann von gestern.

In Amerika hätte so ein Mann gar nicht mehr Spitzenkandidat werden können. "Sexual harassment" im Beruf ist dort seit den 1970er Jahren ein ernst genommenes Thema. In Deutschland ist es seit den 1980er Jahren im Gespräch (EMMA brachte die erste große Geschichte über sexuelle Belästigung im Dezember 1980). Doch die zu Recht empörten jungen Frauen fangen heute trotzdem wieder von vorne an. Die früheren Kämpfe und Siege scheinen vergessen. Was der systematisch erzeugten Geschichtslosigkeit der Frauen zu verdanken ist, also der Spaltung der Generationen.

Auch dazu will dieses Buch beitragen: zur Überwindung dieser immer wieder vor allem von gewissen Medien beschworenen Spaltung und zum Bewusstsein unserer eigenen Geschichte. Denn auf sie können wir stolz sein. Wir haben schon viel erreicht. Wir müssen es nur wissen – und weitergehen.

Köln, im März 2013, Vorwort aus "Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf" (KiWi, 8.99 €)

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