Gekränkte Männer
Nach Magdeburg verkündete die Innenministerin: Das hätte nicht passieren dürfen, man werde in Zukunft alle potenziellen Täter im Visier haben, nicht nur die rechten und die islamistischen Terroristen, sondern auch die psychisch Gestörten.
Wie bitte? Wie stellt die Ministerin sich das denn vor? Mal abgesehen davon, dass auch die vorgeblich ideologisch Motivierten psychisch gestört sind, hat es sie immer gegeben: Diese Männer, die auf den Trip gehen, aus persönlichen, sozialen oder auch psychopathischen Gründen. In unserer Welt, in der Menschen zunehmend isoliert und einsam sind, werden sie nicht weniger, sondern mehr werden. Auch hat es Tradition in patriarchalen Kulturen, dass Frauen ihre Aggressionen eher nach innen richten, gegen sich selbst, und Männer eher nach außen, gegen die Anderen: an der Front gegen andere Manner, zuhause gegen Frauen und Kinder.
Frauen richten Aggressionen gegen
sich selbst, Männer gegen andere
Was wirft solche Männer aus der Bahn? Das kann vieles sein. Der soziale Abstieg. Eine Frau, die geht. Eine Umwelt, die ihr berechtigtes oder wahnhaftes Anliegen nicht ernst nimmt. Prägungen im Krieg: Veteranen, die gelernt haben, an der Front legal zu töten, und die Gewalt dann auch an der Heimatfront für ein Herrenrecht oder eine Konfliktlösung halten. Und zuguterletzt auch so manches Mal unbehandelte, weil unbemerkte neurologische Probleme.
Kurzum: Es kann fast jeder Mann in so eine Situation geraten. Und dann ist es eine Frage seiner Sozialisation und seines Umfeldes, wie er reagiert: selbstkritisch oder aggressiv.
Neu sind die Methoden, ist das Töten im dramatisch großen Stil und die Überhöhung der banalen Taten. Das haben uns insbesondere seit 9 /11 die verhetzten islamischen Fundamentalisten, die Islamisten vorgemacht: mit einem Flugzeug in ein Hochhaus oder einem Auto in eine Menschenmenge rasen, mit einem Messer wahllos um sich stechen, mit nach Anleitungen im Internet selbst gebastelten Bomben alles hoch gehen lassen. Und dann erklären: Das war im Namen der Gerechtigkeit.
Im Namen des großen Anliegens. Im Namen Allahs oder Wem-auch-immer.
Das Tor zu dem dunklen Gang
ist seit Jahrzehnten geöffnet
Das Tor zu diesem dunklen Gang ist seit Jahrzehnten geöffnet und es wird immer weiter. Durch dieses Tor werden in Zukunft nicht weniger, sondern mehr gehen. Unaufhaltsam. Vom ideologisch Motivierten (der nicht minder ebenfalls seine subjektiven Gründe hat) bis zum sozialen Absteiger oder Frauen- und Menschenhasser. Das macht für den gekränkten, rachsüchtigen Mann nämlich viel mehr Sinn als ein einsamer Selbstmord oder „nur“ das sogenannte Familiendrama, die Tötung von Frau und Kind.
Doch wo hört die Verzweiflung, Wut und Selbstgerechtigkeit solcher Männer auf - und wo fängt der Wahn an? Die Grenzen sind schmal und fließend. Und wer will das orten? Diese Männer sind keine Gruppe, sie haben nicht dieselben Merkmale. Sie sind Schläfer, die ein kleiner oder großer Auslöser zum plötzlichen Erwachen bringt.
Es hat weltweit noch keine Frau gegeben, die eine solche Tat begangen hätte. Es handelt sich also um eine Männersache. Um den Männlichkeitswahn. Und den wird der Staat nicht mit noch mehr Absperrungen und Waffen und Polizisten eindämmen können. Im Gegenteil. Der kommt von innen, ganz tief innen.
Aber wo hört die Wut auf,
und wann fängt der Wahn an?
Diesen Männlichkeitswahn kriegen wir nur durch eine echte „Zeitenwende“ zu fassen. (Übrigens: Der Begriff „Zeitenwende“ kam laut Daniela Dahn erstmals 1933 auf. Im Titel einer Kunstausstellung, „Deutsche Zeitenwende - vom Nationalismus zum Nationalsozialismus“).
Diesmal müsste es eine echte gesellschaftliche Zeitenwende sein. Ein Wertewandel zu einer anderen Zeit. Eine Zeit, in der zum Beispiel keine epidemische, allgegenwärtige Pornographie den Zusammenhang zwischen sexueller Gewalt und erotischem Begehren propagiert. Eine Zeit, in der das Demonstrieren karikaturaler „Männlichkeit“ - Muskeln, Breitbeinigkeit, Gewalt - nicht cool, sondern lächerlich ist. Eine Zeit, in der „Weiblichkeit“ nicht gleichgesetzt wird mit aufgeblasenen Gummipuppen-Lippen und gesundheitsgefährdenden, obszönen Silikonbusen. Eine Zeit, in der Mitgefühl angesagt ist und „Opfer“ kein höhnisches Schimpfwort, sondern ein Hilferuf ist.
Ein „Sondervermögen“ für
die Menschen muss her!
Für so eine Zeit dürfen nicht noch mehr Milliarden in die Hardware fließen, sondern müssten „Sondervermögen“ für die Software her. Der Wertewandel muss gefördert werden. Zum Beispiel durch ein Handyverbot für Kinder und rechtsstaatliche Kontrollen des Internets; durch ausreichend LehrerInnen, die sich mit den Kindern beschäftigen, statt sie nur zu verwalten; durch genug Krippen- und Kindergartenplätze sowie Ganztagsschulen; durch das Vorbild von Müttern, die selbstverständlich berufstätig sein können, ohne deswegen als „Rabenmütter“ zu gelten; durch das Vorbild von Vätern, die nicht missbrauchen, sondern bemuttern; durch humane Lebensbedingungen und Respekt für Alte; durch Eindämmung der Macht des Kapitals und mehr soziale Gerechtigkeit. Undsoweiterundsofort.
Statt dem (Wahl)Volk unrealistischen Unsinn vorzugaukeln, gilt es, endlich in Menschen zu investieren.
ALICE SCHWARZER