In der aktuellen EMMA

Es passiert mitten unter uns!

Links: Dr. Cornelia Strunz im Desert Flower Center. Rechts: Virginia Wangare Greiner setzt sich mit "Maisha" für Mädchen ein
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Virginia Wangare Greiner und Dr. Cornelia Strunz, Sie sind beide aktiv im Kampf gegen die Genitalverstümmelung mitten in Deutschland. Seit wann und in welcher Form?
Greiner Ich stamme aus Kenia und bin 1986 nach Deutschland gekommen. Um mich auch selbst zu integrieren, habe ich mich für afrikanische Frauen in Frankfurt engagiert und bin dabei auf das Problem gestoßen. Frauen, die genitalverstümmelt sind, haben schwere gesundheitliche Probleme. 1996 kam eine verstümmelte Frau in Panik zu mir. Sie konnte ihr Baby nicht gebären, wollte aber auch nicht ins Krankenhaus. Sie und ihr Kind wären beinahe gestorben. Da wusste ich, ich muss handeln und habe also Maisha gegründet, den ersten Selbsthilfeverein in Deutschland, der sich speziell für afrikanische Frauen einsetzt. „Maisha“ heißt „Leben“ auf Swahili. Das gilt es für die Frauen zu verbessern, denen diese schwere Menschenrechtsverletzung angetan wurde. Ich mache psychosoziale und rechtliche Beratungen, vermittele medizinische Hilfe für betroffene Frauen und leiste Präven­tionsarbeit. Mit Maisha schulen wir ÄrztInnen, LehrerInnen und Sozial­arbeiterInnen. Wir versuchen, das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit und an politische Entscheidungsträger zu bringen und für die Abschaffung dieser Praxis zu werben.

Strunz Ich habe im Sommer 2013 angefangen, als Fachärztin für Allgemein- und Gefäßchirurgie im Krankenhaus Waldfriede in der Darm- und Becken­bodenchirurgie zu arbeiten. Ich wollte eigentlich die Zusatzbezeichnung Proktologie erlangen. Mein Chefarzt, Dr. Roland Scherer, war damals im Begriff, das weltweit erste Zentrum für genitalbeschnittene Frauen zu gründen, das „Desert Flower Center“. Dabei wurde er von Waris Dirie inspiriert, die das Thema 1998 mit ihrem Bestseller „Wüsten­blume“ an die Öffentlichkeit gebracht hat. Er brauchte eine Ärztin, die die Sprechstunde für betroffene Frauen leitet. Bei diesem sensiblen Thema würde das nur von Frau zu Frau gehen. Mir war schnell klar, dass ich diesen Frauen mit meiner medizinischen Expertise helfen will. Seit nun schon elf Jahren leite ich die Sprechstunde und habe auch eine Selbsthilfegruppe initiiert.

Wie kommen die Frauen denn zu Ihnen?
Strunz Fast alle Frauen, die bei uns behandelt wurden, kommen ursprünglich als Migrantinnen aus Afrika. Einige reisen auch aus dem Ausland an, aus London zum Beispiel. Vieles läuft über Mundpropaganda in den Communities, manche haben im Internet recherchiert. Im Rahmen der Selbsthilfegruppe ermutigen auch bereits operierte Frauen andere Frauen. Sehr häufig benötigen die Frauen ein Attest mit dem Nachweis der durchgeführten ­Beschneidung für ihre Anhörung beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm. d. Red.), um eine Aufenthaltserlaubnis und Leistungen beantragen zu können. Es kontaktieren mich aber auch Sozialarbeiterinnen, mit denen ich seit vielen Jahren zusammenarbeite, oder niedergelassene Gynäkologinnen, die eine betroffene Frau in ihrer Sprechstunde haben. Ich würde mich allerdings freuen, wenn unser Angebot für eine Beratung oder Zweitmeinung noch mehr genutzt werden würde, zum Beispiel auch von Kinderärzten und von Beratungsstellen und MigrantInnen-Netzwerken.

Greiner Ich bin in der afrikanischen Community in Frankfurt gut vernetzt. Außerdem bin ich in vielen MigrantInnen-Netzwerken vertreten. Unsere Hilfe für Frauen spricht sich rum. Frauen ermutigen sich gegenseitig, zu uns zu kommen. Wir gehen auch direkt in die Gemeinden, um dort Aufklärung zu betreiben und ein Bewusstsein für den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Mädchen und Frauen zu schaffen.

Wie helfen Sie konkret?
Greiner Erst einmal brauchen die Mädchen und Frauen eine vertrauensvolle Atmosphäre, viele sind auch seelisch sehr angegriffen. Es hilft enorm, wenn jemand ihre Sprache spricht. Sie dürfen nicht das Gefühl haben, dass ich sie verurteile. Die meisten wurden schon als kleine Mädchen verstümmelt, sie kennen ihren Körper nur so und denken, das wäre normal. Ich mache soziale und psychotherapeutische Beratungen. Den Frauen, die bereits verstümmelt sind, erkläre ich, wie ihnen medizinisch geholfen werden kann und warum das sinnvoll ist. Manche haben beispielsweise große Probleme, zur Toilette zu gehen, weil sie nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung haben. Urin und Menstruationsblut können kaum abfließen. Und ich erkläre ihnen, welche Auswirkungen eine Beschneidung für ihre Tochter haben würde. 

Strunz Die Vorgespräche in der Sprechstunde sind oft sehr emotional und dauern oftmals ein bis zwei Stunden. Jede Frau soll genug Zeit haben, sich mir gegenüber zu öffnen. Ich höre mir an, was sie erlebt haben und was ihre Beschwerden sind. Nicht immer geht es um eine Operation. Einige wollen ein Gespräch mit unserer Psychothe­rapeutin oder Sexualtherapeutin oder die Anbindung an unsere Selbsthilfegruppe. Ich zeige an einem Vulva-Modell, wie die Anatomie einer Frau normalerweise aussieht. Sie realisieren oft erst dann, was da eigentlich mit ihrem Körper geschehen ist. Mindestens einmal im Monat führen wir dann die Operationen durch. Dr. Uwe von Fritschen ist Chefarzt der Plastischen Chirurgie im „Helios Klinikum Emil von Behring“ und führt bei uns die rekonstruktiven Eingriffe durch.

Das Trauma der Beschneidung wird mit der OP nicht verschwunden sein.
Strunz Nein. Es begleitet die Frauen ein Leben lang. Körperlich und seelisch. Viele Frauen werden nie ohne körper­liche Beschwerden leben können und sie empfinden große Scham. Diese Frauen über einen längeren Zeitraum auch psychisch und sexualtherapeutisch zu begleiten, ist wichtig. Dafür steht mir eine Kollegin aus Guinea zur Seite, die psychotherapeutische und sexualtherapeutische Hilfe anbietet. Und die Vernetzung unter den Frauen in der Selbsthilfegruppe ist auch eine Stütze. Viele fühlen sich nach der Operation wieder wohl in ihrem Körper, weil sie dadurch ihre Weiblichkeit zurückbekommen. Durch die Operation wird ihnen das wiedergegeben, was durch die Beschneidung genommen wurde. Außerdem können Urin und Menstruationsblut abfließen. Sollte vorher Geschlechtsverkehr nicht möglich gewesen sein, geht das nun wieder.

Greiner Die Verstümmelung der Genitalien geht ans Innerste eines Menschen. Einmal ist da diese frühe extreme Gewalterfahrung als Kind. Verschärfend kommt hinzu, dass das von den eigenen Eltern gewollt ist. Die Eltern lieben ihr Kind. Sie glauben aber, das muss so sein.

Strunz Jede Frau, die mir gegenübersitzt, würde immer sagen: Meine Eltern haben nur das Beste für mich gewollt. Nur ein beschnittenes Mädchen ist in ihrer Kultur ein „reines“ Mädchen, wird sozial anerkannt und kann verheiratet werden. Ein nicht beschnittenes Mädchen wird sozial ausgegrenzt, hat keine Zukunftsperspektive, ist ewig stigmatisiert. 

Wie hoch schätzen Sie die Zahlen der in Deutschland lebenden bereits Verstümmelten – und wie hoch die der akut bedrohten Mädchen?
Strunz Weltweit sind zirka 250 Millionen Frauen betroffen. Alle elf Sekunden wird ein Mädchen verstümmelt. Allein in Deutschland sind es 75.000 Frauen und Mädchen. 15.000 Mädchen sind hier jedes Jahr davon bedroht. Das ist aber nur eine Dunkelziffer. Fest steht: Die Zahlen steigen von Jahr zu Jahr. In vielen afrikanischen Ländern wie in Somalia oder Djibuti werden die Mädchen zwangsverheiratet. Die Beschneidung ist dafür die Voraussetzung. Bei der Zwangsehe erhalten die Eltern des Mädchens meist ein Stück Land, was sehr viel mehr wert ist als das Mädchen.

Greiner Auch wenn Genitalverstümmelung in vielen Ländern verboten ist, passiert sie deshalb trotzdem. Es gibt ja keine strafrechtliche Verfolgung. Es ist eine alte Tradition, die tief in der Kultur verankert ist und mit der Vorstellung von Frauen, Familie und Ehe zu tun hat. Viele der Frauen sind muslimisch geprägt, aber nicht alle. Die Tradition steht über der Religion. Das Thema ist zudem hochpolitisch. Im März 2024 wollte die Regierung von Gambia das Verbot der Verstümmelung aufheben. Die mehrheitlich muslimische Bevölkerung sollte ihre Kultur und Religion frei ausüben können, hieß es im Parlament. Der Versuch ist zum Glück gescheitert. Es wäre ein fatales Signal gewesen. Die Aufhebung des Verbots würde hart erkämpfte Errungenschaften für der Gleichstellung der Frauen zurückdrehen. Und das könnte auf ganz Westafrika ausstrahlen. Solche Vorstöße der Regierung können immer wieder passieren.

Wie ist das Problembewusstsein innerhalb der Communities in Deutschland? Hat sich das in den letzten 30 Jahren geändert?
Strunz Ich beobachte, dass bei den Frauen, die wir behandelt haben, ein großes Umdenken stattfindet. Sie werden dieses Leid nicht an ihre eigenen Töchter weitergeben. Besonders die somalischen Frauen in Berlin wenden sich von der Tradition ab. Wir haben ja auch viele Frauen, die erst dank unserer Operationen schwanger werden konnten. Wenn diese Frauen Mädchen entbinden, würden sie ihre eigenen Töchter niemals beschneiden lassen. Selbstverständlich kläre ich während der Sprechstunde und auch während der Selbsthilfegruppe darüber auf. Es ist ein Straftatbestand in Deutschland, auf den ich immer wieder hinweise.

Greiner Hier in Deutschland in den Communities hat sich in den letzten 30 Jahren ein starkes Problembewusstsein entwickelt. Das große Problem ist, dass es für Eltern mehrere Jahre dauert, bis sie ihre Kinder nachholen können. Es wäre ein Leichtes, für Mädchen, die einen gesetzlichen Anspruch auf Einreise haben, ein beschleunigtes Verfahren zu gewährleisten und sie vor der Verstümmelung zu bewahren. Stattdessen müssen ihre Eltern zwei bis vier Jahre lang hilflos den Handlungen ihrer Verwandten, in deren Obhut sich die Mädchen befinden, zusehen. Veranlassen diese in dieser Zeit die Verstümmelung, kommen die Mädchen schwer traumatisiert und geschädigt in Deutschland an – oder sie verschwinden schon vorher und werden zwangsverheiratet.

Als EMMA 1977 erstmals über die Genitalverstümmelung berichtete – damals noch Klitorisbeschneidung genannt – gab es viel Zuspruch von Leserinnen, aber harsche Kritik aus der antikolonialistischen Linken: Wir privilegierten weißen Frauen sollten uns gefälligst raushalten. Uns stünde eine Kritik an „anderen Bräuchen und Sitten“ nicht zu. Gibt es diese Stimmen noch?
Strunz Ich höre sie nicht. Ich glaube, wer sich einmal mit dem Thema befasst, dem ist die Grausamkeit schnell klar. 

Greiner Die Frauen, die zu mir kommen und mit denen ich zusammenarbeite, denken das nicht.

Welche Rolle spielen die Väter?
Greiner Umfragen in den Communities in Deutschland haben gezeigt, dass ein Großteil der Männer die Beschneidung ablehnt. Ein Mann hat bei einer beschnittenen Frau sexuell nicht viel zu genießen. Da gehen sie dann lieber zu unbeschnittenen Frauen. Mir haben auch viele Väter gesagt, dass sie nicht wollen, dass ihre Tochter beschnitten wird. Die Frage ist, ob sie den Druck ihrer eigenen Community aushalten.

Strunz Ich erlebe Frauen, die eigentlich dringend operiert werden müssten, die eine OP aber nicht wollen, bevor sie einen Mann haben. Sie sagen: ‚Der Mann muss erst sehen, dass ich beschnitten bin.‘ Wenn sie dann verheiratet sind, kann die OP nicht schnell genug kommen. 

Können sich alle Frauen eine OP leisten?
Strunz Bei den Frauen, die hier in Deutschland krankenversichert sind, übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Über unseren Förderverein akquirieren wir aber auch Spenden, damit wir auch jede nicht versicherte Frau behandeln können.

Wie geht es den Frauen nach dem Eingriff? Wagen sie, auf die Suche nach ihrer eigenen Lust zu gehen? Die Tatsache, dass das rein körperlich möglich ist, bedeutet ja nicht, dass sie das auch psychisch wagen.
Strunz Das ist bei jeder Frau anders. Viele Frauen sind schon im Kindesalter beschnitten worden, haben einen komplexen soziokulturellen Hintergrund und sind durch Fluchterfahrung polytraumatisiert. Daher klären wir vorher auch ab, ob eine Operation zum derzeitigen Zeitpunkt die beste Lösung darstellt oder eine sexualtherapeutische Beratung erstmal die bessere Hilfe ist. Uns ist wichtig, dass wir auch nach der Operation mit den Frauen in Kontakt bleiben. Wir möchten erfahren, wie es ihnen gesundheitlich geht und was sich durch die Operation ­verändert hat.

Greiner Jede Frau entwickelt sich anders. Das kommt auch auf die Lebenszusammenhänge und ihre Prägung an. Selbst in Kenia, das Land, aus dem ich komme, gibt es so viele verschiedene Stämme und Gruppen, in denen Frauen unterschiedliche Frauen­leben leben und unterschiedlich mit ihrer Sexualität umgehen. Selbst ich kann nicht für „die“ Frauen Kenias sprechen.

Strunz Aktuell bereiten wir eine Studie genau zu Ihrer Frage vor: Was hat die Operation den Frauen im Hinblick auf die gelebte Sexualität an Veränderung und Erfolg gebracht! Wir publizieren unsere Resultate in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, um das Thema auch in die Fachwelt zu tragen. 

Sind Sie in Kontakt mit engagierten Kräften in den ­Herkunftsländern?
Strunz Das Krankenhaus Waldfriede hat eine Partnerklinik in Eldoret in Kenia und es unterstützt dort auch zwei Mädchenschulen. Die Mädchen können dort zur Schule gehen, werden vor der Zwangsehe geschützt und können im Anschluss eine Ausbildung machen. Damit ist ihnen der Weg geebnet, aus dieser Spirale zu kommen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Vor Ort müssten die Beschneiderinnen zu einem Umdenken gebracht werden. Das ist dort immer noch ein hochangesehener Beruf für Frauen. Und es ist ein weiter Weg, sie von dieser uralten Tradition abzubringen. 

Greiner Ich finde es ja richtig, Projekte in Afrika zu unterstützen. Aber ich finde, hier in Deutschland muss auch was passieren. Mindestens 70.000 Frauen in Deutschland sind betroffen. Das ist doch eine unglaubliche Zahl! Wir müssen mehr Bildungsarbeit, mehr Prävention leisten, mehr Finanzierung für Projekte auf die Beine stellen. Ich bekomme zum Beispiel schneller Fördermittel für Projekte in Kenia als für Projekte für Mädchen, die hier in Deutschland leben. Warum ist das so? Das Problem ist hier bei uns – stellen wir uns ihm hier! Wir müssen die betroffenen Frauen hier zu Botschafterinnen ihres eigenen Landes machen, wir müssen ihnen Ansehen verschaffen. Und dann müssen sie zurück­wirken in ihre Heimatländer.

Sind Ihnen Initiativen seitens des Aus­wärtigen Amtes und des Ent­wick­lungs­minis­teriums bekannt?
Strunz Nein. Der Berliner Senat fördert zwar eine Beratungsstelle, die sich des Themas annimmt, aber Genitalverstümmelung erhält generell zu wenig Aufmerksamkeit. Ich merke es hier vor Ort. Durch unsere Öffentlichkeitsarbeit und durch Veranstaltungen – auch gemeinsam mit Waris Dirie – machen wir auf das Thema aufmerksam. Aber von offizieller Ebene ist keine große Hilfe zu erwarten.

Greiner Mir sind auch keine bekannt. Ich habe eher den Eindruck, es wird so getan, als wäre es kein großes Problem in Deutschland. Das Thema wird offiziell kaum aufgegriffen. Weder in der Flüchtlingshilfe noch in der Politik.

In den 90er Jahren begann die Anwältin Linda Weil-Curiel in Frankreich, Beschneiderinnen und verantwortliche Eltern vor Gericht zu bringen. Sie hat etwa 60 Prozesse geführt und in der Zeit auch KollegInnen in Westeuropa, auch in Deutschland, über die Notwendigkeit informiert, Strafverfolgungen gegen dieses Verbrechen ­einzuleiten. Sind Ihnen Prozesse oder Versuche, Genitalverstümmelung anzuzeigen, bekannt?
Greiner Die Frage stelle ich mir auch! Warum fallen diese Kinder nirgendwo auf? 90 Prozent der betroffenen Mädchen sind in Deutschland in der Kita oder in der Schule. Sie müssten eigentlich regelmäßig zum Kinderarzt. Warum reagieren die Behörden nicht? In Frankreich, in Großbritannien hat es Anzeigen und Prozesse gegeben. Hier aber bisher nicht. Dabei ist die Gesetzeslage in Deutschland eigentlich gut. Seit 2013 ist Genitalverstümmelung ein eigener Straftatbestand und kann auch im Ausland verfolgt werden. Mir ist aber kein einziger Fall in Deutschland bekannt. Ich glaube, dass viele Betroffene so große Angst vor einer Abschiebung haben, dass sie Situationen vermeiden, wo die Verstümmelung auffallen könnte. Und ich glaube, dass deutsche Behörden wegschauen.

Strunz Mir hat in meiner Sprechstunde noch keine Frau gesagt, dass sie in Deutschland beschnitten wurde. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, dass die Angst vor der eigenen Community und den Konsequenzen, die auf sie zukommen würden, zu groß ist. Der Druck ist immens. Eine Frau, die fast komplett zugenäht war, sagte mir: ‚Conny, ich kann mich nicht operieren lassen. Wenn ich abgeschoben werde und mein Urinstrahl mich dann verrät, dann werde ich im ­Heimatland getötet.‘

Und was ist mit den KinderärztInnen?
Strunz Ich halte die regelmäßige Kinderuntersuchung U1 bis U9 für extrem wichtig. Ich hoffe, dass die KinderärztInnen genau hinschauen und einen geschulten Blick dafür haben. Viele ÄrztInnen und Hebammen kennen sich mit dem Thema aber wenig aus. Es ist meist auch nicht Teil des Medizinstudiums. Viele wissen auch einfach nicht, wie sie das Thema ansprechen sollen, haben Angst, rassistisch zu wirken. Ich sage immer: Mach den Mund auf, sprich mit der Frau behutsam darüber. Im Krankenhaus Waldfriede bieten wir OP-Kurse zur Ausbildung von Operateuren und Hebammen an, wir publizieren und halten Fachvorträge. Es gibt Beratung, es gibt ärztliche Hilfe, aber sie muss auch in Gang gesetzt werden.

Greiner Das Thema muss dringend ins Medizinstudium. ÄrztInnen brauchen Fachkenntnisse über die unterschiedlichen Formen von Genitalverstümmelung. Wir haben das Problem mitten in Deutschland, also müssen sich deutsche ÄrztInnen damit auch aus­einandersetzen. In unserem Verein machen wir Veranstaltungen mit Kinderärztinnen, mit Hebammen, mit PädagogInnen. In der Klinik, mit der wir in Frankfurt zusammenarbeiten und in die viele betroffene Frauen kommen, klappt das gut. Man muss es nur wollen.

Die Alice-Schwarzer-Stiftung wird Ihnen im Herbst den „HeldinnenAward“ verleihen. Gehen Sie davon aus, dass das Ihr Engagement stärken wird?
Strunz Ich hoffe es! Was wir brauchen, ist eine größere Sensibilisierung und Öffentlichkeit für das Thema und den Willen, sich damit auseinander­zu-setzen. Für viele Menschen ist Genitalverstümmelung so schrecklich, dass sie gleich abwinken. ÄrztInnen müssen mit dem Thema vertraut gemacht werden. Und auch die Behörden.  

Greiner Ich hoffe, dass wir dadurch mehr politisches Gewicht bekommen. Die Bedrohung von Genitalverstümmelung sollte beispielsweise ein Asylgrund für Frauen und ihre Töchter sein. Darum wird schon lange gekämpft. Zum Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung am 6. Februar gibt es seitens der Politik immer warme Worte. Es müssen aber auch mal Taten folgen.    

Das Gespräch führte Annika Ross.

 

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