GENITALVERSTÜMMELUNG: Ich wurde

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Eines Tages zu Weihnachten, als ich sieben Jahre alt war, bekamen meine Brüder vom Weihnachtsmann Luftgewehre geschenkt. Die Gewehre waren mit Kupferschrotkugeln geladen, mit denen man Vögel abschoss. Weil ich ein Mädchen war, bekam ich kein Gewehr.

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Der Bruder, der mich schon früher mit Drohungen und Fäusten attackiert hatte er war zwei Jahre älter und ein gutes Stück größer als ich benutzte sein Gewehr, um auf mich zu schießen. Eines Tages schoss er mir ins Auge und zerstörte dadurch meine Pupille. Binnen weniger Minuten erblindete ich auf diesem Auge.

Mein Auge schmerzte noch lange. Für viele Jahre war es von Narbengewebe überzogen. Ich musste unzählige Operationen aushallen. Ich bin seither gegen unzählige Dinge gerannt, weil ich sie nicht richtig sehen konnte.

Nachdem meine Eltern mich zunächst eine Woche lang umsorgt halten, ignorierten sie meine Verletzung danach völlig. Wenn sie überhaupt erwähnten, was passiert war. sprachen sie von einem "Unfall". Alices Unfall. Als ich mich wegen meiner Behinderung und der feindseligen Neugier meiner Klassenkameraden nicht in einer neuen Schule einleben konnte, wurde ich von zu Hause fortgeschickt, um bei meinen Großeltern zu leben.

Lange Zeit fühlte ich mich völlig abgewertet. Unsichtbar. Wertlos. Weil mir die Schuld für meine Verletzung gegeben wurde und weil es mir doch nie wirklich gelang, zu akzeptieren, dass es mein Fehler war, beherrschten Selbstmordgedanken mein Leben.

Mein Konflikt war: Obwohl er damals erst zehn gewesen war, hatte ich genau gesehen, wie mein Bruder das Gewehr gesenkt hatte, nachdem er auf mich geschossen hatte. Da wusste ich, dass er mich absichtlich verletzt hatte. Vielleicht hatte er nicht geplant, mich ins Auge zu treffen, aber dass er auf mich gezielt hatte, stand außer Frage. Ich stand auf dem Dach unserer Garage. Außer mir gab es da oben nichts.

Eines Tages, nach der Geburt meiner eigenen Tochter, konfrontierte ich meine Mutter damit. Mein Vater war gestorben, ohne je mit mir über das zu sprechen, was damals passiert war. Im Gegenteil: Seit meiner Verletzung zog er sich völlig von mir zurück. Als er elf Jahre alt gewesen war, war seine Mutter von einem Mann erschossen worden, der behauptete, sie zu lieben. Vielleicht schmerzte ihn der Anblick meiner Verletzung zu sehr, weil es seine eigene Wunde von damals, den Verlust und die Angst, wieder in ihm aufriss. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer - ich werde das nie mehr erfahren.

Meine Mutter bat mich um Verzeihung. Denn natürlich hatten sie und mein Vater das Gewehr, mit dem auf mich geschossen wurde, eigenhändig erstanden. Es war speziell meine Mutter gewesen, die regelrecht verliebt gewesen war in diese Cowboy-Ballerfilme. Sie hatte nicht an die möglichen Folgen gedacht, als sie meinen Brüdern Gewehre kaufte.

Was ich hatte, doch das begriff ich erst als bewusst feministische Erwachsene, war eine patriarchalische Wunde.

Ich erinnerte mich auf einmal, wie es gewesen war, in den 50er Jahren im abgeschiedenen Süden aufzuwachsen. Wie hart die schwarzen Leute arbeiteten und wie wenig die weißen Arbeitgeber ihnen dafür bezahlten. Ihre einzige Unterhaltung am Ende einer erschöpfenden Sechs-Tage-Woche war das Kino. Dort konsumierten sie rassistische und sexistische Propaganda, durch eben diese Ballerfilme, die meine Mutter so liebte.

Doch dadurch lernten sie nur, Inder und Afrikaner zu verachten; Asiaten zu misstrauen; nur weiße Frauen zu beschützen und zu respektieren und nur weiße Männer zu bewundern und zu fürchten. Und so waren sie natürlich unfähig, sich selbst überhaupt noch zu sehen, zumindest für die Dauer des Films. Tatsächlich erlitten sie eine Art psychische Verstümmelung.

Die Tatsache, dass ich mein Gleichgewicht wiedererlangt und es geschafft habe, mein Leben weiterzuleben, auch ohne Unterstützung und Rücksicht meiner Eltern, zeigt, dass ich meine Wunde inzwischen zu einer "warrior mark" erklärt habe (Anm.: eine Narbe, die erhobenen Hauptes als Kriegsbemalung getragen wird) denn ich musste mich aus eigener Kraft verwandeln: von einem Mädchen, das fast von seinem Leiden zerstört worden wäre, zu einer Frau, die das Leben liebt und Freude und Glück empfinden kann.

Es ist wahr, dass ich für immer gezeichnet bin wie eine Frau, die um ihre Klitoris beraubt wurde. Aber meine Verletzung ist nicht das Brandmal eines Opfers. Was eine Kriegerin lernt, wenn sie als Kind verletzt - wird verletzt, schon bevor sie überhaupt begreifen kann, dass da ein Krieg gegen sie im Gange ist -ist, dass sie Zurückkämpfen kann, sogar nachdem sie verletzt wurde. Ihre Wunde kann ihr dabei sogar den Weg weisen. Es war meine visuelle Verstümmelung, die mir half, die genitale Verstümmelung zu "sehen".

Die Verkrüppelung und Verstümmelung von Frauen ist heute allgemein üblich. Nicht nur im Mittleren Osten. Nicht nur in Asien. Nicht nur in Afrika. Vor ein paar Monaten wurde meine Nichte Linda mit vorgehaltener Pistole überfallen. Nachdem sie beraubt worden war, wurde ihr befohlen, wegzulaufen. Als sie das tat, schoss man ihr in beide Beine. Sie verlor ein Bein. Einige Mitglieder meiner Familie bezeichnen diesen Angriff als "Lindas Unfall". Es hat mich nicht überrascht, als ich während meiner Recherchen für mein Buch "Sie hüten das Geheimnis des Glücks" herausfand, dass natürlich den Frauen selbst die Schuld daran gegeben wird, dass sie sexuell verstümmelt werden.

Ihre Genitalien sind unrein, heißt es. Monströs. Die Vorgänge in der unverstümmelten weiblichen Vulva ängstigen Männer und machen unfruchtbar. Ist sie erigiert, fordert die Klitoris die männliche Autorität heraus. Sie muss einfach zerstört werden.

Ich war acht, als ich verwundet wurde. Dies ist das Alter, in dem viele "Beschneidungen" vollzogen werden. Als ich sah, wie die kleinen Mädchen - wie klein sie sind! - ihre Füße hinter sich herschleiften, nachdem sie verwundet worden waren, erinnerte mich das an mich selbst. Wie hatte ich es geschafft, wieder normal gehen zu lernen, ohne ständig irgendwo anzustoßen? Wieder zu sehen, mit nur der Hälfte meiner Sehkraft?

Statt dass mir dabei geholfen wurde, verbannte man mich aus der Familie, so wie die verstümmelten kleinen Mädchen. Denn während ihre Wunden heilen sollen, müssen sie alleine sitzen, mit zusammengebundenen Beinen. Und es ist ein Tabu, über das zu sprechen, was man ihnen angetan hat.

Niemand würde auf die Idee kommen, dass es normal ist, vorsätzlich die Pupille eines Auges zu zerstören. Ohne Pupille kann das Auge nicht sich selbst erkennen. Und nicht seine Spiegelung im eines anderen. Mit der Vulva ist das nicht anders. Ohne Klitoris und andere Sexualorgane kann eine Frau nie wahrnehmen, wie sie sich im intakten Körper eines Gegenübers widerspiegelt.

Ihr sexuelles Sehvermögen ist beeinträchtigt, und nur das ergebenste Gegenüber kann überhaupt sexuell "erkannt" werden. Und selbst dann niemals vollständig.

Dieser Verlust ist es, unter anderem, den wir, die Frauen wie die Männer, betrauern müssen. Denn wer von uns möchte nicht vollständig erkannt und in seiner Ganzheit geliebt werden?

Die unter uns, die wie ich verkrüppelt wurden, können euch sagen, dass es dennoch möglich ist, weiterzuleben. Aufzublühen. Zu wachsen. Zu lieben und geliebt zu werden was das Allerwichtigste ist. Und Freude und Glück zu empfinden. Wir können euch auch sagen,  dass jede Verstümmelung unnötig ist und Leid verursacht, das kaum ermessbar ist. Wir können euch sagen, dass der Körper, in den wir geboren werden, heilig und vollständig ist, wie die Erde, aus der er entstanden ist. Es gibt nichts, was von diesem Körper abgeschnitten werden müsste.

Übersetzung: Gisa Klönne
 

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