Was eine Frau erreichen kann
Manchmal sind die Menschen, die an die Tür von Jawahir Cumars Beratungsraum in der Düsseldorfer Schumannstraße klopfen, noch sehr jung. 14 oder 16 vielleicht. "Sie kommen vorbei und sagen: ‚Unsere Freundin kommt seit ein paar Wochen nicht zur Schule. Könnten Sie dort mal vorbeischauen?‘" Manchmal kommen auch Jungen, die gehört haben, dass ihre Schwester beim nächsten Urlaub in der Heimat beschnitten werden soll, und das unbedingt verhindern wollen. Dann gehen Jawahir oder eine ihrer drei MitstreiterInnen von "Stop Mutilation" nachsehen, warum das Mädchen fehlt. Ob es vielleicht nach Afrika gebracht worden ist, wo ihm die Genitalverstümmelung droht. Cumar, Dolmetscherin und selbst Mutter dreier Kinder, erklärt den Eltern, dass das, was sie mit ihrer Tochter vorhaben, in Deutschland verboten ist – und warum. Zwölf Mädchen konnte die Deutsch-Somalierin so bisher davor bewahren, ihre Lust und ihre Gesundheit für immer zu verlieren. Jawahir weiß, was das bedeutet.
Die Jungs und Mädchen, die "Stop Mutilation" alarmieren, sind etwa so alt wie Jawahir Cumar damals, als sie im Sportunterricht zusammenbrach. Da war sie 14 und lebte seit drei Jahren in Deutschland. Der Arzt, zu dem man das Mädchen brachte, stand zunächst vor einem Rätsel – bis eine gynäkologische Untersuchung die Ursache ans Licht brachte: Man hatte sie als Fünfjährige nach ihrer Beschneidung so eng zugenäht, dass ihre erste Periode nicht abfließen konnte. "Sie mussten das aufschneiden. Meinem Vater sagten sie, sonst sterbe ich und er war dann sofort dafür", erzählt Jawahir Cumar.
Die heute 31-Jährige wurde im Norden Somalias geboren. "Schon damals war mein Vater gegen die Beschneidung", sagt sie. Aber ihre Großmutter brachte sie heimlich zum Arzt. Als Jugendliche ist Jawahir in der Schule jeden Monat mindestens zwei Tage lang krank. "Die anderen hatten das nicht. Da wurde mir dann langsam klar, dass ich anders bin." Der Verdacht wird zur Gewissheit, als sie mit 17 heiratet. "Wir waren schon sechs Monate verheiratet, aber ich wollte ‚es‘ gar nicht probieren. Mein Mann hat nach mehreren Versuchen gesagt: Es geht tatsächlich nicht." Sie darf sich vom Frauenarzt mit einer weiteren Öffnungsoperation helfen lassen.
Seit elf Jahren arbeitet die Rheinländerin aus Somalia nun dafür, dass anderen Mädchen ihr Schicksal erspart bleibt. 1997 gründet sie den Verein "Stop Mutilation". Es begann in ihrer Heimat. Sie kann es nicht fassen, als sie bei einem Besuch in Somalia 1996 erlebt, wie eine Familie um ihre achtjährige Tochter trauert. Das Mädchen war bei seiner Beschneidung verblutet. "Macht man das hier etwa immer noch?", fragte sie entgeistert. "Ja, selbstverständlich, was denkst du denn!" Dass ein Mädchen bei dem Eingriff verblute, passiere fast jeden Tag. Sie hört auch vom Schicksal einer Gebärenden. Wie üblich hatte man sie gleich nach der Geburt ihres Kindes wieder zugenäht und dabei übersehen, dass sie Zwillinge bekam. "Sie haben die Frau, die furchtbare Schmerzen hatte, dann in den Jeep gesetzt und 1.500 Kilometer ins nächste Krankenhaus nach Mogadischu gefahren. Das Kind war dann natürlich tot und die Frau wäre auch fast gestorben", erinnert sie sich.
Jawahir Cumar muss etwas tun. Mit Geld- und Sachspenden aus Deutschland stattet sie im nordsomalischen Puntland eine Krankenstation aus. Die wird durch den Tsunami zerstört, aber Jawahir Cumar sammelt unermüdlich Spenden für den Wiederaufbau. Anfang 2009 soll die erste Klinik für beschnittene Frauen und ihre Kinder in Somalia ihre Arbeit beginnen. Außerdem finanziert Cumar eine Schule, an der 400 Jungen und 700 Mädchen ausgebildet werden. Bedingung für die Aufnahme der Mädchen ist: dass sie unbeschnitten sind.
Aber Jawahir weiß, dass auch afrikanische Mädchen in Deutschland keineswegs sicher vor der Verstümmelung sind und die Mythen über die grausame Tradition hier weiterleben: "Afrikanische Schülerinnen sagen zu ihren Klassenkameradinnen: ‚Du bist nicht beschnitten, du bist nicht rein‘." Deshalb macht die inzwischen alleinerziehende Mutter ihre Düsseldorfer Wohnung zur Beratungsstelle. Vier Jahre lang empfängt sie die ratsuchenden Frauen zu Hause, dann stellt ihr die Caritas einen Raum zur Verfügung. Vier bis sechs Anfragen bekommt Stop Mutilation pro Woche. Eine Frau reiste sogar aus Kanada an.
Diejenigen, die eine Öffnungsoperation wollen, unter Infektionen leiden oder eine Geburt vor sich haben, begleitet Dolmetscherin Cumar zur Gynäkologin. Inzwischen hat sie ein Netzwerk mit ÄrztInnen aufgebaut, die die Patientinnen sensibel und mit dem nötigen Fachwissen behandeln. Andere Frauen muss Jawahir Cumar davon überzeugen, ihre Töchter unversehrt zu lassen.
Manchmal hilft nur Schocktherapie. Der Beitrag des ZDF-Magazins "Mona Lisa", in dem eine Mädchenbeschneidung gezeigt wird, habe schon das eine oder andere Mal geholfen, erzählt Cumar. Ein Mädchen aus Bonn konnte sie durch so einen Filmabend retten. "Ich wusste von der Mutter, dass sie vorhat, ihre Tochter für die Verstümmelung nach Somalia zu bringen. Da habe ich sie und dreißig andere Frauen zu Kaffee und Tee eingeladen und den Film gezeigt."
Seit 1999 kämpft Ahmed Mahmud an Jawahirs Seite. In seiner Heimat Somalia war er Lehrer, jetzt ist er Dolmetscher für arabische Sprachen und Betriebsrat in einer Chemiefabrik. Das Leiden seiner jüngsten Schwester, die sich wegen des monatlichen Blutstaus während der Periode vor Schmerzen kaum rühren kann, hat ihn erschüttert – und aktiv werden lassen. Auch seine Nichten hat er durch endlose Gespräche mit der Familie vor der Beschneidung bewahrt. Inzwischen ist aus ihm ein gefragter Berater der Männer geworden, die die Beschneidung manchmal viel weniger wollen als ihre Frauen. In solchen familiären Auseinandersetzungen liefert ihnen Ahmed Mahmud Argumente im Kampf um die Unversehrtheit ihrer Töchter.
Jawahir Cumar dagegen unterstützt die Frauen, wenn sie für ihre Töchter mit ihren Männern ringen müssen. Oft macht sie dafür Hausbesuche, denn für manche Frauen ist es nahezu unmöglich, in die Beratungsstelle zu kommen: Sie können kein Deutsch, wagen sich, obwohl sie schon Jahre hier leben, nicht in Bus oder Bahn oder dürfen das Haus nur verlassen, wenn es der Mann erlaubt.
Eine Somalierin, die so lebte, meldete sich aus Angst um ihre Tochter. Ihr Mann hatte ihre vierjährige Tochter an einen Freund in Saudi-Arabien versprochen und der verlangte dafür die Beschneidung des Kindes. Mutter und Tochter sind nun im Frauenhaus. In anderen Fällen hat Cumar auch schon erreicht, dass Jugendämter den Eltern, die ihre Tochter zur Verstümmelung nach Afrika bringen wollten, das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen.
Natürlich macht sich Jawahir Cumar mit solchen Aktionen in der afrikanischen Community nicht unbedingt beliebt. Mal wird sie am Telefon bedroht, mal wird ihr zugetragen, dass ein wütender Vater Stimmung gegen sie macht. Auch ihr Projekt in Puntland stößt nicht nur auf Gegenliebe. "In Somalia sehen mich viele als eine Europäerin, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Und auch in Deutschland habe ich nicht nur Freunde", sagt sie. "Aber ich habe keine Angst."
Am 22. November wurde Cumar für ihre Arbeit, die "einiges an Zivilcourage verlangt", mit dem Aschaffenburger Mutig-Preis ausgezeichnet. "Würden Sie sich als mutig bezeichnen?" fragt ein Reporter bei der Preisverleihung. Jawahir Cumars Antwort lautet: "Ich würde sagen: Ja."
Renate Bernhard ist mit Sigrid Dethloff Autorin der TV-Doku "Narben, die keiner sieht – Beschnittene Frauen in Deutschland". Mit ihren Filmen "Iss Zucker und sprich süß" über Zwangsheirat und "Hibos Lied" über Genitalverstümmelung halten die beiden Vorträge. (RMBernhard@web.de)