Gerlinde Kaltenbrunner: Auf dem Gipfel
Wenn der Berg ruft, gibt es für die gelernte Krankenschwester aus Spital kein Halten. Jetzt stürmt sie die 14 höchsten Gipfel der Welt.
Am 14. Mai gegen 16.30 Uhr hatte Gerlinde Kaltenbrunner es geschafft. Nach gut elf Stunden Aufstieg stand sie mit ihrem Lebensgefährten Ralf Dujmovits und drei weiteren Bergsteigern auf dem Kangchendzönga, auf 8.586 Meter Höhe. „Das Gefühl ist so gigantisch, über allen anderen Gipfeln zu stehen. Wir sind alle mehr oder weniger sprachlos vor Glück“, funkte sie hinab ins Basislager.
Auf ihrer Internetseite liefen im Nu Dutzende von Glückwünschen ein. Denn außergewöhnlich an Gerlinde Kaltenbrunners Leistung ist nicht nur, dass sie erst die zweite Frau ist, die es überhaupt auf den Gipfel des dritthöchsten Bergs der Welt schaffte. Es ist zugleich ihr neunter Achttausender-Hauptgipfel ohne künstlichen Sauerstoff – so viele der 14 Achttausender hat noch keine Frau vor ihr bezwungen. Seit dem 14. Mai ist Gerlinde Kaltenbrunner also die erfolgreichste Höhenbergsteigerin der Welt.
Sitzt man der 35 Jahre alten Österreicherin gegenüber, würde man das kaum vermuten. Die fast zierlich wirkende Frau ist offen, herzlich und unkompliziert, vergeblich sucht man nach Spuren jener Härte, jener Unnachgiebigkeit, mit der sie auf ihren Touren extremer Kälte und dünner Höhenluft, Erschöpfung und Entbehrungen trotzt: bei Touren wie am Gasherbrum II (8.035 Meter), zu dem sie sechzehn Stunden lang aufstieg, im teils hüfthohen Schnee vorausspurte und – anders als die meisten Männer in ihrer Gruppe – dennoch den Gipfel erreichte.
Gerlinde Kaltenbrunner, das wird schnell klar, ist keine ruhmsüchtige, vom Ehrgeiz getriebene Achttausender-Jägerin. Sie steigt nicht auf die höchsten Berge der Welt, um ihren Namen später in Alpinstatistiken verewigt zu sehen. Sie tut es, weil es ihr Lebensinhalt ist, ihr Lebensunterhalt, ihr Lebensziel. Und weil sie sich als Profibergsteigerin eine Basis geschaffen hat, dank der sie sich ihre alpinistischen Träume erfüllen kann. Träume, denen vor allem eins zugrunde liegt: Gerlinde Kaltenbrunners unbändige Begeisterung für die Berge.
Die trieb sie schon als Kind an, in Spital am Pyhrn in Oberösterreich, als sie mit dem Gemeindepfarrer, einem passionierten Kletterer, sonntags nach der Messe zum Bergsteigen loszog. Mit 16 besuchte sie einen Vortrag über eine österreichische Expedition zum K2, dem zweithöchsten Berg der Welt (8.611 Meter). Sie sah die Bilder der Fels- und Eisriesen des Himalaya und wusste: „Da will ich hin!“
Sieben Jahre später war es so weit: 1994 stand Gerline Kaltenbrunner auf dem Vorgipfel des Broad Peak – ihr erster Achttausender (8.027 Meter). „Was Gerlinde auszeichnet“, sagt ihr Lebensgefährte Ralf Dujmovits, „ist vor allem ihre mentale Stärke, die auf ihrer enormen körperlichen Leistungsfähigkeit basiert.“ Sport konnte sie als Kind schon nicht genug kriegen: Turnen, Schwimmen, Mountainbikefahren, eine Zeit lang besuchte sie gar ein Ski-Internat. Maßgeblich aber für Erfolg oder Rückzug sei etwas anderes, sagt Gerlinde Kaltenbrunner: „In wirklich schwierigen Situationen ist es oft die Psyche, die entscheidet.“
Im Mai 2005 saß die Bergsteigerin mit Dujmovits und dem Japaner Hirotaka Takeuchi auf 7.400 Meter Höhe in der Südwand der Shisha Pangma (8.013 Meter) im Schneesturm fest – einen Tag und eine Nacht lang, zu dritt in einem winzigen Zelt, in feuchten Schlafsäcken. Ihrem Optimismus konnte selbst das nichts anhaben. „Man muss die Nerven bewahren“, sagt sie. Zwei Tage später standen die drei auf dem Gipfel. „Da oben in der Sonne hab ich gemeint, mir gehört die Welt.“
Kaltenbrunner weiß, in ihrem Beruf ist bei aller Vorsicht, bei aller Erfahrung, niemand vor einem Unglück gefeit – einem Eisbruch, einer Lawine, einem Steinschlag. Im Juni vergangenen Jahres etwa, am Mount Everest, als Takeuchi, ein guter Freund, auf 7.700 Meter mit einem Höhenhirnödem zusammenbrach und der dringend nötige Abstieg wegen eines Sturms unmöglich war. Der Japaner hatte rasende Kopfschmerzen und schwebte in Lebensgefahr. Kaltenbrunner spritzte ihm ein Kortisonpräparat, sie und Dujmovits blieben die ganze Nacht wach, schmolzen Schnee, gaben ihm zu trinken. Am nächsten Morgen konnte er absteigen. Gemeinsam erreichten sie das Basislager. „Dieser Moment“, sagt sie, „war großartiger, als der Gipfelerfolg je gewesen wäre.“
Bei der Einschätzung der Gefahren verlässt sie sich weitgehend auf ihr Gespür, das sie mit den Jahren entwickelt hat. Nach dem Erfolg am Kangchendzönga waren sie Ende Mai noch am Lhotse (8.516 Meter) unterwegs, wo ihnen nach 14 Stunden Aufstieg nur 100 Höhenmeter zum Gipfel fehlten, zum zehnten Achttausender. Doch die Dunkelheit rückte näher, sie waren erschöpft, und sie hätten in großer Höhe biwakieren müssen. Grund genug, abzusteigen.
„Ich spürte“, schrieb Gerlinde Kaltenbrunner später auf ihrer Internetseite über den entscheidenden Moment, „dass wenn ich weiter aufsteigen würde, ich womöglich nicht mehr hinunterkäme.“ Am nächsten Tag erreichten sie das Basislager. Unversehrt.
„Es gehört immer auch Glück dazu, auf einem Achttausender zu stehen“, sagt Kaltenbrunner. So weiß sie auch: Die von manchen Medien ausgerufene Rivalität zwischen ihr und der Spanierin Edurne Pasaban, die acht Achttausender bestiegen hat, um die erste Frau, die alle 14 Achttausender bezwingt, ist eine PR-Blase. Sie sagt: „Natürlich sind die 14 Achttausender ein Traum. Aber für mich spielt es keine Rolle, ob ich das als erste schaffe. Für mich ist es wichtig, dass ich es in meinem Stil schaffe.“