Kinderlos glücklich
"Die hab ich aufgehoben, ich dachte ja, da würden deine Kinder mal mit spielen”, sagt die Großmutter und packt die alte Babypuppe meiner Mutter ein bisschen zu langsam wieder zurück in ihre Kiste. Die Stimme hat einen Unterton, der mich ahnen lässt, was als nächstes kommt. Eins … Zwei … Drei … Bingo! „Naja …“ (Atem ausstoßend, tief Luft holend, möchtegern-gleichgültig, wie es nur Großmütter vermögen) „… du wirst das alles selbst schon am besten wissen.“ (Formvollendetes, geräuschvolles Ausatmen.)
Meine Damen und Herren: Willkommen in meinem Leben.
Ich bin 38 Jahre alt und es geht mir gut in meinem Dasein, sowohl beruflich wie auch sozial. Doch mit einem Umstand breche ich alle Regeln, mit denen ich erzogen wurde: Ich bin: kinderlos. Kinder-los.
Ich glaube ja, dass ich das große Los gezogen habe. Die Gesellschaft glaubt das ja nicht. Geschlecht: weiblich. Alter: 38. Kinder: 0. Die Rechnung geht nicht auf. Als männliches Wesen kannst du auch mit 75 noch kleine Menschen produzieren. Falls du aber Gebärmutter-Inhaberin und über 35 bist, ruft der Gesellschaftschor: Es wird Zeit!
Tick tack tick tack, jetzt müsstest du aber langsam mal …
“The first problem for all of us, men and women, is not to learn but to unlearn.” Gloria Steinem
Das Problem ist: Mir fallen tausend Sachen ein, die in meinem Leben noch fehlen, die verbesserungswürdig sind, die willkommen wären oder erwünscht. Kinder kommen auf dieser Liste an keiner Stelle vor. Und doch muss ich mir permanent Kommentare anhören, die von liebevoll-ignorant bis unverschämt reichen.
„Wart’s ab, wenn du erst mal Kinder hast, dann wirst du das plötzlich ganz anders sehen.“ (Die beste Freundin.)
„Das heb ich mal noch für deine Kinder auf.“ (Die Geschwister beim Aussortieren alter Kinderkleidung.) „Na, wann ist es denn soweit? Du wirst ja auch nicht jünger!“ (Der joviale Onkel, augenzwinkernd.) „Natürlich willst du mal Kinder!“ (Alle Menschen über vierzig, auch wenn wir uns erst vor fünf Minuten kennengelernt haben.)
Doch eine Frage bekomme ich so gut wie nie gestellt: Willst du eigentlich Kinder haben? Woraufhin ich mir selbst die Frage stelle: Warum ist das so? Warum gehen die Leute im Jahr 2020 noch immer automatisch und anscheinend völlig unbekümmert davon aus, dass das Leben einer Frau nur dann richtig erfüllt ist, wenn sie einen Mutterkuchen, und das entsprechende Vorprodukt, unter Schmerzen aus sich herausgepresst hat?
Um eines klarzustellen: Ich liebe Kinder! Meistens. Ja gut, ein paar sind auch Arschlöcher (fast immer die mit den Arschlocheltern. Aber das ist ein anderes Thema). Ich habe Nichten, Patenkinder, befreundete Kinder – und ein sehr aktives inneres Kind. Also kommt mir nicht mit: „Die hasst Kinder.“ Nein, ich mag sie sogar sehr, sehr gern. Aber ich will sie auf keinen Fall die ganze Zeit zu Hause haben.
Als ich klein war, wusste ich nicht, dass man sich aussuchen kann, ob man Kinder bekommt oder nicht. In meinen Kinderbüchern tummelten sich einkaufende, kochende Mamas mehrerer Kinder. Und Papas, die am Morgen abwesend Zeitung lasen, spät am Abend von der Arbeit heimkehrten und am Sonntag Abenteuerausflüge mit den Kleinen unternahmen. Die kinderlosen Frauen, die in Märchen vorkamen, waren entweder Hexen oder Frauen, die tief unglücklich waren, weil sie keine Kinder hatten, und die dann wahlweise arme Waisenkinder aufnahmen, einen Zauberer zu Rate zogen oder ein Korn in die Erde pflanzten, aus dem dann ein kleiner Junge heranwuchs.
In meinem richtigen Leben kannte ich eigentlich nur wenige Frauen, die kinderlos waren: da war eine „missglückte“ Pastorin, über die wir heimlich Mutmaßungen anstellten, was sie wohl falsch gemacht hatte (Vielleicht war sie als Christin ja schon mit Jesus verheiratet?). Sowie eine von mir vergötterte Lehrerin, die keine Kinder bekommen konnte und dies als die Tragödie ihres Lebens beschrieb. Und dann war da noch diese Freundin meiner Mutter, die sehr dick war, und das war ja dann auch kein Wunder, denn dick – so lernte ich früh – das mochten Männer ja nun wirklich nicht; kein Wunder also, dass sie keinen gefunden hatte, der Kinder mit ihr machte. Sie hat sich halt nicht genug angestrengt.
Dass ich selbst keine Kinder kriegen muss, ist mir erst mit dreißig bewusst geworden. Ich, die ich immer eine Tochter wollte (Denn Kinder muss man ja bekommen, aber dann nur eins und auf jeden Fall ein Mädchen – so mein narzisstischer Kompromiss mit mir selbst), hielt meine neu- und erstgeborene Nichte im Arm. Eine Welle der Liebe durchlief mich, und ich dachte plötzlich: Mein Gott, sie reicht aus. Jetzt haben wir sie. Der Fortbestand des Stammbaums ist gesichert.
Die Erleichterung, die mich bei dem Gedanken ergriff, keine eigenen Kinder bekommen zu müssen, erschreckte mich fast. Es war, als würde ich plötzlich klarsehen. Als würde ich plötzlich mich sehen. Ich wollte keine Kinder.
Ich war so neugierig, ja: gierig auf mein Leben. Ich liebte meine Unabhängigkeit. Ich liebte das Alleinsein. Ich wollte auch in fünf, zehn oder zwanzig Jahren noch exakt so spontan sein wie jetzt.
Ich wollte nicht schwanger sein, nicht 8.658 Mal am Tag Windeln wechseln, nicht um einen Kindergartenplatz kämpfen, nicht Schlafenszeiten und Schlafrhythmen oder Essenszeiten einhalten, mich nicht nach Schulferien richten müssen, nicht mit anderen Eltern Zeit verbringen, deren einziger gemeinsamer Nenner mit mir wäre, dass auch sie erfolgreich das Kapitel Fortpflanzung in Angriff genommen hatten. Ich wollte diesen Alltag nicht.
Die ersten 35 Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, diverse Kindheitstraumata zu bearbeiten und einen Großteil der Glaubensmuster zu überwinden, die mir von meiner Umgebung, meinen Eltern, in der Schule, Kirche und Medienwelt über das Leben eingetrichtert worden waren. Ich habe all diese Zeit gebraucht, um mir ein Leben aufzubauen, mir eine Karriere als Schauspielerin zu erlauben, mich unaufhörlich in Frage zu stellen, mein mehrmals gebrochenes Herz zusammenzukleistern.
Und gerade jetzt, da ich endlich gelernt habe, mich selbst zu mögen, nicht immer zuerst die anderen emotionalen Bedürfnisse im Raum zu stillen, sondern in mich hineinzuschauen und mich selbst ernst zu nehmen, jetzt soll ich schon wieder für einen Menschen die Umsorgerin sein? Die Verantwortliche? Die Möglichmacherin? Die Wärmeausstrahlerin? Die Aus-Liebe-zum-Kind-einfach-mal-ein-paar-Jahre-kürzer-Tretende (denn das macht frau doch gern, und der Johan hat nun mal den besser bezahlten Job)? An erster Stelle er, der neue Mensch, an zweiter Stelle ich? Schon wieder?
Die Welt hat sich gedreht und diese meine Kinderlosigkeit ist meine persönliche Revolution im Kleinen. Denn ich tue etwas, das in meiner Familie noch niemand vor mir getan hat – in dieser langen Ahnenreihe von fantastischen Frauen, die aus politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Gründen ausnahmslos nie wirklich frei nur für sich selbst entscheiden konnten: Ich gebäre kein Kind, sondern mich selbst.
Ich will mich selbst umsorgen. Mir selbst beim Wachsen zusehen. Ich habe so unfassbar Lust auf ein Leben nur mit mir. Es ist wie im Flugzeug: Erst die Atemmaske auf das eigene Gesicht ziehen, dann dem Nachbarn helfen. In den letzten Jahrhunderten haben wir Frauen sehr oft unsere Nachbarn zuerst mit Sauerstoff versorgt. Das haben wir teilweise unter Zwang, oft aber auch sehr gerne gemacht, schließlich liebten wir den Nachbarn. Nur leider führte dies nicht selten zum eigenen Ersticken.
Für meine Lehrerin war ihre Kinderlosigkeit der größte Schmerz. Für einen Teil meiner Familie ist meine Kinderlosigkeit eine kleine, unausgesprochene Schande. Für meine Umgebung bin ich als Frau ohne Kinder stets ein bisschen unvollendet. „Sie unterschätzt, was ihr entgeht.“ „Sie wird es wohl eines Tages bereuen”. Doch ich habe diesen Schmerz nicht.
Ich möchte keine Kinder. In dieser Lebensentscheidung liegt meine größte Freiheit. Und meine Dankbarkeit dafür ist so groß wie das Weltall – das übrigens seit den Sechzigern nicht mehr von einer Frau ohne männliche Begleitung beflogen wurde. Aber das ist bestimmt nur Zufall.
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