Gewalt gegen Lehrerinnen
Unterrichtsstunde an einer Düsseldorfer Schule, die Berufsbildungsmaßnahmen für das Baugewerbe anbietet. Es geht um die Zusammensetzung und Verwendung von Farbe. Ein Schüler meldet sich, sagt etwas, die Lehrerin erklärt, das sei nicht richtig. Da rastet der 15-Jährige aus. „Ach, halt den Mund!“ schreit er die 30 Jahre ältere Lehrerin an und schleudert ihr einen Becher Farbe ins Gesicht. Die Frau flüchtet, er rennt ihr hinterher und schlägt ihr die Faust in den Rücken. Als der Schüler dafür des Schulgeländes verwiesen wird, stürzt er sich mit geballten Fäusten auf eine weitere Lehrerin.
Zwei Monate später rastet derselbe Schüler wieder aus: An seiner neuen Schule schubst er eine 27-jährige Lehrerin und verpasst ihr eine so harte Ohrfeige, dass sie wegen eines Schleudertraumas und einer Gesichtsprellung krankgeschrieben wird. Der Fall landet vor Gericht. Der Schüler wird zu 60 Sozialstunden und einem Anti-Gewalt-Training verurteilt. Lakonischer Kommentar der Neuen Ruhr Zeitung: „Kritik von Frauen anzunehmen, stellt den Schüler offenbar vor große Probleme.“
Es wird nichts unternommen: "Man will den Schulfrieden nicht gefährden."
Dieser Fall ist einer der wenigen Fälle von Gewalt gegen LehrerInnen, die an die Öffentlichkeit gelangen – und Konsequenzen haben. Denn laut „Verband Erziehung und Bildung“ (VBE) verläuft ein „typischer Fall“ normalerweise so: Eine junge Lehrerin bekommt zufällig Einblick in die WhatsApp-Gruppe der Eltern einiger Schüler. Darin wird sie als „Schlampe“ und „Hure“ beschimpft – wohlgemerkt: von den Eltern! Die Lehrerin wendet sich an den Schulleiter und auch an die Aufsichtsbehörde, die Bezirksregierung. Beide weigern sich, etwas gegen die Eltern zu unternehmen. Begründung: Man wolle den „Schulfrieden“ nicht gefährden.
Seit Jahren wenden sich immer mehr Lehrerinnen und Lehrer hilfesuchend an den VBE, der mit 140.000 Lehrkräften die größte Fachgewerkschaft im Deutschen Beamtenbund ist. Dem VBE reichte es eines Tages mit den Verheimlichungen und Vertuschungen der Schulleitungen, denen die Reputation ihrer Schule wichtiger scheint als die Unversehrtheit ihrer LehrerInnen.
Wie hoch die Zahl der Übergriffe ist? „Die politisch Verantwortlichen halten sich bedeckt, was Zahlen angeht“, erklärt der Lehrerverband. Anders als zum Beispiel die – ebenfalls steigende – Gewalt gegen PolizistInnen muss Gewalt gegen LehrerInnen weder verpflichtend gemeldet noch statistisch erfasst werden. „Aber um auf ein Problem aufmerksam zu machen, muss man auch die Dimension greifbar machen können.“ Also schritt der VBE selbst zur Tat und gab eine Forsa-Studie in Auftrag. Annährend 2.000 LehrerInnen befragte das Institut in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die Ergebnisse, die im November 2016 vorgestellt wurden, überraschten selbst den VBE – und schlugen ein wie eine Bombe.
"Es ist keine Ausnahme, die Lehrkraft zu beleidigen oder tätlich anzugehen."
Zwei Drittel aller befragten LehrerInnen bestätigten, dass „Gewalt an Schulen, egal ob körperliche Gewalt, psychische Gewalt bzw. Mobbing in den letzten fünf Jahren zugenommen hat“. Fast jedeR vierte LehrerIn war „schon einmal Ziel von Beschimpfungen, Diffamierungen, Mobbing, Drohungen, Belästigungen“. Über die Hälfte war zwar nicht selbst Opfer geworden, hat aber an der eigenen Schule solche Fälle bei KollegInnen erlebt.
JedeR fünfte Befragte berichtete, dass LehrerInnen an der eigenen Schule körperlich angegriffen wurden. Selbst attackiert wurden sechs Prozent. Das macht allein in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen mit 181.000 LehrerInnen über 10.800 Angriffe von SchülerInnen auf LehrerInnen.
Fazit des „Verbandes Bildung und Erziehung“: „Es ist keine Ausnahme mehr, die Lehrkraft zu beleidigen, im Internet zu verunglimpfen oder sogar tätlich anzugehen.“ Sondern ganz normaler Schulalltag. Umso dramatischer, dass zwei Drittel aller Befragten beklagten, mit der grassierenden Gewalt gegen Lehrkräfte werde „nicht offen umgegangen“. Im Gegenteil: Sie sei „ein Tabu-Thema“.
Allerdings scheint es da auch noch ein Tabu im Tabu zu geben: den Gender Gap. „Viele Lehrer sind Opfer von Schülergewalt“ oder „Schüler teilen immer öfter gegen Lehrer aus“ lauten die Schlagzeilen. Was in der Berichterstattung unter den Tisch fällt: Lehrerinnen sind eklatant öfter Opfer von Schülergewalt.
Die Politik hält sich bedeckt. Der Lehrer-Verband gab die Studie selbst in Auftrag.
Geschlagen, getreten, mit Gegenständen beworfen oder sonstwie physisch attackiert wurden doppelt so viele Lehrerinnen (7 %) wie Lehrer (3 %). Jeder fünfte Lehrer wurde schon einmal beschimpft, bedroht oder belästigt – aber jede vierte Lehrerin. Das gilt auch für das so genannte Cybermobbing.
Kein Wunder, dass weibliche Lehrkräfte sich häufiger darüber beklagen, dass die Gewalt an ihrer Schule zugenommen hat (64 %) als ihre männlichen Kollegen (51 %). Sie beschweren sich auch entschieden häufiger darüber, dass sich die Schulverwaltung des Themas „Gewalt an der Schule“ nicht ausreichend annimmt (Lehrerinnen: 48 %, Lehrer: 38 %). Folgerichtig halten fast zwei Drittel (60 %) der befragten Lehrerinnen die Gewalt an der Schule für ein „Tabu-Thema“, aber „nur“ die Hälfte (51 %) der Lehrer.
Doch kein Wort über diesen Gender Gap in den ansonsten zurecht alarmierenden Medienberichten. Und es klafft eine weitere Leerstelle – in der Berichterstattung und in diesem Fall auch in der VBE-Studie. Wer sind die TäterInnen? Oder können wir uns das „Innen“ in diesem Fall ganz einfach sparen?
Diese Frage hatte EMMA erstmals im Januar 2000 gestellt. Aus gutem Grund. Am 9. November hatte an einem Meißener Gymnasium ein Schüler seine Lehrerin erstochen. Der 15-jährige Andreas S. war am Morgen kurz nach Unterrichtsbeginn in die Klasse gestürmt und hatte ohne Vorwarnung 22 mal auf Sigrun -Leuteritz eingestochen. Sie starb auf dem Schulflur. Als Motiv gab der Schüler -später an: „Blanker Hass“.
"Ich hatte Holzpenis auf meinem Tisch liegen, meine Kollegin wurde als Fotze beschimpft"
Doch niemand stellte die Frage: Was hatte dieser Mord eines Schülers an einer Lehrerin mit dem Geschlecht von Opfer und Täter zu tun? Damit, dass Andreas S. in rechten Kreisen verkehrte und Horror- und Gewaltvideos schaute. Damit, dass die Geschichts- und Deutschlehrerin Leuteritz als „streng“ galt. Und was sagte es über die anderen Jungen in der Klasse, dass Andreas S. den geplanten Mord an Sigrun Leuteritz ein paar Klassenkameraden einige Tage vorher angekündigt hatte, aber niemand sie warnte? Schlimmer noch: Einige hatten mit Andy sogar darum gewettet, ob er es schafft, die „strenge“ Lehrerin zu töten und ihm Geld für den Erfolgsfall geboten.
Der Mord von Meißen rüttelte das Land auf und brachte das Thema Schülergewalt in die Schlagzeilen. Und rasch war klar: Die grauenvolle Tat ist nur die Spitze des Eisbergs. EMMA startete einen ersten Aufruf: „Lehrerinnen, meldet euch!“
„Seit Jahren steigt die Unruhe, Besorgnis und Angst der Lehrerinnen“, schrieb EMMA. „Doch bisher versuchten viele Lehrerinnen, allein damit fertig zu werden. Redeten sie dennoch, wurden sie nicht selten zum Gespött unter Schülern, Kollegen und Kolleginnen. Damit muss Schluss sein!“ EMMA rannte offenen Türen ein. Bald stapelten sich in der Redaktion die Briefe, Faxe, E-Mails.
Es klafft eine beunruhigende Leerstelle: Wer sind eigentlich die Täter?
Was die Lehrerinnen berichteten, brach noch mehr Tabus. Zum Beispiel, die Frage zu stellen, ob auch der Migrationshintergrund der Randalierer mit ihrem Rollenbild und folglich mit einer erhöhten Frauenverachtung und ergo mit erhöhter Gewaltbereitschaft gegenüber Lehrerinnen zu tun haben könnte. „Eine Frau zu akzeptieren, die sich so ganz anders benimmt als ihre Mütter; die befiehlt anstatt zu bedienen, fällt ihnen ganz offensichtlich schwer“, schrieb eine Realschullehrerin. Das ist nun 17 Jahre her.
Seither scheint sich die Lage weiter verschärft zu haben. „Es gibt inzwischen Klassen, die sind nicht mehr unterrichtbar“, schreibt eine Lehrerin aus Nordrhein-Westfalen auf EMMA-Lehrerinnen-Aufruf Nr. 2. Sie unterrichtet seit 15 Jahren an einer Gesamtschule. „Respektlosigkeit war schon damals ein Problem, aber jetzt kommt noch eine andere Art der Respektlosigkeit dazu, die uns Frauen besonders betrifft. Ich hatte Anrufe von Schülern auf meinem Anrufbeantworter. Da war Gelächter zu hören, dann haben sie ‚dicke Titten‘ gerufen und schließlich ‚Allahu Akbar‘. Ich hatte, als ich in die Klasse kam, auch schon mal einen Holzpenis auf meinem Tisch liegen. Eine Kollegin von mir ist von Schülern als ‚Fotze‘ beschimpft worden, andere werden bespuckt.“ Unterstützung seitens der Schulleitung? Fehlanzeige.
Leider hat Forsa in der VEB-Studie die Frage, ob Schüler mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern oder aus Osteuropa häufiger als Gewalttäter auffallen, nicht gestellt. Dabei wäre auch das, genau wie die Frage nach dem Geschlecht der Mobber und Schläger, ein entscheidender Punkt gewesen, um das Problem zu erfassen. Denn nur, wer ein Problem erkennt und benennt, kann es auch lösen.
So bleibt nur, einen naheliegenden Rückschluss zu ziehen: Psychische wie physische Gewalt von SchülerInnen an LehrerInnen kommen an zwei Schulformen besonders häufig vor: an Haupt- und Förderschulen. Es sind die Schulen mit dem höchsten Jungen- und dem höchsten Migrantenanteil.
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