Ghislaine Maxwell: Fatale Kontinuität
Es muss beklemmend gewesen sein, damals in Oxford. Headington Hill Hall, der Landsitz der Familie Maxwell im Osten der britischen Universitätsstadt, bot zwar mehr als 50 Zimmer, Tennisplatz und Pool, aber auch Kontrolle und Leistungsdruck. Beim Sonntagslunch fragte Robert Maxwell seine sieben Kinder zu Naturwissenschaften und Literatur ab. Bei Besuchen einflussreicher Bekannter ließ der Medienmogul den Nachwuchs über Politik, Wirtschaft und Computer debattieren. „Er hat den Kindern Stärke vermittelt, er war ein großartiger Lehrer“, erinnerte sich Elisabeth Meynard Maxwell an ihren Mann. Der starb 1991 unter mysteriösen Umständen bei einem Yachtausflug vor den Kanarischen Inseln. Seine Tochter Ghislaine Maxwell geht von Mord aus.
Der britische Historiker Ben Macintyre hatte Maxwells Erziehungsstil einen Mix aus Luxus und Grausamkeit genannt. „Mein Vater hat uns inspiriert“, sagt seine Lieblingstochter Ghislaine. Die 58-Jährige, die als mutmaßliche Komplizin des amerikanischen Sexualverbrechers Jeffrey Epstein seit Anfang Juli in einer Gefängniszelle in Brooklyn sitzt, schien ihrem Vater verfallen. Wenn „Captain Bob“, wie der Verleger bei seinen MitarbeiterInnen hieß, strahlte, strahlte auch sie. Wenn Maxwell sie in seiner rüden Art anfuhr, ging für „G“ die Welt unter. Die Launen des Sonnenkönigs von Headington Hill Hall waren dabei so wechselhaft wie die Stationen seines Lebens.
Als 17-Jähriger ging der Sohn streng gläubiger jüdischer Landarbeiter 1940 aus den tschechischen Karpaten nach Frankreich, um für die Tschechoslowakische Exilarmee zu kämpfen. Die Eltern und sechs Geschwister von Jan Hoch, so hieß er ursprünglich, wurden in Auschwitz ermordet. Maxwell schloss sich dem britischen Militär an, das ihn 1945 als Presseattaché nach Berlin schickte. Im selben Jahr heiratete er Elisabeth Meynard. Die Tochter eines französischen Fabrikanten bekam neun Kinder, eine Tochter und ein Sohn starben. Meynard Maxwell sagte später, ihr Mann habe versucht, die Großfamilie seiner Kindheit zu rekonstruieren, die er durch den Holocaust verloren hatte. Ghislaine, das jüngste Kind im Hause Maxwell, übernahm den Part der Vatertochter. Während Maxwell mit Verlagen wie Pergamon Press und British Printing Corporation in Großbritannien zu einem der mächtigsten Strippenzieher wurde und als Abgeordneter der Labour Party ins Parlament einzog, besuchte sie edle Internate und pflegte Beziehungen. Sie konnte das, was der als Klotz verschriene Vater nicht fertigbrachte – sich auf sozialem Parkett bewegen, ohne als Emporkömmling belächelt zu werden. Auch für Epstein, wie Robert Maxwell aus kleinen Verhältnissen, sollte Ghislaine später Türen öffnen. Auch ihm sollte sie verfallen.
Präsident Donald Trump, damals noch Immobilienhändler, gehörte ebenso zum Maxwell/EpsteinKreis wie Google-Mitgründer Sergey Brin, Medienzar Mort Zuckerman und Amerikas First Family Clinton. „G“ besuchte die Oxford University, arbeitete für The European, eine der vielen Zeitungen ihres Vaters, und setzte die Tradition der Maxwells, bei Einladungen über das Zeitgeschehen zu diskutieren, in dem von ihr gegründeten Frauensalon „Kit Kat“ in London fort. Am 5. November 1991 war es mit Ghislaine Maxwells gewohntem Leben vorbei. Ihr Vater, meldete die Besatzung seiner Yacht „Lady Ghislaine“, war vor den Kanarischen Inseln verschwunden. Als die damals 30-Jährige wenige Stunden später nach Spanien flog, zog ein Fischer den Leichnam des Medienmoguls aus dem Atlantik. „Ghislaine war am Boden zerstört. Sie konnte kaum sprechen. Ihre Beine versagten“, erinnerte sich Ken Lennox, damals Fotograf des Daily Mirror.
Während England noch über Unfall, Suizid oder einen Racheakt des israelischen Geheimdiensts Mossad spekulierte, traf Maxwells Lieblingstochter der nächste Schlag. In den britischen Zeitungen überschlugen sich die Nachrichten: Von 450 Millionen Pfund, die der Verleger aus der Pensionskasse seines Unternehmens Maxwell Communication Corporation veruntreut hatte, war die Rede. „G“ flüchtete nach New York. Und traf dort Epstein. Wie Robert Maxwell stammte der acht Jahre ältere Epstein aus einer einfachen, jüdischen Familie, war self-made Millionär und galt als Machtmensch. In Manhattan dirigierte der frühere Lehrer die Investitionen von Seagram-Erbe Edgar Bronfman, Dessousunternehmer Leslie Wexner und Waffenhändler Adnan Khashoggi. Auch hinter den Türen seiner Anwesen an der Upper East Side, in Florida, New Mexico und auf der Karibikinsel Little Saint James ging es hoch her. Unter Ghislaine Maxwells Regie soll der Geschäftsmann dort über Jahre Mädchen sexuell missbraucht und vergewaltigt haben.
In den Akten früherer Prozesse, die jetzt veröffentlicht wurden, berichtete die damals 17 Jahre alte Virginia Giuffre, wie „Ghislaine“ sie in Trumps Club Mar-a-Lago in Palm Beach als „Masseuse“ rekrutierte. Schon bei der ersten Begegnung lag der Millionär nackt und mit erigiertem Penis auf dem Massagetisch, während Maxwell mit entblößtem Oberkörper Giuffres Brüste befingerte und ihr in den Schritt griff. Anschließend drängte sie das Mädchen zu Oralsex und Vaginalverkehr mit Epstein. Maxwell, einst Epsteins Lebensgefährtin, dann seine Beschafferin, soll bis zu Epsteins Verurteilung wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen im Jahr 2008 Dutzende Mädchen wie Giuffre umworben und verkuppelt haben. Kinobesuche, Shopping und Geld gehörten dabei ebenso zum „Grooming“ wie Einladungen zu Dinnerpartys. Laut Giuffre folgten Übergriffe durch Prinz Andrew, Modelscout Jean-Luc Brunel, Politiker Bill Richardson und Staranwalt Alan Dershowitz. Als „Sexsklavin“ pendelte sie wie auch andere Mädchen mit Epsteins Privatflugzeug, genannt „Lolita-Express“, von Vergewaltigung zu Vergewaltigung.
„Wir müssen bis zum Ende unseres Lebens mit den Narben leben. Aber Jeffrey kann nie mehr zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte Jennifer Araoz 2019 nach Epsteins rätselhaftem Tod in einer New Yorker Gefängniszelle. Wie andere mutmaßliche Opfer reichte Araoz inzwischen Klage in Bezug auf den Nachlass des Millionärs und „Ghislaine“ ein. Für Maxwell wird es auch strafrechtlich eng werden. Nach der Verhaftung in New Hampshire Anfang Juli drohen ihr bei dem für Sommer 2021 geplanten Prozess wegen „Anleitung Minderjähriger zu illegalen sexuellen Handlungen“ bis zu 35 Jahre Haft.
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