Die Diplompädagogin Susanne Wunderer bietet Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen an, sie ist also viel in Kindertagesstätten unterwegs und hat dadurch mehr Kleiderhaken und Bauecken gesehen als wir mit unseren drei Kindern und den paar Besichtigungen an Infotagen. Ich fahre zu ihr nach Köln, wie ich sonst zum Arzt gehe. Eigentlich will ich mich beruhigen lassen: Alles nicht so schlimm, Frau Schnerring, ein bisschen mehr Gelassenheit, und alles wird wieder gut. Das hätte ich gerne gehört von Susanne Wunderer.
Hat sie aber nicht gesagt, im Gegenteil, sie spricht von einer „Backlash-Bewegung“: „Das Problem ist, dass es in den 1970er-Jahren weniger zementiert war als heute. Damals waren die Mädchen weniger einheitlich in Rosa, Glitzer und Plüsch gekleidet, und es gab nicht diese so typischen Mädchenspiele und Jungenspiele, diese Aufteilung, wie sie heute existiert.“ Deshalb unterstützt Susanne Wunderer ErzieherInnen darin, den Blick für stereotype Zuschreibungen zu schärfen. Bei ihr lernen sie, die kleine Hannah, die durch den Kindergarten rennt, weil sie ein sehr bewegungsfreudiges Kind ist, nicht so oft zu ermahnen: Setz dich an den Tisch und spiel was Ruhiges! Wohingegen der kleine Tim, der ebenso herumrennt, nach draußen geschickt wird: Lauf draußen!
Susanne Wunderer weiß aus ihrer Zusammenarbeit mit ErzieherInnen: Es ist noch nicht selbstverständlich, allen Kindern unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht möglichst viele Erfahrungsräume zu eröffnen. Sie erzählt, dass es nach wie vor Jungen gibt, die in ihrer Kindergartenzeit kein einziges Bild malen und nach drei Jahren mit einer leeren DIN-A3-Mappe verabschiedet werden, weil die Erzieherin davon ausgeht, Malen sei eben eine weibliche Beschäftigung. „Die Jungs dürfen so wild sein, wie sie wollen, und die Mädchen dürfen so ruhig sein und so gerne malen, wie sie wollen. Aber es ist wichtig, den Blick auf die Jungs zu haben, die nicht so wild sind – dass sie keine Stigmatisierung erfahren und kein negatives Feedback bekommen, wenn sie lieber malen und sich ruhiger verhalten, als es von Jungs vermutet wird.“
Susanne Wunderer kennt die Sorge von Eltern, ihr Kind könnte sich anders entwickeln, als es die Umgebung erwartet: „Wenn die Jungs sich zu mädchenhaft verhalten, kommt bei Eltern sofort die Angst auf, dass sie schwul sein könnten. Und man merkt sehr schnell auch die Angst der ErzieherInnen: Darf ich das unterstützen, mach ich was falsch?“
Oft haben Jungen gar nicht die Möglichkeit, sich frei auszuprobieren, weil Eltern rollenuntypisches Verhalten sofort unterbinden, nicht nur bei Röcken, sondern bei jeder Form von vermeintlichem Mädchenspiel: »Eine Mutter war partout dagegen, dass ihr Junge bei mir mit dem Puppenhaus spielt, obwohl er es liebte und mit nichts anderem spielte. Auf meine Frage: ‚Was kann denn passieren, wenn er jetzt oft mit dem Puppenhaus spielt?‘ wollte sie nicht antworten. Natürlich wusste ich, was sie befürchtet, aber ich habe sie gezwungen, es auszusprechen, und irgendwann meinte die Mutter: ‚Er landet irgendwann am Bahnhof.‘ Sie sagte also nicht: ‚Ich habe Angst, dass er schwul wird‘, sondern sie ging gleich noch einen Schritt weiter: Er wird schwul, er wird Stricher, und dann landet er am Bahnhof.“
Im Kindergarten kann schon ein anderes Raumkonzept helfen, Zuordnungen vom Stil „Mädchen kochen für ihre Puppen“ und „Jungen toben auf dem Außengelände“ aufzulösen. Seit einiger Zeit gibt es Kitas, die die Grundlagen einer geschlechtergerechten Pädagogik schon bei der Planung ins Konzept integrieren. So entstehen Kindertagesstätten, in denen es keine Puppen- oder Bauecke mehr geben wird, sondern die Raumnutzung flexibel bleibt. Kinder suchen sich ihr Spielmaterial selbst zusammen, wie sie es brauchen, sie finden es nicht in fest installierten, mit Namen versehenen Bereichen.
Die Erzieherinnen der Kindertagesstätte „Sonnenblume“ in Burscheid-Hilgen haben eine der Fortbildungen von Susanne Wunderer besucht und das Thema mit ins Team gebracht. Andrea Höfer beschreibt die Veränderungen so: „Früher war die typische Puppenecke eingerichtet mit viel Mädchenfarbe, mit Verkleidungskisten mit Prinzessinnenkleidern, Puppengeschirr und Puppen. Das fanden die Jungen nicht interessant. Deshalb mussten wir umdenken, und wir haben festgestellt: Seit wir sie anders eingerichtet haben und anders nennen, werden die Räumlichkeiten und die verschiedenen Ecken tatsächlich von Jungen und Mädchen gleichermaßen genutzt.“
Ihre Kollegin Hannelore Dietz-Gith fasst zusammen: „Uns geht es darum, Dinge weniger zu bewerten, sondern zuzulassen, dass Mädchen und Jungen sich frei entwickeln können und sich das nehmen können, was ihnen gefällt. Wir wollen sie nicht zu früh festlegen auf stereotype Rollen. Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, sondern mit Angebot und Vielfalt.“
Ina Hunger und Renate Zimmer von der Universität Göttingen haben in Kindertagesstätten untersucht, welche geschlechtsbezogenen Vorstellungen Mädchen und Jungen zwischen vier und sechs Jahren im Hinblick auf Körper und Bewegung bereits entwickelt haben. In ihrer Studie bestätigten sie, was bereits in anderen Untersuchungen, beispielsweise von Barbara Rendtorff, beobachtet worden war: „Dass Mädchen von ErzieherInnen im Kindergarten und Hort insgesamt viel weniger zu aktivem, raumgreifendem Spiel angeregt werden.“ Es genügt also nicht, dass alle Kinder theoretisch alles dürfen, es geht nicht mehr um Verbote, wie sie in den 1960er-Jahren ausgesprochen wurden, als Mädchen nicht erlaubt war, auf Bäume zu klettern. Es geht vielmehr darum, Kinder beiderlei Geschlechts zu ermutigen, damit sie untypisches, unerwartetes Verhalten nicht als Grenzüberschreitung erfahren.
Je älter sie werden, umso deutlicher lernen Mädchen durch entsprechende Rückmeldungen, dass sie ihre Bewegungsbedürfnisse unterdrücken sollen, im Gegensatz zu Jungen, die positivere Rückmeldungen dazu bekommen. Hunger erklärt: „Mädchen wissen zwar, dass sie kämpfen und wild sein dürfen; sie wissen aber auch, dass diese Bewegungsmuster eigentlich für Jungen und nicht für Mädchen typisch sind.“ Die Sportpädagogin zitiert dazu ein Mädchen, das im Rahmen der Studie befragt wurde und die Schwierigkeit auf den Punkt bringt: „Mädchen können ja auch eigentlich alles, was Jungen machen. Aber sie wollen das nicht zeigen, weil sie Mädchen sind!“
Gendersensible Erziehungsarbeit bedeutet, dass sich Eltern, Erzieher und Betreuerinnen, Trainerinnen und Lehrer ihrer eigenen Prägungen bewusst und auf nicht hinterfragte Rollenklischees aufmerksam werden. Nur so bekommt jedes Kind die Möglichkeit zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, nur so kann es seine individuellen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse erkennen. Einschränkenden geschlechtstypischen Ansichten können wir Erwachsenen aktiv entgegenwirken, indem wir Jungen und Mädchen ermutigen, sich auch in anderen, eher ungewohnten Gebieten auszuprobieren. Nur dann können sie eigenständige Entscheidungen treffen: Ich möchte Fußball spielen, ich möchte ein Schmetterlingsbild malen, ich möchte ein Kleid tragen, ich möchte meine Jacke unter den Gorilla hängen. Deshalb lohnt es sich, unseren Kindern mehr zuzumuten, als wir aus der Routine heraus wagen.
ErzieherInnen aus Kitas mit einem gendersensiblen Konzept haben gelernt, individuelle Eigenschaften bei Kindern zu betonen, sie haben gelernt, Kindern neue Handlungsmöglichkeiten unabhängig vom Geschlecht anzubieten. Sie organisieren Projekttage und Aktionen mit den Kindern, in denen Mädchen und Jungen traditionelles Rollenverhalten kindgerecht reflektieren und infrage stellen können. Ob es darum geht, Berufe kennenzulernen, etwas über Babys und deren Pflege zu erfahren, neue Spiele für den Turnraum zu erfinden, Märchen umzudichten oder eine Bauchtanzvorführung einzustudieren – jedes Thema ist geeignet, bei allen können sowohl Mädchen als auch Jungen einbezogen werden.
Mädchen können alles, was Jungen machen. Aber sie wollen das nicht zeigen, weil sie Mädchen sind.
Geschlechterbewusste Pädagogik bedeutet eine dauernde Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir uns das Zusammenleben der Geschlechter in Zukunft vorstellen und was wir unseren Kindern dafür mitgeben wollen. Ihren Anfang nimmt diese Entwicklung im Kindergarten, denn die Weichen für ein geschlechtsstereotypisches Verhalten werden im Kindergartenalter gestellt. Doch „die Frage, was wir mit den Kindern machen oder warum wir das mit welchem Ziel machen, die wird viel seltener gestellt als ‚Was kostet der Stuhl?‘ und ‚Warum kostet der so viel?‘“, erzählt eine Leiterin.
Wir können uns viel einfallen lassen, um die Beeinträchtigung unserer Kinder durch Rollenklischees abzumildern, aber letztlich zählt unser erwachsenes Vor- und Zusammenleben. Den gendersensiblen Blick auf unsere Kinder können wir nur bekommen, wenn wir selbst darauf vertrauen und daran glauben, dass wir und unsere Kinder nicht festgelegt und determiniert sind – und dass jenseits der Rollenklischees die eigentliche Freiheit wartet.
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Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Almut Schnerring/Sascha Verlan: Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees (Kunstmann, 16.95 €). Beide bloggen außerdem unter ich-mach-mir-die-welt.de