95 Prozent sind Opfer

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EMMA: Sie schätzen, dass 95 Prozent aller Frauen, die sich prostituieren, dies nicht freiwillig tun. Heißt das, dass es für Sie als Chef des Kommissariats Menschenhandel die angeblich klare Linie zwischen "Prostituierter" und "Zwangsprostituierter" gar nicht gibt?
Kriminalhauptkommisar Detlef Ubben: Meine Definition von Zwangsprostitution ist: Prostitutionsausübung in Abhängigkeit zu einem anderen. Und da ist es meiner Erfahrung nach so, dass der Fall, dass eine Frau Prostitution eigenständig und selbstbestimmt ausübt, in 95 Prozent der Fälle nicht zutrifft. Bei den deutschen Frauen ist es oft so, dass sie zur Prostitution veranlasst werden durch Täter, die ihnen Liebe vorspielen. Und wenn eine Frau erst mal in der Mühle der Prostitution drin ist, dann hat sie wenig Chancen, ohne fremde Hilfe da wieder auszusteigen.

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Die so genannte Freiwilligkeit ist also aus Ihrer Sicht in den meisten Fällen ein Mythos?
Natürlich prostituieren sich diese Frauen zunächst vordergründig "freiwillig". Sie haben kein Opferempfinden, sind aber de facto meist von Zuhälterei und Menschenhandel betroffen. Zuhälterei allemal, weil ihnen die Prostitution bis ins kleinste Detail vorgeschrieben wird. Da werden von Anfang an Schulden und Abhängigkeiten aufgebaut. Und wenn sie da wieder rauswollen, droht ihnen meist Gewalt. Für uns sind alle Prostituierten erst mal potenzielle Opfer.

Und die Ausländerinnen?
Der Großteil der ausländischen Frauen ist in dem Wissen, dass sie hier als Prostituierte arbeiten werden. Aber auch diese "Freiwilligkeit" ist relativ, weil die meisten sich natürlich nur aufgrund wirtschaftlicher Not prostituieren. Auch dieses Ausnutzen einer wirtschaftlichen Zwangslage ist Menschenhandel. Und auch diese Frauen haben, zumindest für eine gewisse Zeit, kein Opferempfinden. Aber irgendwann verweigert sich die Frau, und dann setzt der psychische und physische Druck ein. Bishin zur Gruppenvergewaltigung als Disziplinierungsmaßnahme.

Welche gesetzlichen Möglichkeiten haben Sie, einzugreifen?
Das Problem, das wir haben, ist: Ohne die Aussage der betroffenen Frau können wir kein erfolgreiches Strafverfahren führen. Wie aber kommen wir zu dieser Aussage? Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum die Frauen keine Aussage machen möchten. Zum einen halten sie zum Teil ihre Situation für normal. Zum anderen ist im Milieu die Droh- und Gewaltatmosphäre immanent. Deshalb ist die Frage: wie stellen wir den Kontakt her? Zum Betreten der Objekte brauchen wir schon konkrete Erkenntnisse, also einen Anfangsverdacht. Es muss also Anhaltspunkte dafür geben, dass dort eine Straftat stattfindet. Bei den Wohnungen ist es noch schwieriger, weil die laut Grundgesetz besonderen Schutz genießen.

Welche Auswirkungen hat es, dass die Strafbarkeit der "Förderung der Prostitution" seit der Reform des Prostitutionsgesetzes weggefallen ist?
Wir konnten den Verdacht auf "Förderung der Prostitution" früher relativ leicht begründen, so dass die Polizei Razzien in den Bordellen durchführen konnte. Wohnungsüberprüfungen waren früher auch einfacher, weil man nahezu pauschal unterstellen konnte, dass jede osteuropäische Prostituierte im Verdacht stand, illegal hier zu sein. Da war es sehr leicht, einen Durchsuchungsbeschluss zu bekommen. Aber das ist seit der EU-Erweiterung wesentlich schwieriger geworden.

Es müsste der Polizei also erleichtert werden, in die Bordelle und Wohnungen zu gehen?
Ein ganz klares Ja.

Sollte man also die "Förderung der Prostitution" wieder unter Strafe stellen?
Wir bekämpfen nicht die Prostitution, sondern die kriminelle Ausbeutung. Dafür ist der Kontakt zum potenziellen Opfer entscheidend, also müssen wir uns neue Wege einfallen lassen. Mir schweben zum Beispiel gewerberechtliche Veränderungen vor. Es müsste, in Anlehnung an das Gaststättengesetz, ein eigenes Bordellgesetz geben mit Konzessionierungen für alle Prostitutionsstätten. Wir als Polizei sollten dann Betretungsrechte und die Möglichkeit haben, gewerberechtliche Kontrollen durchzuführen. Denn die Konzessionierung bedeutet ja nicht, dass in den legalen, sprich: konzessionierten Bordellen nicht auch Zwangsprostitution stattfände. Das wäre ein Trugschluss. Jedes Bordell, das keine Konzession hat, wäre somit ein illegales Bordell und per se eine Stätte des Verbrechens. So könnte man auch einem Freier, der dorthin geht, eher nachweisen, dass er bewusst oder fahrlässig die Dienste einer Zwangsprostituierten in Anspruch genommen hat.

Sie haben in Hamburg ein Modellprojekt ins Leben gerufen, bei dem Sie selbst aktiv den Kontakt zu den Prostituierten suchen.
Unser Konzept ist die "offensive Milieubetreuung". Wir suchen regelmäßig die Prostitutionsstätten auf, klingeln, stellen uns den Frauen vor, verteilen Visitenkarten und erklären, wozu wir da sind. Und dann hat eine Frau die Möglichkeit, sich entweder sofort zu offenbaren oder sie weiß zumindest: Da gibt es jemanden, zu dem könnte man Vertrauen haben und an den kann sie sich wenden.

Und wenn dann eine Frau zu Ihnen kommt und sagt: "Ich möchte aussteigen"?
Das Wichtigste ist es, sie dem Milieu zu entziehen. Wenn sich die Frau entschließt, eine Anzeige zu machen, dann können wir ihr eine so genannte Zeugenbetreuung durch die Polizei anbieten. Und das ist in der Bundesrepublik einmalig.

Hat Ihr Projekt Erfolg?
In den letzten Monaten haben sich überraschend viele Frauen bei uns gemeldet.

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