Der älteste Frauenberuf
Wären Hebammen der Feuerwehr gleichgestellt, wäre die Lage nicht so brenzlig. Feuerwehrleute dürfen nicht rund um die Uhr löschen, bergen, retten und schützen. Sie haben während ihrer Dienste Ruhephasen, bereiten sich in der Zentrale auf mögliche Einsätze vor. Das muss so sein. Es geht schließlich um Menschenleben.
Um Menschenleben geht es bei Hebammen auch. Wenn sie in den Kreißsaal gerufen werden, sind sie immer für mindestens zwei Leben verantwortlich. Und oft sogar für sechs. Denn dass eine Hebamme gleich drei, manchmal sogar vier Frauen gleichzeitig im Kreißsaal betreut, ist heute keine Seltenheit mehr in Deutschland. Es herrscht Hebammennotstand – wie nirgendwo sonst in Europa. In jeder zweiten Geburtsklinik fehlen Hebammen. Die Versorgung auf dem Land und auf Inseln ist nahezu zusammengebrochen. Kliniken fusionieren, Kreißsäle werden geschlossen – bei steigenden Geburtenzahlen.
Die Folge: Jede zweite der rund 24.000 Hebammen in Deutschland will wegen Überlastung nur noch in Teilzeit arbeiten, jede Dritte erwägt sogar ihren Beruf ganz aufzugeben, bzw. sich auf Vor- und Nachsorge zu spezialisieren. „Doch die Leidtragenden sind nicht nur wir Hebammen, sondern auch alle Mütter in Deutschland“, sagt Ulrike Geppert-Orthofer, die Präsidentin des Deutschen Hebammenverbandes (DHV).
Ihren Verband gibt es seit 135 Jahren. 1885 trommelten die Hebammen Olga Gebauer und Rosalie Neumann rund 300 Berufsgenossinnen in Berlin zusammen. Der Anlass: Sie sammelten Geld für die Beerdigung einer verstorbenen Kollegin. Und da alle Hebammen unter der miserablen Bezahlung litten, kam die Idee einer Interessenvertretung, eines Vereins auf. Schon wenige Wochen später fand die konstituierende Versammlung statt.
Das Klima der aufbrechenden Historischen Frauenbewegung, in dem sich die ersten Ärztinnen zusammentaten, bestärkte die „weisen Frauen“. Das damalige Selbstverständnis der Hebammenschaft liest sich wie folgt: „Der Verein strebte von Anfang an für eine Aufbesserung der Hebammenverhältnisse, er zog gegen die Pfuscherinnen ins Feld, er kämpfte gegen Uncollegialität und setzte eine Taxe für Hebammendienste fest.“ Im selben Jahr gründete der Verein eine Krankenkasse, eine Sterbekasse und eine Hilfskasse.
Die Hebammen blicken auf eine starke Tradition zurück. Ihr Beruf ist der älteste Frauenberuf. Tempelmalereien von Pharaonenkindern des ägyptischen Sonnengottes Re aus dem dritten Jahrtausend vor Christus gelten als älteste Zeugnisse. 400 v. Chr. gehörte zu den Aufgaben der Hebamme neben der Entbindung auch die Ehevermittlung – und die Abtreibung. Im europäischen Mittelalter hatten Hebammen die Pflicht, alle Neugeborenen persönlich zur Taufe zu bringen und im Fall eines Kindstodes die Nottaufe vorzunehmen. Ab 1310 wurde die Hebamme von der Kirche per Eid zu einem christlichen Lebenswandel verpflichtet. Ab dem 14. Jahrhundert regelten immer mehr Verbote und Gebote der Kirche die Arbeit der Hebammen.
Regelrecht verfolgt wurden die Hebammen, nachdem Papst Innozenz VIII. 1484 die Hexenlehre anerkannt hatte: „Keiner schadet der katholischen Kirche mehr als die Hebammen“, erklärte der Papst. Im Spätmittelalter und bis in die Neuzeit wurden gerade die „weisen Frauen“, also die Heilerinnen und Hebammen, häufig Opfer der Hexenverfolgung. Allein in Köln wurden zwischen 1627 und 1639 nahezu alle Hebammen der Stadt als Hexen verbrannt. Als Begründung galt die Vorstellung vom Fötus als „unantastbare Frucht Gottes“ – mit der die Hebammen zu tun hatten.
1608 bereitete Frankreichs berühmteste Hebamme, Marie-Louise Bourgeois, mit dem Lehrwerk „Das Hebammenbuch“ den Weg der Geburtshilfe aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Doch sie musste ihr Werk gegen ihre männlichen Ärztekollegen verteidigen. Denn die sahen in den Hebammen eine Konkurrenz und verunglimpften sie als „Pfuscherinnen“. Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel schrieb man die hohe Säuglingssterblichkeit sowie die hohe Todesrate unter den Wöchnerinnen nicht etwa der mangelnden Hygiene zu, sondern dem Versagen der Hebammen. Sie waren schuld. Ab Ende des 19. Jahrhunderts kämpften die im Verein organisierten Hebammen daher um Fortbildungen und Professionalisierung ihres Berufes. In den Folgejahren gründeten sich weitere 60 weitere Hebammenvereine. 1890, nur fünf Jahre nach Erstgründung des Vereins, wurde der erste Dachverband gegründet, die erste Fachzeitschrift Für das gesamte deutsche Hebammenthum erschien.
Die gesellschaftliche Aufwertung des Berufsstandes führt allerdings geradeaus in das dunkelste Kapitel der Hebammen, mit der „Reichsfachschaft deutscher Hebammen“ 1933. Die Nationalsozialisten machten aus den Hebammen ihren verlängerten Arm, zur Durchsetzung ihrer Erbgesundheits- und Rassenideologie.
Das Reichshebammengesetz von 1938 war die gesetzliche Grundlage für die Kontrolle und den Zugriff auf Frauen und Familien durch die Hebammen. Auch waren sie verpflichtet, behinderte und kranke Kinder zu melden. Die „Hebammenreichsführerinnen“ wie Nanna Conti oder Margarete Lungershausen machten mit.
Nach dem Krieg wurde der Bund Deutscher Hebammen gegründet. Er heißt seit Oktober 2008 Deutscher Hebammenverband e.V. In ihm sind heute 20.000 Mitglieder in 16 Landesverbänden organisiert. Er vertritt angestellte wie freiberufliche Hebammen, Familienhebammen, Lehrerinnen für das Hebammenwesen, Hebammenschülerinnen und „hebammengeleitete Einrichtungen“ wie Geburtshäuser.
Mit seiner bekanntesten Aktion, dem „Hebammen-Protest“ (EMMA berichtete in der Mai/Juni-Ausgabe 2014), kämpfte der Hebammenverband für mehr gesellschaftliche Anerkennung, eine bessere rechtliche Stellung und für eine bessere Entlohnung. Das durchschnittliche Brutto-Gehalt einer Hebamme im öffentlichen Dienst liegt zwischen 2.000 und 2.800 Euro. Eine große Errungenschaft des Hebammenverbandes war 2017 die Durchsetzung der Zahlung des „Sicherstellungszuschlages“ durch den Verbund der Krankenkassen. Vorher mussten freiberufliche Hebammen die immer weiter steigenden Beiträge für ihre Berufshaftpflicht allein stemmen, mit Beiträgen von bis zu 5.000 Euro jährlich.
2020 tritt das neue Hebammenreformgesetz in Kraft: Die Hebammenausbildung in Deutschland wird künftig, den europaweit gültigen Standards entsprechend, ausschließlich an Hochschulen stattfinden – zur großen Freude des Hebammenverbandes. Ulrike Geppert-Orthofer: „Hebammen können sich weiterentwickeln und das Selbstbewusstsein – auch am Arbeitsplatz Krankenhaus – steigt.“ Und: „Es ist auch höchste Zeit, mittlerweile ist Deutschland das Schlusslicht in der EU – alle anderen Mitgliedstaaten haben die Hebammenausbildung bereits akademisiert.“
Alle Nachbarländer investieren mehr in die Geburtshilfe. „Großbritannien oder die Niederlande haben während der Geburt eine 1 : 1-Betreuung. Die Hebamme verlässt während der Geburt nicht den Raum. Bei uns springt sie von Kreißsaal zu Kreißsaal, muss abwägen, welche Frau gerade am dringendsten Hilfe braucht. Und dazwischen muss sie alles dokumentieren“, erläutert die erfahrene Hebamme und sie fügt hinzu: „Wir möchten einer Frau im Kreißsaal die Betreuung geben, die sie braucht, und nicht die, die die Umstände gerade hergeben!“
Es sieht ganz so aus, als könnte der für Frauen so lebensnotwendige und viel geschmähte und missbrauchte Beruf endlich zur Ruhe kommen und zu seiner eigentlichen Berufung finden können: schwangeren Frauen und ihren Neugeborenen zur Seite zu stehen.
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