Heimat bist du toter Töchter

Foto: siepmann/imagebroker/IMAGO
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Wien am 23. Februar 2021. Um 0:13 Uhr wählt eine 28-Jährige den Notruf, weil ihr Ex-Partner sie zu Boden gestoßen, mit einem Schuh ins Gesicht geschlagen und Gläser geworfen hat. Sie wird ins Krankenhaus gebracht. Der mutmaßliche Täter ist nirgends auffindbar. Nach der ambulanten Behandlung fährt die Frau mit dem Taxi nach Hause – allein. Kurz darauf taucht auch ihr Ex dort auf, stülpt ihr einen Plastiksack über den Kopf, sticht mit einem Messer auf sie ein und würgt sie, bis sie tot ist.

„Anstatt dass die Polizei sie begleitet oder ihr gesagt hätte, sie solle im Krankenhaus bleiben, da der Beschuldigte noch nicht aufgegriffen werden konnte“, klagt die Anwältin Sonja Aziz, die die Mutter der Ermordeten vertrat. „Noch dazu hatte  die Polizei für den Mann bereits 2019 eine Gefährdungsanalyse verfasst, wonach dieser ein hochgefährlicher ‚Würgerʻ war, der Ratten geschächtet, ausgeweidet und verspeist hatte. Doch die Beamten vor Ort hatten keinen Zugriff auf diesen Bericht.“ Für Aziz, die sich seit zwölf Jahren für Betroffene einsetzt, ein klarer Fall von Behördenversagen.

„Femizide in Österreich“ steht auf einer schwarzen Gedenkwand am Wiener Yppenplatz, zwei bis drei Mal im Monat muss die rote Zahl aktualisiert werden. Anlass für die Wiener Journalistin Yvonne Widler, das erste Buch über Frauen zu schreiben, die in Österreich von ihren eigenen (Ex)Männern ermordet werden. Der Titel lautet, angelehnt an den Text der Bundeshymne: „Heimat bist du toter Töchter.“ Widlers Fazit: In Österreich wird dem Thema nicht die Priorität eingeräumt, die geboten wäre. Auch nicht unter der aktuellen Regierung aus Volkspartei und Grünen.

Als Ressortleiterin der Tageszeitung Kurier berichtet Widler seit Jahren über Femizide. Für ihr Buch hat sie mit Angehörigen der Ermordeten und mit Überlebenden gesprochen, um ihnen "Stimme und Geschichte zurückzugeben“. Sie hat auch zahlreiche Gerichtsverhandlungen verfolgt. Zum Beispiel jene über Nadine, 35, deren Ex-Freund sie in ihrer Trafik anzündete.

Eine Kamera hatte die Tat aufgezeichnet. Sofort nach Eintreten verschließt der Mann die Tür. Ohne ein Wort zu sagen, donnert er mit der Faust gegen Nadines Kopf. Minutenlang würgt er sie mit einem Kabel. Als seine Ex-Freundin reglos auf dem Boden liegt, überschüttet er sie mit Benzin, zündet sie an und geht. Die Tür sperrt er von außen zu. Passanten können Nadine noch lebend aus der Trafik zerren. Drei Viertel ihrer Haut sind zerstört. Nach vier Wochen stirbt sie an Multiorganversagen.

„Immer wieder kommt es zum ‚Overkillʻ, also zum ‚Übertötenʻ“, schreibt Yvonne Widler. Der „Overkill“ ist typisch für „Beziehungsmorde“, bei denen in der Regel ein Mann eine Frau tötet. „Die Frau wird dabei geradezu vernichtet, ausgelöscht. 38 Messerstiche in Aurelia S., 14 Dolchstiche in Zemire K.“ Von Anfang 2010 bis Ende 2020 wurden in Österreich 319 Frauenmorde und 458 Mordversuche an Frauen gezählt, die meisten davon durch (Ex-)Männer. Allein im Jahr 2018 wurden 41 Frauen umgebracht, mehr als doppelt so viele wie noch drei Jahre zuvor. 2022 wurden 28 Frauen ermordet. Auf Deutschland umgerechnet, das mehr als neunmal so viele EinwohnerInnen hat, wären das 258 getötete Frauen. In Deutschland starben dagegen 2022 „nur“ 105 Frauen durch Beziehungsgewalt.

Dabei war Österreich mit dem Gewaltschutzgesetz, das schon 1997 in Kraft trat, einmal Vorreiter in der EU. Damals wurden die Wegweisungen eingeführt: „Wer schlägt, der geht“, auch aus der eigenen Wohnung – das war etwas absolut Neues. Miterfinderin Rosa Logar, frühere Leiterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, nannte dieses neue Instrument ironisch „Österreichs zweiten Exportschlager, neben der Mozartkugel“. Auch der Grevio-Bericht, der 2017 für Österreich die Umsetzung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen evaluierte, lobte: Opfer von Gewalttaten erhielten eine umfassende juristische und psychosoziale Begleitung.

Scharf kritisierte der Report jedoch die „mangelnde Strafverfolgung in Fällen Häuslicher Gewalt“, unter anderem zurückzuführen auf „Qualitätsmängel bei den Ermittlungsverfahren und der Beweiserhebung“. „Besonders besorgniserregend“ sei außerdem, dass für Präventionsarbeit, Datenerhebung und Forschung „kein nennenswertes Budget zur Verfügung steht.“ Dies lasse „darauf schließen, dass das notwendige politische Engagement fehlt.“

Laxe Behörden, schlampige Ermittlungen und Täter, die unbehelligt herumlaufen – all das kritisiert Rechtsanwältin Sonja Aziz seit Jahren. „Viel zu viele Verfahren werden aus Mangel an Beweisen eingestellt.“ Weil sich die Staatsanwaltschaft allzu oft mit dem ersten Bericht der Polizei begnüge. Dabei hat Justizministerin Alma Zadić (Grüne), in Reaktion auf die Grevio-Kritik, den Staatsanwälten im Sommer 2021 eine Checkliste an die Hand gegeben, was im Fall von „Delikten im sozialen Nahraum“ alles zu erheben sei: Kam es schon früher zu Gewalt? Gibt es Beweismittel, SMS-Nachrichten, Blutspuren? Zeugen? Ein Waffenverbot? Liegen gefahrenerhöhende Umstände vor? „Aber ich habe bisher noch in keiner einzigen Akte gesehen, dass dieser Checkliste gefolgt worden wäre“, sagt die Anwältin.

Aziz hat bereits zwei Mal Amtshaftungsklage gegen die Republik eingebracht, weil die „nicht alles getan habe“, um einen Mord oder Mordversuch zu verhindern: Mit dem Fall eines Vaters, der den siebenjährigen Sohn nach langer Gewaltvorgeschichte in der Schule erschossen hatte, schaffte sie es zwar bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), verlor die Klage aber dort, wenn auch knapp: Zehn RichterInnen stimmten dagegen, Österreich für den nicht verhinderten Mord in Haftung zu nehmen, immerhin sieben jedoch dafür.

Aktuell versucht Aziz es ein weiteres Mal für eine heute 19-jährige, deren Ex-Freund im Februar 2020 50 Mal auf sie einstach. Er durchstach mehrfach Lippen, Wangen und einen Augapfel. Die Schülerin überlebte knapp und schwer gezeichnet. Azizʼ Vorwurf: Obwohl das Mädchen nach einem Fußtritt gegen den Kopf Anzeige erstattet und der Polizei von zahlreichen weiteren Attacken erzählt hatte, hatte die weder ein Betretungsverbot gegen den Täter verhängt noch die Vorführung des Beschuldigten veranlasst. Aziz ist überzeugt: „Die Tat hätte verhindert werden können.“

Dabei dreht die Politik sehr wohl immer wieder an Stellschrauben – aber zu zögerlich, kritisieren viele. Ende 2021 gab die Regierung zusätzliche Mittel für Gewaltschutz- und Beratungsstellen frei. Ein großer Teil des Geldes floss in die Prävention für Männern, vor allem in die immerhin sechsstündigen Beratungen, zu denen sich Weggewiesene nun melden müssen.

Ebenfalls wieder zum Leben erweckt hat die Regierung die sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen, bei denen sich alle beteiligten Einrichtungen an einen Tisch setzen. Die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz hatte diese einfach abgeschafft. Yvonne Widler nimmt von der Regierung vor allem eines wahr: „Stille“. Sie verweist auf Spanien, das nach hohen Femizid-Zahlen eine breite Präventionskampagne startete. Eine eigene Koordinierungsstelle kümmere sich dort um Defizite im Gewaltschutz, und spezielle Armbänder kämen zum Einsatz, „die Alarm schlagen, wenn der Mann sich nicht an das Annäherungsverbot hält.“

Von einer hätte sich Widler jedenfalls mehr erwartet: von Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP). Sie gab Widler kein Interview; nicht einmal schriftlich beantwortete das Ministerium ihre Fragen. Heimat bleibst du toter Töchter.

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