Helene Stöcker

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Weihnachten 1883. Als die 14-jährige Helene unter dem Tannenbaum in Elberfeld ihr Geschenk auspackt, versucht sie gar nicht erst, ihr Entsetzen zu verbergen. Eine Puppe! „Ich vergesse bis heute nicht die Empörung, mit der ich auf diese in einem schwarzen Gewand mit silbernen Borten blickte.“ Dabei war ihr „sehnlichster Herzenswunsch“, den sie ihren Eltern auch aufs Deutlichste unterbreitet hatte, ein ganz anderer gewesen: die „Deutsche Literaturgeschichte“ in zwei Bänden.

Das wissbegierige Mädchen verschlingt ein Buch nach dem anderen. Das Verständnis für den Bildungshunger der Tochter hält sich im calvinistischen Hause Stöcker allerdings in Grenzen: Zwar liest der Vater seinen acht Kindern drei Mal täglich aus der Bibel vor, die Zeit für andere Lektüre jedoch ist knapp. Helene, die Älteste, muss von kleinauf der chronisch überarbeiteten und dauergereizten Mutter im Haushalt helfen. Doch in jeder freien Minute liest sie und bezieht ihr Wissen über Gott und die Welt aus der Literatur.

Eines der Werke erschüttert sie zutiefst: der Faust. „Ich kann kaum mehr beschreiben, mit wie ungeheurer Wucht dieser erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechtsbeziehungen auf mich damals gewirkt hat“, schreibt Helene Stöcker rückblickend in ihren „Lebenserinnerungen“. „Welche Gefahren, welche Schicksale einer Frau drohen, wenn die Liebe in ihr Leben trat – das stand hier in der vollen Krassheit des vernichtenden Schicksals vor mir.“

Die pubertierende Helene versteht die Botschaft, die der Geschichte von Faust und Gretchen innewohnt, und sie missbilligt sie zutiefst: der erfahrene Mann, der das junge Mädchen schwängert; die Schande, die die uneheliche Schwangerschaft über das Mädchen – und nur über das Mädchen! – bringt, das am Ende als Kindsmörderin verzweifelt im Kerker sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. „Vielleicht“, mutmaßt Stöcker, „hat dieser ungeheuer starke Eindruck mich mit vorbereitet zu der Arbeit, die später viele Jahre meines Lebens erfüllt hat: der Kampf um bessere Lebensbedingungen und für eine soziale Anerkennung außerehelicher Mütter und Kinder.“

Tatsächlich wird Helene Stöcker eine der bekanntesten Mitstreiterinnen des radikalen Flügels der Ersten Frauenbewegung werden und – Seite an Seite mit Hedwig Dohm und Minna Cauer, mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann – für das Frauenwahlrecht streiten. Doch sie wird vor allem ein Thema in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und ihres Lebens stellen: den Kampf gegen die verhasste Doppelmoral, die Leben und Lieben von Frauen und Männern mit zweierlei Maß misst.

Helene wird den „Bund für Mutterschutz“ gründen, unter dessen Dach Heime für alleinerziehende Mütter entstehen, die man damals noch „gefallene Mädchen“ schimpft. Sie wird Deutschlands erste Sexualberatungsstellen ins Leben rufen und dort über Sexualität und Verhütungsmittel aufklären. „Ohne sie wäre Pro Familia heute nicht denkbar“, schreibt Stöckers Biografin Christl Wickert.

Und die Sexualreformerin wagt sich an ein noch heißeres Eisen: Sie fordert in extrem prüden Zeiten eine erfüllte Sexualität auch für Frauen und erklärt, dass die Voraussetzung dafür keineswegs die Ehe, sondern eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Frauen und Männern sei. Stöcker selbst wird mit ihrem Lebensgefährten Bruno Springer demonstrativ unverheiratet zusammenleben – zur damaligen Zeit ein unerhörter Verstoß gegen die geltenden Moralvorstellungen.

In ihrer Philosophie der „Neuen Ethik“ entwickelte die Frauenrechtlerin eine Theorie davon, wie sich die Liebe zwischen Mann und Frau durch die Emanzipation der Frau auf eine höhere Stufe entwickeln könne. Denn noch gälten für Frauen und Männer völlig verschiedene Maßstäbe. „Für den Mann ist gewissermaßen die ganze Welt da: die Prostitution, das Verhältnis, die Ehe“, erklärt Stöcker. „Die Frau ist durch die moralische Ächtung, jedenfalls nach außen hin, zur vollkommenen Abstinenz gezwungen. Auf jede natürliche Befriedigung ihrer Liebessehnsucht ist der bürgerliche Tod gesetzt, der Verlust ihrer Existenz.“

Schon als junges Mädchen macht sich Helene Gedanken über die Liebe, auch die körperliche. Und sie empfindet es als „seltsamen Widerspruch“, dass „notwendige und an sich wohltuende Empfindungen von vornherein mit dem bösen Gewissen belastet werden“. So lehnt die junge Frau die rigiden Moralvorstellungen der reformierten
 Kirchengemeinde der „Erweckungsbewegung“ ab, der ihre Eltern angehören. In ihren geliebten Büchern findet sie Beispiele dafür, dass Liebe weder „Sünde“ sein noch mit „Erniedrigung, Zwang oder Unschönheit“ verbunden sein müsse.

Auch die Ehe der Eltern scheint der Tochter durchaus glücklich. Der Vater ist zwar streng gläubig, aber keineswegs ein Familientyrann. Ludwig Stöcker, der eigentlich Missionar hatte werden wollen, betreibt in Elberfeld (heute Wuppertal) ein „Posamentiergeschäft“: Er verkauft Fransen, Borten und Quasten. Im Gegensatz zur ewig schimpfenden Mutter beschäftigt er sich zwar selten, dann aber liebevoll mit den Töchtern, die sich „als  Kinder immer gewünscht haben, wir möchten, wenn wir erwachsen wären, auch einen solchen Mann wie den Vater haben“.

Allerdings ist Ludwig Stöcker nicht gewillt, seine älteste Tochter nach Abschluss der Höheren Töchterschule aus dem Haus zu lassen. Helene will nach Berlin, um dort das Lehrerinnen-Examen zu machen. Sie möchte gar nicht Lehrerin werden, sondern Schriftstellerin, ein für eine Frau unerhörter Traum. Aber noch sind Frauen auch die meisten normalen Berufe verschlossen, die Universitäten sowieso. Das Lehrerinnen-Seminar ist für die junge Frau die einzige Möglichkeit, „eine höhere Bildung zu gewinnen“. Doch auch die Mutter will die Älteste nicht gehen lassen, weil sie deren Unterstützung im kinderreichen Haushalt benötigt.

Als die jüngsten Geschwister endlich groß genug sind, ist es soweit: Am 2. Januar 1892 verlässt die 23-Jährige ihr Elternhaus und geht nach Berlin (zwei Jahre bevor die Dichterin und Elberfelderin Else Lasker-Schüler den gleichen Weg geht). „Nach der Absperrung in den orthodoxen Kreisen meiner Heimat“ empfand sie die Großstadt als „unendliche Befreiung und ein großes Glück“. Und das auch, weil sie nun „zum ersten Mal mit  Menschen in Berührung kommt, die sich für das weibliche Geschlecht ähnliche Ziele der Gleichberechtigung wie ich selbst gesteckt hatten“.

Einer dieser Menschen ist Minna Cauer. Die Lehrerin und Frauenrechtlerin hatte wenige Jahre zuvor den Verein „Frauenwohl“ gegründet, die Urzelle der radikalen, also antibiologistischen Strömung der Frauenbewegung. Helene Stöcker schließt sich dem Zirkel rund um Cauer an, die sich sehr über die „junge Kämpferin“ freut. Schon bald agiert Stöcker Seite an Seite mit den Frauen, die wir heute als wichtigste Protagonistinnen der „Radikalen“ kennen. Als Cauer, Augspurg, Heymann & Co. 1899 den „Bund fortschrittlicher
Frauen vereine“ als Gegenpol zum gemäßigten „Bund deutscher Frauenvereine“ gründen, ist Helene Stöcker dabei und gehört bald dem Vorstand des radikalen Bundes an.

Gleichzeitig ist die Wissensdurstige eine der ersten Frauen, die als Gasthörerinnen an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität zugelassen werden. Sie studiert Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie – soweit die Herren Professoren sie lassen. Denn die Zulassung von Frauen zu den Vorlesungen ist freiwillig, und so lehnt zum Beispiel der Historiker Heinrich von Treitschke die Studentin Stöcker mit den Worten ab: „Die deutschen Universitäten sind seit einem halben Jahrtausend für Männer bestimmt und ich will nicht dazu helfen, sie zu zerstören.“

Für ihre Promotion über die „Kunstanschauung des 18. Jahrhunderts“ geht Stöcker deshalb 1902 nach Bern. Im selben Jahr gründet sie mit den „Radikalen“ den „Bund für Frauenstimmrecht“. Doch der Kampf um das Wahlrecht bleibt für Stöcker „stets eine mehr formale Angelegenheit, die mich nie tiefer zu fesseln vermochte“, weil „die wesentlichen Probleme für mich anderswo lagen“.

Wesentlich sind für Stöcker die Fragen der Sexualität, mit ihren hellen – und ihren dunklen Seiten. „Klarer zeigt sich doch vielleicht nirgends die ganze Brutalität menschlicher Zustände als auf sexuellem Gebiet“, sagt sie und erklärt die Sexualität zur Machtfrage. Das gilt vor allem für die Prostitution, „bei der die Frau bis unter das Tier herabgedrückt wird, nur noch eine ‚Ware‘, aber kein Mensch ist“. Helene Stöcker kämpft gegen die Doppelmoral, die die Prostituierte ächtet und an den Rand der Gesellschaft verbannt, das Freiertum aber als Kavaliersdelikt betrachtet.

Auch das Verbot der Abtreibung, das dazu führt, dass die ungewollt Schwangeren entweder als Geächtete leben oder auf den Küchentischen von „Engelmacherinnen“ sterben, gehört zu jenen finsteren Abgründen der Sexualität unter patriarchalen Bedingungen. „Solange die Gesellschaft die Mutterschaft nahezu ohne Schutz lässt“, klagt Stöcker, „ja in gewissen Fällen die Mutterschaft mit Schande straft und den Mann von der Verantwortung für sein Kind entlastet, hat sie jedenfalls kein Recht, die Vermeidung der widerwilligen Mutterschaft der Frau als zuchthauswürdiges Verbrechen anzurechnen.“ Stöcker fragt, „wo und mit welchem Recht das Strafrecht einem Individuum verbiete, voll über sich selbst zu verfügen“.

So steht der Kampf für die Abschaffung des §218 ganz oben auf Stöckers Agenda, ebenso wie der Schutz und die Versorgung lediger Mütter und ihrer Kinder. 1905 gründet sie den „Bund für  Mutterschutz und Sexualreform“. Der Bund, zu dessen Gründungsmitgliedern von Stöcker bewusst auch Männer gebeten wurden, fordert die Streichung des §218 und die rechtliche Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder – eine ungeheuerliche Forderung, denn der mit der Mutter nicht verheiratete Vater gilt zu der Zeit schlicht als nicht verwandt mit dem „Bastard“ – was übrigens erst 1970(!) auf Druck des Bundesverfassungsgerichts geändert wird.

Doch Helene Stöcker will mit ihrer Vereinigung und ihrer Zeitschrift „Mutterschutz“ noch mehr: Sie will die Beziehung zwischen Frauen und Männern grundlegend ändern. Ihr hehres Ziel: die „Vereinigung der Seelen“. Stöckers Beziehungsideal ihrer „Kultur der Liebe“ sind zwei gleichwertige PartnerInnen, die sich geistig wie körperlich auf Augenhöhe begegnen. Voraussetzung dafür ist die finanzielle Unabhängigkeit beider: „Wenn Mann und Frau beide zu einem Berufe erzogen werden, der sie pekuniär unabhängig voneinander macht, dann kann erst das sittliche Verhältnis zwischen ihnen die rechte Weihe erhalten“, schreibt sie 1906 in ihrer Zeitschrift Mutterschutz, die sich bald darauf in Die neue Generation umbenennt.

Helene Stöcker hatte früh selbst erfahren müssen, wie ihre Suche nach einer wahren partnerschaftlichen Beziehung schmerzlich scheiterte: In ihrer Studienzeit hatte sie den verheirateten Lektor Alexander Tilly kennen- und liebengelernt. Als dessen Frau plötzlich stirbt, bittet Tilly Helene, ihn zu heiraten – und mit größter Selbstverständlichkeit erwartet er, dass seine zukünftige Frau von nun an ausschließlich Hausfrau und Mutter seiner beiden Kinder sein solle. Die bildungshungrige Helene, die in der Beziehung zu dem Literaturwissenschaftler Tilly den intellektuellen Austausch zwischen ihnen geschätzt hatte, ist maßlos enttäuscht. „Für diese erste Generation Frauen, die beides verlangte, was zu einem vollen menschlichen Dasein gehört – geistige Entwicklung und Bestätigung und die Liebe, Ehe und Mutterschaft – war dies ein tragischer Konflikt. Auf diese Art von Frauen war die Welt noch nicht vorbereitet.“

Von da an arbeitet Stöcker mit aller Kraft daran, die Welt für „Die moderne Frau“ – so lautet 1893 der Titel ihrer ersten Publikation – vorzubereiten. Damit bläst die Erfinderin der „Neuen Ethik“ zum Generalangriff auf die Ehe, die Frauen nicht nur finanziell komplett entmündigt.

Den „Gemäßigten“ vom „Bund Deutscher Frauenvereine“ ist das zu heftig, zumal die Vorsitzende des „Bundes für Mutterschutz“ in schockierend offener Weise über Fragen von Sexualität und weiblicher Lust referiert – bis hin zu einem flammenden Plädoyer gegen den § 175 – der Homosexualität unter Männern mit Gefängnis bedroht – und dagegen, das Gesetz auch noch auf homosexuelle Frauen auszudehnen: „Vom ethischen Standpunkt aus ist die Verbindung seelischer und sinnlicher Momente das Wesentliche für die Liebe, um sie zur Liebe zu machen“, erklärt sie. „Unsere rohe Geschlechtsmoral hat wirklich nicht das Recht, sich heuchlerisch über zwei Menschen zu entrüsten, die sich in freier Übereinkunft
 körperliche Zärtlichkeiten gestatten.“

Der „Bund deutscher Frauenvereine“ lehnt die Aufnahme des „Bundes für Mutterschutz“ in den Dachverband ab. Doch das hält Stöcker nicht auf. 1909 hat ihr Bund über 4.000 Mitglieder, darunter prominente wie Max Weber und Hedwig Dohm, und unterhält 36 Heime für „ledige Mütter“. 1911 organisiert ihr Bund in Dresden den ersten „Internationalen Kongress für Mutterschutz und Sexualreform“.

Doch kurz darauf geschieht etwas, das Stöcker bin ins Mark erschüttert: „Der Kriegsausbruch traf mich wie Blitz und Donner aus heiterem Himmel. Ich vermochte es nicht zu fassen, dass so etwas in der Tat noch zwischen den am höchsten stehenden Kulturstaaten Europas möglich sei.“ Wie alle Vertreterinnen des radikalen Flügels ist Helene Stöcker auch eine radikale Pazifistin und engagiert sich, gegen den Mainstream des allgemeinen Kriegsjubels, offensiv für den Frieden. Stöcker nimmt 1915 als Delegierte am Internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag teil (EMMA 4/14) und wird nach Kriegsende Mitbegründerin des „Bundes der Kriegsdienstgegner“.

In der Weimarer Republik konzentriert sich der „Bund für Mutterschutz“ auf die Reform des Strafrechts. Gemeinsam mit dem Magnus-Hirschfeld-Institut kämpft Stöcker für das Recht auf Abtreibung und die Streichung des §175.

Als Helene Stöcker am 13. November 1929 ihren 60. Geburtstag feiert, erreichen sie Glückwünsche aus aller Welt. Über 400 Zeitungen würdigen die große Sexualreformerin.

1933 muss Helene Stöcker vor Hitler und seinem Männerstaat fliehen. Sie ist bereits gesundheitlich angeschlagen, geht zunächst in die Schweiz und dann nach Schweden. Als das Nachbarland Dänemark von der deutschen Wehrmacht besetzt wird, tritt sie über Moskau und Japan die beschwerliche Reise in die USA an. Von dort schreibt sie an ihren Freund, den Schriftsteller und Schwulenaktivisten Kurt Hiller: „Übrigens: Der Koffer, der den Hauptteil meiner Kleidung enthielt, ist in Russland steckengeblieben. So verliert man ein Besitztum nach dem anderen. Häuslichkeit, Vaterland, die wichtigsten Dokumente – nun auch noch die Kleidung. Man ist wie ein Schiffbrüchiger, der nur das nackte Leben rettet – das man ja am Ende auch drangeben muss. Sonderbar, dass es einen – trotz allem – immer noch interessiert.“

Am 24. Februar 1943 stirbt Helene Stöcker in New York mit 74 Jahren an Krebs. Wie schade, dass sie nicht mehr erlebt hat, wie dreißig Jahre später Frauen in der ganzen westlichen Welt, von New York bis Berlin, ihre Ziele wieder aufnahmen und sich daran machten, mit Verve für die Selbstbestimmung über ihren Körper und eine befreite Sexualität zu kämpfen.

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