Wahlen in der Schweiz: Helvetia ruft!
Kathrin, wie haben Sie den Frauenstreik erlebt?
Es war überwältigend! Diese Massen zu sehen, die einfach nicht mehr akzeptieren, dass wir in der Schweiz immer noch keine Gleichstellung haben! Und es waren ja nicht nur Frauen auf der Straße, sondern auch Männer. Die haben mit ihren Kinderwagen einen Sitzstreik gemacht. Das alles hat uns große Kraft gegeben. Und es hat Regierung und Parlament gezeigt, dass das eine Kraft ist, die nicht mehr wegzukriegen ist.
Haben Sie selbst auch gestreikt?
Nicht direkt, es war ja Parlamentssession.. Wir weibliche Abgeordnete wollten nicht streiken, denn unsere Vorfahrinnen haben so lange für das Frauenwahlrecht gekämpft, dass wir auch an diesem Tag nicht darauf verzichten wollten, im Parlament abzustimmen. Aber als Initiative „Helvetia ruft!“ haben wir alle Frauen, die bei den Wahlen im Oktober neu kandidieren, ins Bundeshaus eingeladen, um den Raum einzunehmen. Und wir haben, zusammen mit dem Marthe-Gosteli-Archiv der Schweizer Frauenbewegung, eine Ausstellung organisiert.
Im Herbst 2018 haben Sie die Initiative „Helvetia ruft!“ lanciert. Wie sieht es ein Jahr später aus?
Wir haben gerade die Wahllisten ausgewertet, und was wir da sehen, ist sehr erfreulich: Noch nie haben in der Schweiz so viele Frauen kandidiert! 39 Prozent der Kandidierenden sind Frauen! Jetzt müssen wir noch schauen, ob sie es auch auf aussichtsreiche Listenplätze schaffen werden.
Was hat besonders gut funktioniert?
Das Wertvollste war, dass „Helvetia ruft!“ überparteilich ist. Frauen aus allen Parteien haben mitgemacht. Diesen Kandidatinnen haben wir Mentoring angeboten, und sie haben sich ein Netzwerk aufgebaut. Sie haben bei unseren Schulungen gelernt: Wie präsentiere ich mich? Wie spreche ich mit Journalisten? Aber das Entscheidende war, dass sie den Schritt gemacht und gesagt haben: Ja, ich traue mich! Ja, ich will kandidieren! Ich trete an und ich setze mich innerhalb meiner Partei dafür ein, dass ich einen guten Listenplatz bekomme! Das haben die Frauen früher nicht gemacht. Jetzt haben sie diese Zurückhaltung abgelegt. Sie haben sich jetzt endlich vorgedrängt – so wie Männer das auch machen.
Und wie haben die Parteien reagiert?
Eigentlich ganz positiv. Alle Parteien haben schon zum Jahreswechsel ein nettes Schreiben von uns bekommen. Wir haben ihnen geschrieben, dass es ja auch in ihrem Sinne ist, Frauen als Kandidatinnen aufzustellen, weil es zu einer modernen Demokratie einfach dazugehört, dass Frauen und Männer zu gleichen Teilen im Parlament vertreten sind. Wir haben geschrieben, dass wir überzeugt sind, dass sie das schaffen werden, weil sie ja attraktiv sein wollen für ihre Wählerinnen und Wähler. Und wir haben angekündigt, dass wir sie beobachten und vor den Wahlen ein Rating veröffentlichen werden.
Am 20. Oktober wird auch der Ständerat neu gewählt, also die Vertretung der Kantone. Bisher sind ganze sechs von 46 Sitzen mit Frauen besetzt.
Das hat mit dem Wahlsystem zu tun. Jede Partei stellt nur einen Kandidaten – oder eine Kandidatin – auf. Der muss die Mehrheit der Stimmen holen. Vielfalt setzt sich so nicht durch, sondern vielmehr Durchschnitt, und in der Politik ist das eben nach wie vor der Hans. Deshalb haben Frauen oft gar nicht erst kandidiert. Aber auch das ändert sich jetzt, weil die Parteien merken: Es könnte ein Vorteil sein, mit einer Frau anzutreten.
Hat der Frauenstreik dazu beigetragen, dass sich Kandidatinnen ermutigt fühlten?
Die Aufstellung der Kandidatinnen ist vor dem Frauenstreik erfolgt. Aber ich denke, der Streik und diese Aufbruchstimmung werden dazu beitragen, dass mehr Frauen und vielleicht auch Männer ganz bewusst Frauen wählen werden.
Was erwarten Sie von den neu gewählten Parlamentarierinnen?
Wir haben noch sehr viele Baustellen! Zum Beispiel haben wir in der Schweiz nur einen Tag Vaterschaftsurlaub. Das ist ein Witz! Die Mutter hat 14 Wochen. Das Gesetz delegiert also die Zuständigkeit für die Kinderbetreuung an die Frau. Und die gilt dann auf dem Arbeitsmarkt als Risiko.
Im nächsten Jahr soll die Elternzeit für den Vater ja per Volksabstimmung verlängert werden.
Ja, auf vier Wochen. Und das Parlament hat gerade vorgeschlagen, die Zeit auf zwei Wochen zu verkürzen. Wir haben außerdem weltweit eins der teuersten Kinderbetreuungssysteme. Ein Kleinkinderbetreuungsplatz kostet bei uns rund 2.200 Euro – für ein Kind! Das muss bezahlbarer werden. Und wir brauchen eine Individualbesteuerung, damit sich die Erwerbstätigkeit auch für die Zweitverdienende im Haushalt lohnt.
Und wie steht es mit der Reform des Sexualstrafrechts?
Wir brauchen – wie Deutschland und Österreich – das Prinzip „Nein heißt Nein“! Aber das steht im Gesetzentwurf nicht drin. Die Sub-Kommission, die den Gesetzentwurf vorbereitet, besteht ausschliesslich aus Männern. Der Entwurf geht dann in den Ständerat, der ja eben aus 40 Männern und sechs Frauen besteht. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Schweizerinnen genügend öffentlichen Druck machen, damit „Nein heißt Nein“ kommt! Wir sind ja jetzt in Übung.
Ist es auch dem Druck der Frauen zu verdanken, dass jetzt drei von sieben Bundesräten, also Ministern, Frauen sind?
Ja. Wir hatten in der Geschichte der Schweiz 110 männliche Bundesräte, aber erst neun Bundesrätinnen! Die beiden neu gewählten Bundesrätinnen (In der Schweiz werden MinisterInnen vom Parlament gewählt, Anm. d. Red.) sind Nummer acht und neun. Und sie haben eine fantastische Presse! Justizministerin Karin Keller-Sutter und Verteidigungsministerin Viola Amherd werden als hervorragende Bundesräte gelobt. Nun haben wir also die erste Verteidigungsministerin der Schweiz. Das wurde natürlich mit größter Skepsis beäugt. Und siehe da: Sie macht das ausgezeichnet!
Das Gespräch führte Chantal Louis.