Heulende Wölfe der Wende
Das Heulen mit den Wölfen ist ein überflüssiges Unterfangen. Die machen schon genug Lärm. Es ist also nicht der Moment für Kritik an der DDR. Auch nicht für eine Feministin, deren zentralstes Anliegen – die Aufhebung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern – in den Ländern mit sozialistischem Anspruch schon immer ganz einfach mit der dreisten Lüge vom Tisch gewischt wurde, dieses Problem sei keines mehr, sei längst gelöst.
Doch das rächt sich jetzt. Denn wie sollen Machtverhältnisse erschüttert werden, wenn das allgegenwärtigste, das fundamentalste – das Patriarchat – noch nicht einmal als solches benannt und bekämpft wird?! Aber wie gesagt, es ist nicht der Moment, mit den Wölfen zu heulen. Und meine Generation hat auch noch nur zu gut das Geheule der 50er Jahre, den demagogischen Anti-Kommunismus der Kalten Krieger im Ohr.
Hätte mir in den 60ern und 70ern jemand prophezeit, dass wir in den 80ern eine Neuauflage vom Kalten Krieg erleben würden – ich hätte ungläubig gelacht. Aber jetzt ist es so weit: vor unseren Augen rollt eine von den westlichen Medien zelebrierte moderne Variante des Kalten Krieges ab. Es ist also eher der Moment, diesen heulenden Wölfen auf die Schnauze zu schlagen. Ich meine die Medien-Wölfe, die uns da einen wahrlich bigotten Spektakel vorführen. „Sie küssen die Freiheit!“ – „Die Erlösung“ – „Es ist wie im Traum“ – „Wir sind dem Gefängnis entkommen“ – „Die DDR ist ein KZ-Staat“ – „Freudentränen nach der Flucht“ – „Staunend blickten die Kinder auf die vielen Schokoladentafeln“.
So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen. Dazu jeden Abend im Tevau die rituellen Bilder tränenüberströmter, „endlich geretteter“ DDR-Bürgerinnen, empfangen von jubelnden, mildtätigen BRD-BürgerInnen.
Als wären die von Ost nach West Gezogenen aus asiatischen Hungergebieten gekommen, einem südamerikanischen Folterstaat entronnen oder hätten die südafrikanische Apartheid überlebt! Als wären wir hier das Land, wo Milch und Honig für alle fließt und Gerechtigkeit und Frieden allerorten waltet! Den Höhepunkt ihrer Selbstgerechtigkeit und Häme erreichten die wahrhaft entfesselten West-Medien – in derenGeheul sich beschämend wenige differenzierte Stimmen mischten – am 40. Jahrestag der DDR.
Was dieselben Medien hierzulande verurteilen, nämlich einen massenhaften Jugendprotest auf der Straße, bejubelten sie drüben. Sie hagelten nur so, die gönnerhaften Ratschläge an die am Boden liegende DDR-Regierung für den Umgang mit „der Reform“, „der Jugend“ und „dem Volk“. Das ist also „das Ende des Sozialismus“.
Allerdings waren die sogenannt sozialistischen Länder ja noch nie wirklich welche. Bei ihnen war zur guten alten (und weltweit verbreiteten) Männerherrschaft an die Stelle der Herrschaft des Kapitals mit den Gesetzen des Dschungels nur eben die Herrschaft der Bürokraten und Militärs mit den Gesetzen des Mittelmaßes getreten. Und das ist jetzt die Lage: Die UdSSR auf einem schwankenden Boot, von dem wir noch nicht wissen, in welche Richtung es fährt oder ob es untergeht; Polen auf dem Weg in die Vatikanherrschaft; die DDR runtergewirtschaftet in jeder Beziehung, und auch der Rest bröckelt. Das alles genügt dem triumphierenden Westen noch nicht. Er muss noch mal draufhauen, und noch mal und noch mal.
Eine Erniedrigung, die an Leichenfledderei grenzt. Dazu der Hohn, in dem wir hier auch noch die letzte Gegenwehr ertränken.
Natürlich hat die DDR recht, wenn sie darauf hinweist, dass der erste und alles auslösende Massen-Exodus am 19. August 1989 über die ungarisch-österreichische Grenze vom Westen, von CSU und Konsorten initiiert war. Das war ja auch in den Westmedien nachzulesen, dass die DDR-UrlauberInnen mit Flugblättern in ganz Ungarn informiert und so über die Grenze geholt worden waren – allerdings stand das hier nur zwischen den Zeilen und blieb unkommentiert.
Auch die menschenverachtenden nächtlichen Schüsse über die DDR-Grenze waren in diesem Klima keineswegs ein Zufall, sondern die Folge der Hetze. Dieser erste Massen-Exodus wurde dann vom West-Fernsehen, das Abend für Abend in fast jedes DDR-Wohnzimmer schwappt, und von den Printmedien so suggestiv inszeniert, dass alle, die danach kamen, das bekannte Stück nachspielten: Tränen und Erleichterung.
Endlich im Land der Levis und Marlboro. Go West. Und wer kommt da zu uns? Die meisten sind unter dreißig. Sie sind politisch naiv bis verdummt, aber beruflich gut ausgebildet und unternehmungslustig. 100 Prozent haben „die Schnauze voll“. 92 Prozent erhoffen sich wirtschaftliche Vorteile (laut Infratest). Die konservativen Parteien und die Wirtschaft empfangen ihre potentiellen Wähler und Facharbeiter mit offenen Armen. So war es auch damals, Ende der 50er, als noch alle, vom Bonner Kanzler Adenauer bis zum Berliner Bürgermeister Brandt, mit Hetztiraden wetteiferten.
Damals hieß die DDR noch „Zone“, waren die BürgerInnen des Landes unsere „armen Schwestern und Brüder drüben“ – und stellten wir zur Weihnachtszeit Lichtlein zur Rettung ihrer Seele ins Fenster ... 1961 wussten sich die DDR-Machthaber dann gegen die gezielte Ausblutung ihres Staates nicht anders zu helfen als mit dem Mauerbau. Sicher keine gute Idee und schon gar keine Lösung auf Dauer. Jetzt, 28 Jahre danach, zahlt sie die Rechnung.
Man kann vielleicht ein Land zumauern, aber nicht die Köpfe der Menschen – und schon gar nicht Köpfe, die Tag für Tag dem Propagandabeschuss des Klassenfeindes ausgeliefert sind, plus der Willkür der Genossen. Die DDR scheint jetzt nur noch zwei Möglichkeiten zu haben: Innere Öffnung und radikale Reformen (aber woher soll sie dazu die Mittel und Leute nehmen?). Oder aber langsames Ausbluten in der saugenden Umarmung des Westens.
Wir leben in Zeiten des weltweiten Sieges des Kapitalismus, vom Patriarchat, das in allen Regimen noch gut im Sattel sitzt, will ich gar nicht erst reden. Für alle, die der Unersätt-
lichkeit und den Launen des Kapitalismus ausgeliefert sind, ist das kein Grund zur Freude.
ALICE SCHWARZER
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