Recht für Anna Göldi!
Anna Göldi wurde am 13. Juni 1782 in Glarus, heute ein kleiner Kanton mitten in der Schweiz, enthauptet. Es war die letzte Hinrichtung einer so genannten "Hexe" in Europa. In der Zeit der Aufklärung schien der Hexenwahn des Mittelalters überwunden zu sein. Um so größeres Aufsehen erregte der Göldi-Prozess Ende des 18. Jahrhunderts weit über das Gebiet der Eidgenossenschaft hinaus.
Hintergrund der Geschichte: Anna Göldi wurde der Vorwurf gemacht, das achtjährige Kind ihres früheren Dienstherrn, Doktor Johann Jakob Tschudi, "verzaubert" zu haben. Dieser war Arzt, dazu einer der höchsten Richter und Politiker des Landes. Das Mädchen war wochenlang krank, hatte Fieberanfälle und Versteifungen am ganzen Körper. Und es soll mehr als hundert "Gufen", Stecknadeln und andere Metallstücke, erbrochen haben.
Die beschuldigte Anna Göldi setzte sich zunächst in ihre Heimat im Sanktgaller Rheintal ab, wurde aber gefangengenommen und nach Glarus zurückgeschafft. Vier Monate verbrachte sie im Gefängnis. Während dieser Zeit unternahm sie "Heilungsversuche" am Kind, das prompt gesund wurde. Es hatte keine Schmerzen mehr, und auch das seltsame Nadelspucken hatte ein Ende. Damit hatte sich die Magd des "Herrn Doktors" aber nicht entlastet, sondern war im Gegenteil erst recht als "Hexe" entlarvt: Sie hatte das Mädchen gemäß der Anklage mit übernatürlichen Kräften verzaubert und es später auf dieselbe unerklärliche Weise von seiner Krankheit geheilt. Anna Göldi wurde mehrmals gefoltert.
Unter unvorstellbaren Schmerzen soll sie teilweise eingestanden haben, dass sie mit dem Teufel in einem Bündnis gewesen sei. Der Rat, die mit den wichtigsten Aristokratenfamilien des Landes bestückte Exekutive, welche damals auch als Blutgericht amtete, verurteilte die 48-Jährige zum Tode.
Hinter der offiziellen Geschichte steckte ein Geheimnis, das im Prozess nur gestreift wurde: Der Politiker und Richter Tschudi soll ein Verhältnis mit der Magd unterhalten und sie geschwängert haben.
Das war damals weit mehr als ein Kavaliersdelikt, es war ein Verbrechen, das mit harten Sanktionen geahndet wurde. Ratsherren, die des Ehebruchs überführt wurden, waren als Politiker und Richter nicht mehr wählbar beziehungsweise mussten alle Ämter niederlegen. Es hätte für die politische Karriere des erst 34-jährigen Arztes das Ende bedeutet und wäre für die Aristokratenfamilie Tschudi eine Schmach gewesen. Darum war Anna Göldi eine Gefahr für das gesamte Herrschaftsgefüge des Landes Glarus. Sie musste zum Schweigen gebracht werden.
1783, ein Jahr nach der Hinrichtung, prägte der Göttinger Staatsrechtler und Publizist August Ludwig Schlözer dafür erstmals den inzwischen geläufigen Begriff des "Justizmord". Schlözer schrieb dazu: "Ich verstehe unter diesem neuen Wort die Ermordung eines Unschuldigen, vorsätzlich, und sogar mit allem Pompe der heiligen Justiz, verübt von Leuten, die Morde verhindern oder dafür sorgen sollten, dass ein solcher doch gehörig bestraft werde."
Mein Buch, "Der Justizmord an Anna Göldi", erschien am 13. Juni dieses Jahres zum 225. Todestag der "letzten Hexe". Es gab vorher bereits etliche Publikationen dazu, allen voran die Romane von Kaspar Freuler (1945) und Eveline Hasler (1982). Doch es gab noch kein Sachbuch zum Fall Göldi. Als Jurist und Journalist habe ich mit Historikern und Schriftexperten den Fall jahrelang untersucht und bin zu überraschenden Ergebnissen gekommen.
In Deutschland, wo der Fall seinerzeit ins Rollen kam, entdeckten wir neue Dokumente, die den Justizmord in neuem Licht erscheinen lassen. Das Todesurteil war damals von einem Gericht gefällt worden, das gar nicht zuständig war. Zudem wissen wir heute, dass kurz nach der Hinrichtung von Anna Göldi ein Gerichtsschreiber unter Lebensgefahr die Akten des Geheimprozesses deutschen Journalisten zugespielt hatte. Anfang dieses Jahres reichte ich darum ein Gesuch zur nachträglichen Rehabilitierung von Anna Göldi beim Regierungsrat des Kantons Glarus ein.
Immerhin Richter Tschudi soll ein Verhältnis mit der Magd gehabt und sie geschwängert haben, besteht kein Zweifel daran, dass Anna Göldi unschuldig hingerichtet wurde. Ein solcher Gnadenakt drängt sich um so mehr auf, als heute keine Nachfahren von Anna Göldi mehr leben - der Kanton Glarus muss also noch nicht einmal fürchten, mit späten finanziellen Forderungen durch Dritte konfrontiert zu werden. Und schließlich ist der Kanton Anna Göldi bis heute die Rehabilitierung schuldig.
Der Regierungsrat lehnte mein Gesuch im März ab. Zwar liege zweifellos ein "Fehlurteil" vor, doch wolle die Regierung von einer Rehabilitierung "bewusst absehen." Begründung des Regierungsrates: "Die Schuld am Urteil ist nicht wieder gut zu machen, Schuldige gibt es keine mehr, nicht einmal eine direkte Nachfolgebehörde des urteilenden Gremiums."
Doch damit ist das letzte Wort in der Frage der Rehabilitierung von Anna Göldi noch nicht gesprochen. Im Sommer dieses Jahres reichte eine Gruppe von Kantonsparlamentariern - angeführt vom Glarner Rechtsanwalt Fritz Schiesser - einen parlamentarischen Vorstoß ein, der die Rehabilitierung der Göldi zum Ziel hat. Dieser moralische Akt sei überfällig angesichts der von niemandem bestrittenen Tatsache, dass Anna Göldi unschuldig zum Tode verurteilt wurde. Mit der Rehabilitierung werde der "letzte entscheidende Schritt getan". Dennoch hält die Kantonsregierung an ihrer ablehnenden Haltung fest, wie sie in einem kürzlich erschienen Bericht betonte.
Sie wolle den Fall keineswegs totschweigen und Publikationen dazu sogar fördern, aber eine Rehabilitierung komme nicht in Frage. Somit bleiben die Fronten zwischen den Befürwortern und Gegnern einer Rehabilitierung von Anna Göldi verhärtet - und muss nun das Parlament des Kantons Glarus ein Machtwort sprechen. Die Debatte findet voraussichtlich in der Sitzung vom 24. Oktober 2007 statt, was ein denkwürdiger Zufall wäre: Es ist Anna Göldis Geburtstag. Es wäre weltweit nicht die erste Rehabilitierung einer so genannten "Hexe".
2001 wurden in der Ortschaft Salem im US-Bundesstaat Massachusetts mehrere "Hexen" durch eine vom Gouverneur unterzeichnete Urkunde mehr als 300 Jahre nach ihrem Tod begnadigt. Das jüngste Beispiel einer Hexenrehabilitierung stammt aus dem schottischen East Lothian, östlich von Edinburgh. 2004 wurden dort 81 Frauen, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert wegen "Hexerei" auf dem Scheiterhaufen endeten, von den Stadtbehörden für unschuldig erklärt. Auf der Rehabilitierungsfeier erklärte ein Historiker: Die Entschuldigung kommt zwar zu spät, die Rehabilitierung ist jedoch ein Akt der Wiedergutmachung für Menschen, die "hysterischer Ignoranz und Paranoia" zum Opfer gefallen sind.
Auch auf dem europäischen Kontinent stellt sich neuerdings die Frage nach der Rehabilitierung von "Hexen". Vor allem in Deutschland ist eine Diskussion darüber im Gange. Dort war neben den Kriegen und dem Holocaust der Hexenwahn die größte Massenvernichtung von Menschen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat 1997 in München dazu eine Schrift veröffentlicht, deren Schlussfolgerung auf eine Schuldanerkennung der Täter hinaus läuft. Laut Theologieprofessor Joachim Track stellen die Christen sich mit der Anerkennung ihrer Schuld bei den Hexenverfolgungen nicht nur ihrer Verantwortung für ihre Taten, sondern nutzen damit auch die Chance, "aus verkehrten Wegen der Vergangenheit für unsere Gegenwart zu lernen".
Diese Chance bietet sich nun auch den obersten Behörden des Kantons Glarus 225 Jahre nach der Hinrichtung von Anna Göldi. Es wäre eine Weltpremiere: Noch nie hat ein Parlament eine als "Hexe" verurteilte Frau rehabilitiert.
Weiterlesen
Walter Hauser: Der Justizmord an Anna Göldi (Limmat, 20.80 €). Eveline Hasler: Anna Göldi. Letzte Hexe (Artemis & Winkler, 16.80 €).
Das Anna-Göldi-Museum in Mollis ist neu eröffnet: www.annagoeldi.ch