"Ich habe ein Beides-Kind!"

Das Foto ist aus dem Fotoband "You are You" von Lindsay Morris.
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Vielleicht wäre Manches anders verlaufen, wenn ich mein Kind in den Wochen nach der Geburt schon so gut gekannt hätte wie heute. Mit Sicherheit jedoch hätte ich mir weniger Sorgen gemacht. Ja, hätte ich geahnt, dass dieses Kind mit einem so ausgeprägten Selbstbewusstsein gesegnet sein würde, wären viele Ängste und Bedenken früher schon in Zuversicht umgeschlagen.

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Welchen Namen soll ich meinem Kind geben?

Als es kaum vier Jahre alt war, schaute ich mein Kind im mütterlichen Überschwang einmal begeistert an und sagte: „Du bist so schön!“ Wie Mütter eben so sind. Da warf sie mir einen nahezu entrüsteten Blick zu und  erwiderte: „Ich bin wild und schlau!“

Aber so ein neugeborenes Kind kennt man eben noch gar nicht. Es ist ein unbeschriebenes Blatt, ideale Projektionsfläche für all unsere Sehnsüchte und Sorgen in dieser Welt. Umso mehr, wenn der Kinderarzt nur wenige Stunden nach der Geburt dieses Kindes feststellt, dass dieses vermeintliche Mädchen vielleicht gar kein Mädchen ist und ein Junge offensichtlich auch nicht.

Eine genaue Diagnose konnte der Überbringer dieser Nachricht, der sich selbstkritisch und humorvoll als „Feld-Wald-und-Wiesen-Arzt“ bezeichnete, um seine fehlende Spezialkenntnis in Sachen Intersexualität von vornherein auf den Tisch zu legen, selbstverständlich nicht gleich geben. Doch anders als viele andere betroffene Familien wussten wir schon eine gute Woche nach der Geburt die endgültige Diagnose: Unser Kind hat ein chromosomales Mosaik, 45,X0,46,XY.

Als Feld-Wald-und-Wiesen-Mutter habe ich das so verstanden: Früh in der Schwangerschaft, als unser Kind nur aus einem winzigen Zellhaufen bestand, hat sich in einer einzigen Zelle durch eine spontane Fehlentwicklung das Y-Chromosom verabschiedet.

So eine Zelle bezeichnet man dann als XNull (XO). Sie stirbt nicht ab, weil so ein YChromosom nicht überlebenswichtig ist, und teilt sich weiter, wie die anderen Zellen auch. Es entsteht ein gemischter Zellsatz von teilweise XY und teilweise XO. Und da sich eine XO-Zelle in etwa so verhält wie eine XX-Zelle, also weiblich, kann der Embryo sich nicht eindeutig männlich oder eindeutig weiblich entwickeln. Es entsteht eine Mischform, ein intersexueller Mensch.

Als mein Kind auf die Welt kam, wurde alles infrage gestellt, was ich bis dahin über Geschlechtsidentität wusste. Die Geburt meines Kindes hat mich in einen Zustand versetzt, den ich am ehesten mit einem Schock umschreiben würde; nicht weil ich dieses Kind nicht wollte – im Gegenteil –, sondern weil ich kein Denkschema für das hatte, was uns da neu begegnete. Ich konnte und kann ein Sein in dieser Welt ohne die Kategorie männlich-weiblich überhaupt nicht fassen.

Jetzt, wo ich es kenne, schaue ich mein Kind an und kann zur gleichen Zeit einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen sehen. Aber es bleibt eben dabei: Ich denke, jetzt ist sie wieder wie ein Junge, jetzt ist sie wieder wie ein Mädchen. Die Kategorie bleibt bestehen. Sie löst sich nicht auf. Intersexuellsein bleibt ein Dazwischen-Sein, oder ein Weder-Noch-Sein, oder ein Eher-So-Oder-Eher-So-Sein.

Ich sehe einen kleinen Jungen und ein Mädchen

Vielleicht liegt also in unseren Köpfen das größte Problem. Das Kind ist nicht krank, aber wir können das Kind nicht denken, wenn es keiner der beiden Kategorien eindeutig zugehört. Das fing schon damit an, dass wir den Namen, den wir in der durch Ultraschall bestätigten Annahme, ein Mädchen zu erwarten, ausgewählt hatten, unserem Kind erst einmal nicht geben konnten. Wir haben unseren Säugling dann zunächst einfach Purzelchen genannt. Das war neutral. Vom Standesamt hingegen, was ja häufig als erste große Hürde angeführt wird, wurden uns keinerlei Steine in den Weg gelegt. Dort zeigte man sich angesichts der ärztlichen Bestätigung, dass in Geschlecht momentan nicht festgelegt werden könne, äußerst empathisch und bestand keineswegs auf einer sofortigen Eintragung.

Wie wir hatten die freundlichen Beamtinnen von Intersexualität noch nie etwas gehört. Auch unsere Familien und Freunde, immerhin keineswegs einfältige Menschen, waren von der Diagnose wie vor den Kopf geschlagen. Das war etwas ganz Neues, Unbekanntes, das erstmal hilflos machte. Wenn man auch nicht sofort ermessen konnte, warum, ahnte man doch, dass eine Begegnung von Mensch zu Mensch immer durch das erste Einordnen in Kategorien gezeichnet ist. Und männlichweiblich ist da immer ganz vorne mit dabei. Geschlecht ist identitätsstiftend. Man mag die gesellschaftlichen Rollen und Klischees, die damit zusammenhängen, annehmen oder ablehnen. Aber die Erwartung einer Geschlechtszuordnung ist nun einmal da.

Immer geht die Geburt eines Kindes mit der elterlichen Sorge um dessen Wohlergehen einher. In der Regel beschränkt sich diese Sorge in den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt im Wesentlichen auf das Spenden von Wärme, Nahrung und Geborgenheit. Bei der Geburt unseres intersexuellen Kindes begann sofort ein viel weitergehender Prozess des Abwägens gesellschaftlicher Zusammenhänge, die das langfristige Wohlergehen dieses Kindes beeinflussen würden. Letztlich drehte sich der innere Diskurs um die Frage, ob nun eine größtmögliche Authentizität („Ich bin so, wie ich bin.“) oder größtmögliche Integration in die Gesellschaft („Ich bin so wie ihr.“) der Schlüssel zum Kindeswohl sei. Nur so kann man auch die bald nach der Diagnose auftauchende Frage nach geschlechtsangleichenden Operationen verstehen.

Die gegenwärtige Anschuldigung derjenigen Intersexuellen, die sich mutig der Gesellschaft als solche präsentieren wollen und geschlechtsangleichende Operationen als gesetzeswidrige Verstümmelung anprangern, gibt gelebter Authentizität einen höheren Stellenwert als dem Wunsch, in der Menge mitzuschwimmen. Sie wollen sich nicht (mehr) verstecken, sondern zeigen: „Schaut her, da sind wir, so sehen wir aus, mitten unter euch.“ Ob unser Kind sich ebenso mutig der Gesellschaft würde stellen wollen, konnten wir freilich nach der Geburt überhaupt nicht einschätzen.

Das Krankenhaus, in dem wir uns nach dem Kaiserschnitt eine Woche lang erholen konnten, bot ja noch einen gewissen Schutzraum. Ganz und gar unvorbereitet traf uns nach dem Verlassen des Krankenhauses die plötzliche Notwendigkeit, Nachbarn, Bekannten und freundlichen Spaziergängern die naheliegende Frage „Was ist es denn?“ beim Blick in den Kinderwagen ehrlich zu beantworten. Wir hatten begonnen, uns mit dem unentschiedenen Namen Purzelchen anzufreunden, aber die Frage, wie weit wir das Anders-Sein unseres Kindes in die Öffentlichkeit tragen wollten, war noch nicht beantwortet und wie das konkret gehen sollte, völlig unklar. Keine Frage: Dieser Moment der Heimkehr aus dem Krankenhaus, wenn man normalerweise stolz sein Kind nach Hause bringt und seinem Umfeld präsentiert, war von der Verunsicherung über den Umgang mit der Intersexualität so überfrachtet, dass ich ihn als sehr trauriges Ereignis in Erinnerung habe. Ein Huschen durchs Treppenhaus in der Sorge, eigentlich lieb gewordenen Nachbarn zu begegnen, und dann nicht zu wissen, was man sagen soll.

"Mama, sag einfach, dass ich beides bin!"

Noch ins Krankenhaus hatte mein Mann damals das Buch von Ulla Fröhling „Leben zwischen den Geschlechtern“ mitgebracht. Darin wurde neben haarsträubenden und schockierenden Lebensgeschichten auch eine junge Familie in einer ähnlichen Lebenssituation wie unsere beschrieben, die sehr offen mit der Intersexualität ihres Kindes umging. Das konnte es sein! Ja, nur so konnte es für uns überhaupt gehen.

Wir begannen, die Frage nach dem Geschlecht unseres Kindes auch auf der Straße ehrlich zu beantworten. „Wir können es Ihnen noch nicht sagen.“ Und diese Aussage hat niemanden umgehauen, sondern viele interessante Gespräche eröffnet und Nähe geschaffen. Unsere Familien und Freunde waren dieser zuvor unbekannten Diagnose bei aller dadurch ausgelösten Betroffenheit und Verunsicherung sehr positiv aufgeschlossen.

Vielleicht hat unsere Offenheit dazu beigetragen, dass sich unser Kind auf die häufig gestellte Frage, ob sie nun ein Mädchen oder ein Junge sei, bereitwillig antwortet, sie sei „beides“, und die entrüstete Behauptung, dass es das ja gar nicht gebe, entschlossen zurückweist und sagt: „Doch das gibt es!“ Vielleicht ist es auch nur der kindliche Wunsch, etwas Besonderes zu sein, der dem jugendlichen, möglichst wie die anderen zu sein, weichen wird. Aber ein Anfang ist gemacht – und zwar von unserem Kind.

Wir hatten nach langem Abwägen, etlichen medizinischen Untersuchungen, die alle nur das eindeutig Zwischengeschlechtliche untermauerten, therapeutischer Beratung und unzähligen Gesprächen mit Freunden und Verwandten beschlossen, unserem Kind eine weibliche Geschlechtsrolle zuzuweisen. Wobei uns klar war, dass es sich hier um eine Rolle handeln würde, die es annehmen oder ablehnen könnte. Aber diese Zuweisung geschah in der Hoffnung, dass diese Geschlechtsrolle einen möglichst weiten Raum eröffnen möge, der auch eine burschikose Entwicklung mit abdecken könnte. Die männliche Geschlechtsrolle erschien uns deutlich penisfixierter und gesellschaftlich eingeschränkter, wenn gesetzten Männlichkeitsnormen nicht nachgekommen wird.

Zu Anfang stellt man sich ja vor, dass es irgendwann aufklärende Gespräche mit dem Kind geben wird, wo man sich feierlich zusammensetzt und alles, was man so zum Thema Intersexualität und zur Geschichte des eigenen Kindes zusammengetragen hat, kindgerecht aufgearbeitet vorträgt. Tatsache ist jedoch, dass diese Aufklärung immer in ganz unvorbereiteten Alltagssituationen auftritt, irgendwo zwischen Wasser in die Badewanne einlassen und Pflaster aufkleben.

Wir brauchen einen Austausch über Inter-
sexualität!

„Stimmt’s, ich kann auf beide Toiletten gehen – Jungs und Mädchen?!“, heißt es dann. Oder beim Zu-Bett-Gehen: „Ich will aber lieber ein Jonathan sein.“ Also probieren wir es den Rest des Abends mit „Jonathan“, bis die Kleine sich ankuschelt und doch bei ihrem gewohnten Namen bleiben möchte.

Ein andermal entwickelt sich beim Spielen folgender Dialog: „Warum spielst du denn nicht mit den anderen Kindern?“ Eher abfällig: „Äh, alles Mädchen!“ Jetzt fängt mein Kopf an, auf Hochtouren zu arbeiten, denn man will ja nichts Falsches sagen: „Bist du nicht auch ein Mädchen?“ – „Ich bin beides.“ – „Und Anna, mit der spielst du doch auch, die ist doch auch ein Mädchen!?“ – „Anna ist auch beides.“ Das stimmt zwar so nicht, ist aber eine interessante Wahrnehmung eines Kindes, das immer mit den drei Kategorien männlich, weiblich und beides aufgewachsen ist.

Oder die nette neue Nachbarin kommt die Treppe herunter, während wir die Tür abschließen und schnell aus dem Haus müssen. Sie: „Ach, dieser kleine Racker gehört zu dir! Ist das ein Mädchen oder ein Junge?“ Ich: „M. ist mit uneindeutigem Geschlecht geboren. Sie wächst als Mädchen auf.“ Ich spüre die Blicke meiner Tochter auf mir. Die Nachbarin ist perplex. Ich: „Wir haben es eilig, aber ich erkläre dir das später gern.“ Dann wende ich mich zu M. „Habe ich das richtig gesagt? Oder soll ich das anders machen?“ Sie: „Sag einfach, ich bin beides.“

Eine besondere Herausforderung sind die ungescheuten und von mir manchmal als grob empfundenen Fragen anderer Kinder, die so ein offener Umgang mit sich bringt: „Also, hat sie nun einen Pimmel oder hat sie keinen?“ Ich finde diese Frage eine logische Folge aus der Eröffnung, dass mein Kind sich als „beides“ bezeichnet. Ist sie deshalb auch eine legitime Frage? Es ist ja doch unüblich, so offen über Schambereiche zu sprechen – zumal über Schambereiche Dritter. Und so wähle ich meine Antworten je nach Gesprächspartner anders aus, versuche die verständliche Neugier meines Gegenübers nicht abzuwerten, sondern anzuerkennen, gleichzeitig aber die Würde meines Kindes zu wahren.

Wenige Eltern von intersexuellen Kindern, die wir später getroffen haben, hatten die Begegnung mit Ärzten nach der Diagnose Intersexualität so positiv erlebt wie wir. Viele fühlen sich von Ärzten belogen, ja sogar betrogen, bedrängt und alleingelassen.

Immer wieder trifft uns Eltern die Frage, ob geschlechtsangleichende Operationen an Kindern notwendig, wünschenswert oder gar gerechtfertigt sind. Ich tue mich auch nach sechs Jahren der Auseinandersetzung sehr schwer damit, dies pauschal zu beurteilen. Intersexualität ist nicht gleich Intersexualität. Die Diagnosen sind verschieden und die Menschen und die Zeitpunkte, zu denen sie gegeben werden, ebenso. So sind auch die Eltern, die Familien und die gesellschaftlichen Kreise, in die ein Kind mit uneindeutigem Geschlecht hineingeboren wird, vollkommen unterschiedlich.

Es darf den Eltern aber nicht vorgegaukelt werden, dass durch eine Operation eine Eindeutigkeit des Geschlechts hergestellt werden kann. Gonadektomien sind irreversibel und deshalb sollten sie so lange hinausgeschoben werden wie möglich, solange sie nicht notwendig sind. Notwendig wären sie wegen einer festgestellten Entartung (Krebs, Anm.d.Red.) oder wegen vom Kind unerwünschter Virilisierung und Stimmbruch.

Eine funktionstüchtige Gonade mit ihren lebenswichtigen hormonproduzierenden Funktionen allein wegen eines eingrenzbaren Entartungsrisikos oder einer zugewiesenen, aber unbestätigten, Mädchenrolle bereits in den ersten Lebensmonaten zu entnehmen, erscheint mir aus heutiger Sicht den Möglichkeiten des pharmazeutischen Ersatzes naiv zugewandt.

Gleichwohl gibt es zwei Dinge, die Eltern nach der Diagnose Intersexualität helfen können: Zeit und kompetente Beratung. Alle Eltern, mit denen ich bisher gesprochen habe, haben genau das bemängelt: Zusätzlich zum selbst empfundenen Entscheidungsdruck wurde von Ärzten ein massiver Zeitdruck aufgebaut und dies war gepaart mit einem großen Vakuum an kompetenten Beratungsinstanzen.

Aus unseren Erfahrungen heraus und als Folge dessen, was ich von anderen gehört habe, plädiere ich deshalb für ein Moratorium nach der Diagnose Intersexualität. Ich plädiere dafür, dass für einen festzulegenden Zeitraum über Monate, gegebenenfalls sogar einige Jahre, keine operativen Eingriffe geschehen dürfen, die nicht aus gesundheitlichen Gründen dringend notwendig sind.

Ich sehe dies als eine Zeit der Entlastung, damit Eltern ihr Kind erst einmal kennenlernen können als den Menschen, der es ist. Nichts ist wertvoller als diese Zeit des Kennenlernens. Damit Eltern für sich erspüren können, ob das Nicht-eindeutig-Sein für sie oder ihr Kind tatsächlich eine unüberwindliche Hürde darstellt. Bei allem Fremden entsteht in uns ein Hang, es abzulehnen.

Und einen Platz für jeden, um sich frei zu entfalten

Das ist eine ureigene Erfahrung. Wenn es uns aber gelingt, das Fremde nicht gleich vernichten zu wollen, können wir uns ihm neugierig nähern und es vielleicht lieben lernen. Auch der Uneindeutigkeit eines Geschlechts kann man sich liebevoll annähern.

Für die nähere Zukunft wünsche ich mir einen noch viel breiteren öffentlichen Austausch über Intersexualität, als wir ihn bisher haben. Einen öffentlichen Austausch, der nicht urteilend, sondern einladend und neugierig ist, und von dem Wunsch getragen wird, auch etwas von all denjenigen bisher schweigenden intersexuellen Menschen und ihren Eltern zu erfahren – als Bereicherung für alle Betroffenen und ihre Eltern und als Erweiterung des Angesichts der Gesellschaft, in der wir leben.

Für meine intersexuelle Tochter wünsche ich mir, dass sie der lebensfrohe Mensch bleibt, der sie jetzt ist, und dass sie ihr Anders-Sein weiterhin so mutig in die Welt hinausträgt. Ich wünsche ihr, dass sie in dieser Gesellschaft einen Platz für sich findet, der es ihr ermöglicht, sich voll zu entfalten.

Möge sie Menschen finden, die sie liebevoll einschließen in ihre Gemeinschaft und sich von ihr herausfordern lassen, wie sie auch uns herausgefordert hat, längst für selbstverständlich empfundene Annahmen neu zu überdenken. Vielleicht können wir ja dann eines Tages in einer Gesellschaft leben, in der sich auch in puncto Intersexualität größtmögliche Authentizität und Integration nicht mehr gegenseitig ausschließen werden.

J.M. Pulvermüller

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Der Text ist ein gekürzter Auszug aus „Intersexualität kontrovers“, (Hg.) Katinka Schweizer/Hertha Richter-Appelt (Psychosozial-Verlag, 39.90 €).

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Wer gehört zum dritten Geschlecht?

Vanja klagte, denn "da ist das Gefühl, etwas von beiden Seiten in sich zu tragen". Foto: Screenshot NDR
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Es ist eine bahnbrechende Entscheidung, die Karlsruhe da getroffen hat: Bis Ende 2018 muss das Innenministerium dafür sorgen, dass in Geburtsurkunden und Personalausweisen als Geschlecht nicht länger nur „männlich“ oder „weiblich“ eingetragen werden kann, sondern "eine weitere positive Bezeichnung eines Geschlechts“.

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Müssen Intersexuelle zukünftig "inter" eintragen?

Zu verdanken ist das Urteil einem 27 Jahre alten Menschen, der sich das Pseudonym „Vanja“ gegeben hat – denn Vanja ist in manchen Ländern ein Männer-, in anderen ein Frauenname. In Vanjas Geburtsurkunde steht „weiblich“. Aber als das angebliche Mädchen in die Pubertät kam, bekam es weder Brüste noch Menstruation. Es stellte sich heraus: Vanjas Eierstöcke produzierten kaum Östrogene. Sie hat nur ein X-Chromosom, das zweite X oder das Y fehlten. Vanja ist intersexuell.

Die Ärzte taten, was üblich ist in einer Gesellschaft, die Menschen mit eindeutigem Geschlecht bevorzugt: vereindeutigen. Sie gaben weibliche Hormone, aber Vanja fühlte sich nicht als Frau. Vor fünf Jahren beschloss sie, als Mann zu leben – zumindest äußerlich. Aber zwei Jahrzehnte als Mädchen gelebt zu haben, ist eben auch Teil ihrer/seiner Biografie. „Es ist ein Dazwischen-Gefühl“, sagt Vanja. „Das Gefühl, etwas von beiden Seiten in sich zu tragen.“ Deshalb kränkte es Vanja, „dass ich immer nur zwischen zwei Geschlechtern wählen kann. Für mich ist das jedes Mal so, als würde mir jemand sagen: ‚Dich gibt es gar nicht.‘“

Zwar gibt es seit 2013 die Möglichkeit, den Geschlechts-Eintrag in Geburtsurkunde und Personalausweis ganz wegzulassen, sofern das Geschlecht des Kindes nicht eindeutig ist. Das aber reichte den Intersexuellen-Verbänden nicht. „Da bleibt dann eine Leerstelle – als hätten intersexuelle Menschen kein Geschlecht!“ erklärte Lucie Veith, die langjährige Vorsitzende des Vereins „Intersexuelle Menschen“. Deshalb forderten sie eine dritte Geschlechts-Bezeichnung wie „inter“ oder „divers“.

Dem folgte nun das Bundesverfassungsgericht, nachdem sich Vanja durch alle Instanzen geklagt hatte: vom Amtsgericht Hannover bis zum Bundesgerichtshof. Die geschlechtliche Identität nehme „eine Schlüsselposition im Selbstverständnis einer Person ein“, erklärten die RichterInnen. Deshalb sei sie vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt. „Dabei ist auch die geschlechtliche Identität jener Personen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.“ Rechtlich stehe dem nichts im Wege: „Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln.“

Das oberste deutsche Gericht hat also anerkannt, was Lucie Veith im EMMA-Interview so erklärte: „Ich sehe Geschlecht als Kontinuum zwischen männlich und weiblich und jeder findet darin seinen Platz. Wissenschaftlich belegt gibt es mehr als 4.000 Varianten von Geschlecht. Und wo fängt da Mannsein und Frausein an?“

Nach dem Karlsruher Urteil stellen sich allerdings weitere interessante Fragen: Wird die dritte „positive Bezeichnung“ im Personenstandsrecht eigentlich nur für körperlich intersexuelle Menschen möglich sein? Oder reicht auch das psychische Empfinden, sich nicht eindeutig als Frau oder Mann verorten zu wollen? Diese Frage ist keineswegs abwegig. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte 2011 im Falle einer transsexuellen Frau entschieden, dass für die Anerkennung ihrer weiblichen Geschlechtsidentität keine Operation notwendig sei, sondern das „empfundene Geschlecht“ maßgeblich sei.

Warum nicht einfach ganz auf den Eintrag verzichten?

Werden intersexuelle Menschen künftig gezwungenermaßen als „inter“ oder „divers“ eingetragen? Das könnte im Alltag unschöne Folgen haben, wenn sie oder er nach außen bewusst als eindeutig weiblich oder männlich auftritt. Dürfen sie sich also aussuchen, ob sie in Dokumenten als „weiblich“, „männlich“ oder „inter“ bezeichnet werden? Wäre es womöglich das Einfachste, für alle Menschen ganz auf einen Geschlechts-Eintrag zu verzichten?

Das alles sind Fragen, die der Gesetzgeber nun bis zum 31. Dezember 2018 beantworten muss. Und vielleicht erfüllt er bei dieser Gelegenheit auch eine langjährige und wohl die wichtigste Forderung intersexueller Menschen: ein gesetzliches Verbot der „vereindeutigenden“ Operationen an Babys und Kleinkindern.

Chantal Louis

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