„Ich habe bei der Wahl geweint!"

© Reuters
Artikel teilen

Gestern noch haben die Frauen gehofft. So wie Hunderte von Amerikanerinnen, die zum Grab von Susan B. Anthony in Rochester pilgerten und ihre „I voted today!“-Aufkleber (Ich habe heute gewählt!), auf den Grabstein klebten.

Anzeige

So viele, dass zuletzt nur noch der Namen der Frau zu sehen war, der diese Frauen ihre Ehre erweisen wollten. Viele der Frauen trugen weiß, in Gedenken an die Suffragetten-Bewegung, in der auch Anthony unter Einsatz ihres Lebens für das Wahlrecht der Frauen gekämpft hat - nicht nur in Amerika.

Susan B. Anthony (1820 bis 1906) war die erste Frau, die 1872 bei einer Präsidentschafts-Wahl provokant ihre Stimme abgab – vergeblich, denn es gab ja noch gar kein Wahlrecht für Frauen. Das bekamen die Amerikanerinnen erst 1920.

Auch diesmal ging es um einen historischen Schritt

Auch bei der Präsidentschaftswahl 2016 ging es um einen historischen Schritt. Das erste Mal in der amerikanischen Geschichte konnten die Frauen ihre Stimme für eine Frau abgeben: Hillary Rodham Clinton.

„Ich habe vorher noch nie geweint, wenn ich meine Stimme abgegeben habe“, sagte Jodie aus Irondeqoit/ New York, die zusammen mit ihrer Tochter Jessie am Tag der Wahl zum Grab gekommen war. „Aber heute habe ich begriffen, dass meine Töchter – und ich habe drei davon - diesmal sogar das Recht haben, für eine Frau zu stimmen.“

Auch Nora Rubel, Direktorin des Susan B. Anthony Institut an der Uni von Rochester, war eine der vielen Hoffnungsvollen. Sie nahm ihre Töchter mit ins Wahllokal. „Ich habe zwei Töchter. Wir sind zusammen ins Wahllokal gegangen und haben uns danach entschieden, zusammen hier zum Friedhof zu gehen und unsere Sticker auf den Grabstein kleben", sagt Rubel. "Es ist ein historischer Moment, um hierhin zu kommen. Ein großartiger Moment.“

Da wusste Nora noch nicht, dass am nächsten Tag der 45. Präsident der USA seinen Sieg feiern würde. 

Artikel teilen

Wieso sind wir eigentlich überrascht?

Artikel teilen

Wieso sind wir eigentlich alle so überrascht? Wir Europäer. Wir Fortschrittlichen. Wir Frauen. Wieso waren wir uns so sicher, dass diese Frau zur ersten Präsidentin von Amerika gewählt wird? Eine Frau, die zu einer Generation gehört, die eigentlich Housewife hätten werden sollen, dann aber Ärger machten als Frauenrechtlerinnen. Eine Frau, die seit Jahrzehnten Männerjobs macht, dabei aber immer „ganz Frau“ bleiben sollte. Eine Frau, der bis zur letzten Sekunde vorgeworfen wurde, sie sei „kaltherzig“ und man wisse nicht, was sie „wirklich fühlt“. Eine Frau, die seit 40 Jahren gedemütigt und mit Dreck beworfen wird – und die in den letzten Monaten im Schlamm versank.

Anzeige

Ich weiß nicht mehr, wer es war, es war auf jeden Fall ein eher fortschrittlicher Kollege, ein deutscher Fernsehkorrespondent in Amerika. Und der sagte vor einigen Wochen mit fester Stimme in den Abendnachrichten: „Amerika hat die Wahl zwischen Pest und Cholera.“ Und er war nicht der einzige Fortschrittliche, der so getönt hat.

Pest und Cholera? Pest okay. Dieser Trump, ein Hasardeur, Rechtspopulist und Frauenhasser, der keine Ahnung hat von Politik, dafür aber goldene Wasserkräne in seinem Badezimmer und wechselnde, immer jünger werdende Models an seiner Seite, dieser Trump ist tatsächlich die Pest. Aber wer ist die Cholera? Hillary Clinton?

Nicht nur die Trump-Anhänger haben Hillary begrabscht und gedemütigt

Wie kommt die brillante Juristin, mitregierende First Lady („Wählt einen – ihr kriegt zwei“), Ex-Senatorin von New York und Ex-Außenministerin unter Obama zu so einem Ruf? Sie gehöre zum so genannten „Establishment“, hieß es über die Kandidatin. Geschenkt. Welcher Präsidentschaftskandidat in den USA gehört nicht dazu? Allen voran der Milliardär Trump. Sie mache eine fragwürdige Außenpolitik, sei eine kalte Kriegerin und pro Interventionen. Stimmt. Aber welcher US-Präsident ist das nicht? Und was wohl haben wir von einem Präsidenten Trump zu erwarten?

Hillary Clinton, 69, ist eine sehr erfahrene, demokratische Politikerin. Sie ist eine Frau, ja sogar bekennende Feministin. Sie wäre nach 44 US-Präsidenten endlich, endlich die erste Präsidentin gewesen! Und sie wäre es auch geworden, wenn - wie die ersten Wahlanalysen belegen - nur Frauen, nur Schwarze oder nur junge Leute gewählt hätten.

Sie ist es nicht geworden. Nicht nur darum nicht, weil die Angry White Men sie bekämpft haben. Sie ist es auch nicht geworden, weil sie am Ende einfach zu angefasst war. Und da bleibt immer etwas hängen.

Doch nicht nur die Trump-Anhänger haben diese Frau in einer nie dagewesenen Art begrabscht und gedemütigt. Die Kandidatin Clinton war für alle in diesen letzten Wochen und Monaten vogelfrei.

Dass wir uns heute nicht über die erste Präsidentin Amerikas freuen können, verdanken wir also nicht nur den Männern von gestern. Wir verdanken es auch den Neunmalklugen, wie zum Beispiel ihrem Parteikollegen Bernie Sanders. Diesen BesserwisserInnen, denen Hillary nicht genug dies oder nicht genug das war, aber die in Wahrheit einer Frau diesen Job einfach nicht zutrauen, schlimmer noch: die einer Frau diesen Job nicht gönnen. Jetzt haben sie den 45. Mann. Und was für einen.

Alice Schwarzer

Weiterlesen
 
Zur Startseite