Im Namen des Fortschritts

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Sie war die erste, mit der Marco über sein Martyrium gesprochen hat. Er hatte Anfang 2017 zum Telefonhörer gegriffen und Teresa Nentwig angerufen, als er im Internet von ihrer Studie gelesen hatte. Titel: „Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung. Am Beispiel eines ‚Experiments‘ von Helmut Kentler“.
Die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig war Mitautorin dieser Studie. Und Marco, heute 40 Jahre alt, war Teil dieses Experiments gewesen. Heute ist er berufsunfähig und auf Sozialhilfe angewiesen. Marco gehörte zu den  Jungen, die das Berliner Jugendamt als Pflegekinder an pädosexuelle Männer vermittelt hatte.

Dass diese „Pflegeväter“ ihren Schützlingen sexuelle Gewalt antun würden, war der Behörde bekannt – es war Teil des Konzepts. Denn das „Experiment“, das 1969 begonnen hatte, hatte einen renommierten Mentor: Helmut Kentler. Der Pädagogik-Professor an der Universität Hannover und zeitweise Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung“ war ein Star der Reformpädagogik und galt als Kämpfer gegen die „verstaubte“ Sexualmoral der 50er Jahre.

Kentler hatte das „Ziehväter“-Projekt ins Leben gerufen und dabei in keinster Weise verschleiert, worum es sich da handelte. Im Gegenteil: Der Reformpädagoge hatte frank und frei die Erkenntnis verkündet, „dass sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, vor allem dann, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist“.

Wie sich das Leben bei Fritz H., zu dem Marco 1989 als Sechsjähriger kam, auf seine Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt hat, berichtete Marco 28 Jahre später, als sich Teresa Nentwig im März 2017 mit ihm trifft. Fritz H. hatte ihn geschlagen, mit der Faust oder mit dem Kleiderbügel, und den Jungen anal vergewaltigt, bis er blutete. „Er hat mir seine Narben gezeigt“, erzählt Teresa Nentwig, „und Fotos von dem behinderten Jungen, der gestorben ist“. Gemeinsam mit Marco (der eigentlich anders heißt) waren zwei weitere Jungen bei ihrem „Pflegevater“ untergebracht gewesen: der gleichaltrige Sven und der schwerbehinderte Sascha, der nicht sprechen und sich kaum bewegen konnte. Er litt außerdem an einer Atemwegserkrankung und starb schließlich an einer Lungenentzündung, weil Fritz H. ihn nicht behandeln ließ.

Doch das Berliner Jugendamt stellte die „Eignung“ von Fritz H. als Pflegevater nie in Frage, auch nicht, als ein Arzt bei Marco nach anderthalb Jahren eine „erhebliche psychosoziale Belastung des Kindes“ feststellte, „die auch eine wohl sehr ausgeprägte Kindesmisshandlung mitbehinhaltet“. Doch der renommierte Professor Kentler war stets zur Stelle, um etwaige Zweifel an Fritz H. zu entkräften: Kentler empfahl den ehemaligen Schweißer in seinen Gutachten immer wieder wärmstens als „pädagogisches Naturtalent“ und „Glücksfall für das Pflegekind“.

Über 20 Jahre lang hatte Marco geschwiegen. Doch nachdem er sich Teresa Nentwig anvertraut hatte, ging er an die Öffentlichkeit. Er erzählte, gemeinsam mit Sven, seine Geschichte in den Medien. Beide verklagten das Land Berlin, das das Ungeheuerliche zugelassen hatte.

Auch Teresa Nentwig ließ das Ganze nicht mehr los. Schon 2013 hatte die damalige Mitarbeiterin des „Göttinger Instituts für Demokratieforschung“ unter Leitung von Prof. Franz Walter die Rolle der Grünen bei der Propagierung der Legalisierung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen sowie deren Verstrickung in pädosexuelle Netzwerke untersucht. „Dabei stießen wir auf Helmut Kentler als Schlüsselfigur“, erklärt Nentwig. „Und wir stellten überrascht fest: Da gibt es ja gar nichts.“

Fast nichts. Nur EMMA hatte schon 1993 und in der Folge immer wieder über das pädosexuelle Netzwerk der „Falschen Kinderfreunde“ berichtet, zu dessen Kern Kentler gehörte, und dabei auch dessen „Experiment“ erwähnt. Doch die Enthüllungen blieben folgenlos.

Nach der Göttinger Studie über die Grünen von 2013 allerdings geriet die Berliner Senatsverwaltung unter Druck und gab bei Prof. Walter und seinen MitarbeiterInnen ebenfalls eine Studie in Auftrag, die die Hintergründe des „Experiments“ erhellen sollte. Sie erschien 2016, es folgte eine weitere von einem Forschungsteam der Universität Hildesheim. Fazit: Das Kentler-Experiment war „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“. Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) drückte es noch schärfer aus: „Es war ein Verbrechen, Menschen in diese Obhut zu geben.“

Und noch etwas fanden die ForscherInnen heraus: Zwar war Helmut Kentler die „Schlüsselfigur“ des Projekts, aber um ihn herum existierte ein ganzes Netzwerk „quer durch die wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen“, in dem „pädophile Positionen akzeptiert, gestützt und verteidigt wurden“. Dieses Netzwerk reichte vom „Max-Planck-Institut für Bildungsforschung“ bis zur Odenwaldschule. Deren Leiter, der 2010 verstorbene Gerold Becker, wurde von einem Mitarbeiter der Senatsverwaltung mit „schwer erziehbaren“ Jungen beliefert. Becker, Lebensgefährte des berühmten Reformpädagogen Hartmut von Hentig, schützte wiederum ein „Netzwerk aus Bildungsbürgertum und Adel“ (FAZ), die ihre Kinder auf die renommierte Reformschule schickten, darunter zum Beispiel Bundespräsident Richard von Weizsäcker.

Die Kreise der mit Jungen „Belieferten“ waren aber offenbar viel größer. „Die bisherigen Hinweise verdichten sich, dass es sich bei diesen Pflegestellen um alleinlebende, mitunter mächtige Männer aus Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und anderen pädagogischen Kontexten gehandelt hat, die pädophile Positionen auch gelebt haben“, stellte die Hildesheimer Studie fest.

Teresa Nentwig wollte es nun noch genauer wissen: Wer war Helmut Kentler, dieser Mann, der trotz seines offensiven Eintretens für die Legalisierung pädosexueller Handlungen von Medien und Politik hofiert wurde? Welche Netzwerke förderten ihn und wie konnte es sein, dass er trotz seiner Propagierung der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern „innerhalb der Wissenschaft nicht isoliert war?“ Wie kam es, dass Weggefährten wie der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch 1990, noch über zwanzig Jahre nach Start des „Experiments“, von einem „pädagogischen Wärmestrom“ sprach, der Kentlers Schriften durchziehe?

Und schließlich: War Kentler tatsächlich nur ein „Schreibtischtäter“, wie lange behauptet wurde? Oder tat er auch selbst Jungen sexuelle Gewalt an? Um die letzte Frage gleich vorweg zu beantworten: Ja.

Stolze 744 Seiten hat Nentwigs „wissenschaftliche Biografie“ mit dem Titel „Im Fahrwasser der Emanzipation? Die Wege und Irrwege des Helmut Kentler“. Und sie enthält, neben den minutiös nachgezeichneten Lebensstationen des 1928 geborenen und 2008 verstorbenen Propagandisten der Pädokriminalität, immer wieder Informationen, die einem und einer den Atem stocken lassen – selbst für diejenigen, die sich bereits mit den beiden Studien aus Göttingen und Hildesheim befasst haben. Das gilt für Kentlers Schriften und Taten, aber auch für jene Mittäter, die ihn gewähren ließen oder sein Wirken förderten oder fortsetzten.

So überrascht die Chuzpe, mit der Kentler, Sohn eines Berufsoffiziers und überzeugten Nazis, ab Mitte der 60er Jahre auf der Welle der „sexuellen Revolution“ ritt und die „Befreiung der kindlichen Sexualität“ ganz direkt mit der Befreiung vom Nationalsozialismus verknüpfte. „Wir wissen, dass Kinder, die ohne sexuelle Reize aufgewachsen sind, schwer krank werden, dass sie sogar schwachsinnig werden können, wenn nicht sogar sterben müssen“, schrieb Kentler. „Wir wissen das aus Untersuchungen über wilde Kinder, aber auch und vor allem aus Untersuchungen über Kinder, die im KZ aufgewachsen sind, beispielsweise über eine Kindergruppe in Theresienstadt.“ Er habe aber im Rahmen seines „Experiments“ die Erfahrung gemacht, dass ein „sexuelles Nachlernen“ durchaus möglich sei.

Solche Töne durfte Professor Kentler 1981 bei einer Anhörung der FDP im Deutschen Bundestag zur Streichung des Missbrauchsparagrafen § 176 erklären, zu der er als „Experte“ geladen war. Noch ein Jahrzehnt später spielte die Deutsche Aidshilfe (DAH) mit dem Gedanken, Kentlers Experiment fortzuführen. 1993 regte die Aidshilfe ein „zentrales Stricherprojekt im Ruhrgebiet“ an, bei dem obdachlose Stricher an Freier vermittelt und bei ihnen untergebracht werden sollten.

Auslöser für diesen Vorschlag war, dass die Regierung nach der Wiedervereinigung die § 175 (für die BRD) und § 149 (für die DDR) streichen und durch eine allgemeine Strafandrohung für sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und unter 16-Jährigen ersetzen wollte. Der Duisburger Streetworker und DAH-Vorstandsmitglied Reinhard Heikamp kritisierte diese Absicht und berief sich dabei auf Kentler und sein Experiment. Kentlers „Studie“ zeige, dass „Stricher sogar ohne Probleme bei ihren Freiern erwachsen werden könnten“.

Die minderjährigen Jungen erlebten, erklärte Sozialarbeiter Heikamp 1993 in der Frankfurter Rundschau, „auf der Flucht vor zerrütteten Familienverhältnissen und dem Heim durch die ihnen Obdach gewährenden Freier eine Identitätssteigerung, wenn der Junge sich darauf einlassen kann“. Denn: „Die meisten Freier zeigen ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Sie respektieren die Bedürfnisse des Jungen nach Nähe und Zärtlichkeit.“

Es war dasselbe Jahr, in dem EMMA erstmalig über die „Falschen Kinderfreunde“ breit berichtete. Und es war auch das Jahr, in dem Helmut Kentler als Supervisor für Düsseldorfer Streetworker tätig war und in seinem Jahresrückblick 1993/1994, den er alljährlich an „Freundinnen und Freunde“ schrieb, von dem zwölfjährigen Strichjungen Sebastian berichtete. Der sei mit einem Streetworker für mehrere Tage bei ihm gewesen. Es gab weitere Besuche. „Wenn wir uns treffen“, schrieb Kentler, „ist er mir gegenüber sehr fürsorglich.“

„Es drängen sich zwangsläufig Fragen auf“, schreibt Forscherin Nentwig. „Was machte ein Streetworker mit einem 12-jährigen Jungen bei Helmut Kentler in Hannover? Und was ist darunter zu verstehen, wenn ein bedürftiger 12- bis 14-jähriger Junge ‚sehr fürsorglich‘ zu einem erwachsenen Mann ist?“

Es stellen sich noch sehr viel mehr Fragen. Zum Beispiel diese: Wie konnte es sein, dass das Hannoveraner Jugendamt ausgerechnet Helmut Kentler gleich mehrere Jungen als Pflegesöhne vermittelte? Mit ihnen lebte er in einer „Wohngemeinschaft“, drei der Jungen adoptierte er. Kentlers offensives Eintreten für die Legalisierung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen war schließlich bekannt. Und das keineswegs „nur“ als Wissenschaftler, sondern auch als Aktivist.

Nentwig: „Sein Engagement blieb nicht auf seine akademische Tätigkeit beschränkt. Sie weitete sich durch die Mitarbeit in Organisationen, die der Pädosexuellenbewegung zuzurechnen sind, in die politische Sphäre aus.“ So war Kentler Mitglied im Kuratorium der „Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“, in der auch verurteilte Missbrauchstäter organisiert waren, oder in der „Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität“, in deren Publikationen Personen wie Frits Bernard zu Wort kamen, der Gründer der „Pädophilenbewegung“ der Niederlande.

Als Gerichtsgutachter in Missbrauchsprozessen brüstete sich Kentler damit, dass „alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellungen der Verfahren oder sogar Freisprüchen für die Eltern beendet worden sind“.

Dass Kentler sexuelle Kontakte zu seinen Pflegesöhnen unterhielt, allesamt straffällig gewordene Jugendliche, ist nach den Recherchen von Forscherin Nentwig heute unbestritten. Der „Pflegevater“ selbst gab dies in privaten Korrespondenzen zu, und eine seiner Kolleginnen an der Universität berichtete, dass sich zwei seiner Pflegesöhne wegen sexueller Übergriffe an sie gewandt hätten. Kentler selbst erklärte unbekümmert, dass er in den 16-jährigen S., den er als 13-Jährigen kennengelernt hatte, „ziemlich verknallt“ gewesen sei. Über M., den Kentler adoptierte hatte, schrieb er im Jahr 1985 an seinen Freund, den renommierten Sexualforscher Gunter Schmidt: „Ich bin so dankbar, dass ich kein alternder resignierter Homo sein muss, sondern dass ich in einer mich doch sehr erfüllenden Liebesgeschichte drinstehe, die seit 13 Jahren läuft und immer noch frisch ist, weil sie sich immer noch verändert. Das ist mein Geheimnis.“ M. war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt.

Es war also keineswegs ein Geheimnis, dass die „Liebesgeschichte“ folglich begonnen hatte, als der Pflegesohn 13 Jahre alt war. M. nahm sich im März 1991 das Leben.

An seiner Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Hannover blieb Professor Kentler offenbar dennoch die unangefochtene Lichtgestalt der Pädagogik. Sicher, es wurde gemunkelt, aber ins Gerede kam nicht der so offenkundig pädosexuelle Professor, sondern kamen diejenigen, die sich Fragen über Kentlers Treiben stellten. Als Kentler 1996 in den Ruhestand ging, lobte sein Mitarbeiter Martin Kipp in seiner Laudatio die „Zivilcourage“ seines Vorgesetzten: „Als Pflegevater von männlichen Jugendlichen, mit denen er eine Wohngemeinschaft unterhielt und die ihn im Seminar besuchten und abholten, hat er sich dem Gerede ausgesetzt, das die Phantasie derer besonders beflügelt, die sich als die sexuell zu kurz gekommenen wähnen.“

Auch nach Kentlers Tod im Jahr 2008 herrschte Schweigen im Walde. Kentlers Kollege Hans-Jürgen Meyer sprach in seiner Trauerrede vom „Helfersyndrom“ des Verstorbenen: „Er konnte nicht akzeptieren, dass es auch Menschen gibt, denen man nicht helfen kann; er konnte einen Menschen nicht als verloren aufgeben, denn in jedem sah er eine besondere Begabung, die er zu wecken versuchte.“ Die Zeitschrift für Sexualforschung erwähnte in ihrem Nachruf Kentlers Propagierung der Pädokriminalität in Wort und Tat mit keinem Wort.

Erst als 2010 zunächst der katholischen Kirche ihr Missbrauchs-Skandal um die Ohren flog und im Anschluss auch die linke Odenwaldschule und dessen ebenfalls als Reformpädagoge gefeierter Schulleiter Gerold Becker als Ort des systematischen Missbrauchs von Kindern, vor allem Jungen, aufflog, entstand ein Klima, in dem endlich auch Helmut Kentler und seine Mittäter zum Thema werden konnten. Denn das war noch ungeheuerlicher als die dunklen reaktionären Verhältnisse: der systematische Missbrauch von Kindern im Lichte der Aufklärung, im Namen des Fortschritts.

Nun war das Entsetzen groß. Aber: Alle hätten es wissen können.

Die unermüdliche Nachforscherin Teresa Nentwig: „Dass mehrere Jahre nach Kentlers Tod eine Problematisierung seiner Person und seiner Schriften einsetzen konnte, ist auf die Aufdeckung zahlreicher Missbrauchsfälle in Schulen und Kirchen und die daraufhin einsetzende Veränderung des Wahrnehmungskontextes zurückzuführen.“ Und sie fährt fort: „Zuvor war es praktisch allein die Zeitschrift EMMA gewesen, die kritisch über den hannoverschen Professor berichtet hatte.“

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