In der aktuellen EMMA

Christian B.: Im Namen des Volkes?

Der wegen Vergewaltigung und Kindesmissbrauch angeklagte Christian B. wurde von der Richterin Ute Inse-Engemann freigesprochen. - Foto: dpa
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Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Diese Worte, gesprochen am 8. Oktober 2024 von Ute Inse-Engemann, Vorsitzende Richterin am Landgericht Braunschweig, lösten Unruhe im Zuschauerraum aus. Einige verließen den Saal. 

Es folgte die Urteilsbegründung, die die Richterin über eine Stunde lang vortrug. Sie begann mit der Erklärung, dass sie sich nicht „den Erwartungen der Medien und der Stammtische beugen“ wolle. Angesichts der Berichterstattung habe eine Vorverurteilung des Beschuldigten schon sehr nahegelegen. Doch: sie, die Richterin, habe sich dennoch für einen Freispruch entschieden.

Um was ging es in diesem Prozess? Christian B. ist auch der Hauptverdächtige im Fall „Maddie“ und hat seit frühester Jugend eine lange Liste von Vorstrafen u. a. wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch angesammelt. Doch in diesem Verfahren ging es (noch) nicht um Maddie McCann, das damals vierjährige Mädchen, das 2007 aus einer portugiesischen Ferienanlage verschwand, sondern um fünf andere Anklagepunkte: In zwei Fällen wird Christian B. vorgeworfen, Frauen vergewaltigt und misshandelt zu haben. Diese Taten habe er, so die Staatsanwaltschaft, selbst auf Video aufgezeichnet. Helge B. und Manfred S., zwei ehemalige Kumpel von Christian B., hätten die Videos in seiner Wohnung in Portugal gefunden, als B. im Gefängnis saß. Sie waren im Jahr 2006 dort eingestiegen und hatten zwei Videokameras gestohlen, auf denen sie die Vergewaltigung und Folterung einer älteren Frau und eines jungen Mädchens gesehen haben wollen. Die Videos sind zwar verschwunden, jedoch sagten die beiden Zeugen aus, dass sie Christian B. auf den Videos als Täter erkannt hätten. 

Die Richterin hob den Haftbefehl auf, als noch nicht alle Zeuginnen ausgesagt hatten

Punkt 3: Hier ging es ebenfalls um schwere Vergewaltigung und Folter an einer Studentin im Jahr 2004. Die Irin Hazel Behan hatte, so erklärte sie, Christian B. auf einem Zeitungsfoto wiedererkannt als den Vergewaltiger, der sie über vier Stunden in Portugal in ihrem Ferienapartment nicht nur mehrfach vergewaltigt, sondern auch gefoltert hatte.

Punkt 4: Die sexuelle Belästigung eines deutschen Mädchens in Portugal. Joana E., die im Jahr 2007 zehn Jahre alt war, erklärte, sie habe Christian B. ebenfalls als den Mann wiedererkannt, der ihr am Strand von Salema im Urlaub aufgelauert, sie festgehalten und sich vor ihr befriedigt hatte. 

Laut dem fünften und letzten Anklagepunkt soll Christian B. vor einer Gruppe von kleinen Mädchen, elf und zwölf Jahre alt, auf einem Spielplatz in Messines in Portugal masturbiert haben. Christian B. wurde von den aufgebrachten Eltern angezeigt. Eine Polizistin hatte ihn daraufhin festgenommen und festgestellt, dass gegen ihn ein internationaler Haftbefehl und ein Auslieferungsersuchen der deutschen Behörden vorlagen.

Der Gerichtspsychologe verortet Christian B. in der "Topliga der Gefährlichkeit"

Christian B. war da bereits vielfach vorbestraft, unter anderem wegen des sexuellen Missbrauchs der fünfjährigen Tochter seiner früheren Freundin in Braunschweig und wegen der Vergewal­tigung einer 72-jährigen amerikanischen Pensionärin in Praia da Luz, Portugal, die er zudem gefoltert und bestohlen hatte. Diese letzte Haftstrafe von sieben Jahren sitzt er derzeit noch ab.

Doch zurück zur Urteilsverkündung und dem Vorwurf der Richterin an die Medien. „Wenn in den Medien eine Person als Sexmonster und Kindermörder stilisiert wird, dann liegt es für die Zeugen nah, dass die Person es in diesem Fall gewesen sein muss“, hatte die Richterin erklärt.

Doch: Die Medien sollten, ja müssen berichten – auch, um die Bevölkerung zu warnen vor einem Mann, den der Gerichts­psychologe in der „Topliga der Gefährlichkeit“ verortet hatte. Und: Welche der ZeugInnen sollten eigentlich durch die Berichterstattung der Medien beeinflusst worden sein? Die meisten hatten ihre ersten Aussagen bereits vor der Medienaufmerksamkeit für Christian B. gemacht. Die Richterin kann mit der „Beeinflussung“ also eigentlich nur sich selbst und ihre Kammer gemeint haben. 

Nach 37 Gerichtstagen, den geradezu demütigenden Befragungsmethoden der Richterin und nach ihrer Aufhebung der Haftbefehle gegen Christian B. hatte in der Tat niemand mehr erwartet, dass Richterin Engemann den verurteilten Vergewaltiger und Kindesmissbraucher in ihrem Prozess verurteilen würde. Denn schon mit der Aufhebung der Haftbefehle gegen Christian B. bereits im Juli 2024 – nachdem gerade mal die Hälfte der Zeugen überhaupt angehört worden war – hatte sie signalisiert, dass sie ihn nicht für dringend tatverdächtig hielt. Was, gelinde gesagt, überraschend war. Die Staatsanwaltschaft hatte nach der Aufhebung des Haftbefehls einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht gestellt. Er wurde abgelehnt.

Die Staatsanwaltschaft stellte einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin

Obwohl die Zeugen zu den fünf Anklagepunkten vor dem Landgericht Braunschweig zum Teil sehr detailliert und glaubwürdig berichteten, kam Richterin Engemann zu der Auffassung, dass sie entweder nicht die Wahrheit sagten, sich nicht präzise genug erinnerten oder sich ohnehin nicht wirklich erinnern könnten. So nahm die Richterin zum Beispiel an, die Mädchen hätten das Urinieren von Christian B. mit einer Masturbation verwechselt. 

Dabei ließ sie vollkommen unbeachtet, dass weitere Zeugen jeweils die Aussagen der Hauptzeugen unterstützten.

So hatte im Fall der Vergewaltigungs-Videos eine ehemalige Freundin von Christian B., Marina F., eine Reisekauffrau aus Dresden, einen von ihm handgeschriebenen Zettel vorgelegt, auf dem Christian B. sie eindringlich bat, die Videokameras und die dazugehörigen Videobänder möglichst schnell aus seinem Haus in Portugal herauszuholen, da er ansonsten befürchte, „dass die Polizei sie finden könnte – und dann würde er noch sehr lange im Gefängnis sitzen müssen“. 

Warum erwähnte die Richterin die Narbe am Oberschenkel von Christian B. nicht?

Diesen Zettel, versehen mit weiteren Anweisungen an die damalige Geliebte Marina F., habe Christian B. aus dem Gefängnis in Portimao an sie geschickt. Dort hatte er im Jahr 2006 für acht Monate in Haft gesessen, da er mit einem Komplizen zusammen Diesel gestohlen hatte. Die Aussage von Marina F. wurde auch durch die weitere Aussage eines ehemaligen Kumpels von Christian B. untermauert, den er während seiner Haft ebenfalls um Hilfe gebeten haben soll. Christian P. sagte aus, mehrere Kartons mit DVDs aus dem Haus herausgeholt zu haben, die von B. als Datenträger „perverser Sexpraktiken“ handbeschriftet gewesen sein sollen.

Diesen beiden Zeugen schenkte Richterin Engemann keinerlei Beachtung. Die beiden Hauptzeugen hingegen hielt sie für nicht glaubwürdig, weil ihre Aussagen sich leicht voneinander unterschieden. So hatte der eine Zeuge ausgesagt, dass die geschlagene und vergewaltigte Frau in dem einen Video zirka 60 Jahre alt gewesen sei, während der andere Zeuge sie auf etwa 70 Jahre geschätzt hatte. Einer der Zeugen hatte früher ausgesagt, Christian B. habe die Frau zuerst aus­gepeitscht und dann vergewaltigt, jetzt hatte er den Tathergang anders­herum berichtet.

Als die vergewaltigte und stundenlang gefolterte Irin Hazel Behan aussagte und erklärte, dass sie Christian B. insbesondere an zwei Merkmalen wiedererkannt habe, ließ die Richterin das nicht gelten. Hazel Behan hatte ausgesagt, dass sie Christian B. zum einen an seinen markanten stahlblauen Augen wiedererkannt hätte, denn nur die konnte sie sehen, da Christian B. während der Tat eine Maske trug. Außerdem hatte sie eine Narbe, ein Tattoo oder etwas ähnliches am rechten Oberschenkel des Täters wahrgenommen. 

Die Narbe am Oberschenkel wird in einer Akte des LKA Maggeburg ausdrücklich erwähnt.

Eine Narbe am rechten Oberschenkel habe Christian B. nicht, beschied die Richterin. Dabei lagen ihr die Ermittlungsakten des LKA Magdeburg aus dem Jahr 2016 vor. In diesen Akten wird ausdrücklich eine Narbe am rechten Oberschenkel von Christian B. erwähnt. Außerdem befanden sich darin auch Fotos von Christian B., die vor 2017 aufgenommen worden waren. Auf diesen Fotos ist eine signifikante Narbe am rechten Oberschenkel zu sehen, die in der Akte der Polizei als relevantes Körpermerkmal beschrieben wird. Hatte Christian B. die Narbe zwischenzeitlich weglasern lassen? 

Übrigens hatte Christian B. schon im Jahr 2016 vor Richterin Engemann gestanden. Damals wurde ihm der sexuelle Missbrauch der fünfjährigen Tochter seiner damaligen Freundin vor­geworfen. Die Richterin erklärte damals, sie habe zunächst geprüft, ob nicht eine Bewährungsstrafe in Frage käme. Da Christian B. aber ein Wiederholungstäter sei, komme nur eine Gefängnisstrafe in Frage. Sie verurteilte ihn zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis – knapp über der Mindeststrafe.  

Am Ende dieses Verfahrens also: Freispruch. Es dürfte nach diesen 37 Verhandlungstagen kaum noch jemanden verwundert haben, dass die Richterin ganze Passagen des Schlussplä­doyers des Verteidigers vom Vortag wörtlich in ihre Urteilsbegründung übernommen hatte. Die Staatsanwaltschaft, die 15 Jahre Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung gefordert hatte, war fassungslos. 

Die Richterin übernahm ganze Passagen aus dem Schlussplädoyer des Verteidigers.

Der forensische Psychiater Christian Riedemann, der ein Gutachten über Christian B. erstellt hatte, hatte noch vor der Urteilsverkündung gewarnt. Christian B. habe ein vielfach höheres Rückfallrisiko als jeder andere ihm bekannte Täter.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat inzwischen gegen das Urteil Revision eingelegt und angekündigt, bis zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe gehen zu wollen. Die Frage ist nun, ob der Fall schnell genug beim BGH landet. Falls nicht, ist Christian B. im September 2025 ein freier Mann.  

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